Proust interessierte sich kaum für die Mode, zumindest was sein Privatleben betrifft. Dennoch übernimmt sie in seiner Recherche eine wichtige Funktion. Sie dient nicht, beziehungsweise nur sehr wenig, einer detaillegetreuen Darstellung der Epoche. Proust nutzt die Mode vielmehr, um durch sie die sonst tief im Inneren einer Persönlichkeit
versteckten Charakteristiken sichtbar zu machen. Das heißt, Proust beschreibt nicht die Mode an sich, sondern er zeichnet durch die Modebeschreibungen ein raffiniertes und durchdringendes Bild der Persönlichkeit seiner Figuren.
Ziel dieser Arbeit ist die Analyse der Verknüpfung von Persönlichkeitsbildern und vestimentärer Inszenierung in der Recherche.
Es soll dargestellt werden, wie er die literarische Fiktion nutzt, um dem Leser eine detaillierte Vorstellung vom Aussehen der Figuren zu vermitteln und viel wichtiger den Charakter und die Wesensart der dargestellten Figuren zu offenbaren.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Kleider, Trachten, Mode - Begriffsabgrenzung und Funktionalitäten
2.1 Begriffsabgrenzung
2.2 Funktion und Wirkung der Mode
2.2.1 Mode als Differenzierungsmedium
2.2.2 Mode als Mittel zur Koketterie
2.2.3 Mode als Mediateur der Persönlichkeit und Psyche
3 Kostümhistorische Betrachtung der Recherche
3.1 Historische Einordnung der Recherche
3.2 Historischer Abriss des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts unter kritischer Betrachtung der Lebensart der mondänen Gesellschaft
3.3 Die Entwicklung der Mode im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ...
3.3.1 Externe Einflussfaktoren der modischen Entwicklung
3.3.2 Die Damenmode von 1870 bis 1919
3.3.3 Die Herrenmode von 1870 bis 1919
4 Marcel Proust, sein Verhältnis zur Mode und die Umsetzung in der Recherche
4.1 Marcel Proust - mondäner Dandy, Modejournalist oder Künstler?
4.2 Die Mode in der Recherche
4.2.1 Die Mode und die Figuren der Recherche
4.2.2 Die Mode und die Räume der Recherche
4.2.2.1 Der soziale Raum
4.2.2.2 Der geografische Raum
4.2.3 Die Mode und die Zeit der Recherche
4.2.4 Die Mode und die schönen Künste
5 Die Funktion der Modedarstellung in der Recherche am Beispiel ausgewählter Figuren ...
5.1 Odette
5.1.1 Herkunft und sozialer Status Odettes
5.1.2 Odettes vestimentäre Inszenierung
5.1.2.1 La dame en rose
5.1.2.2 Odette, Swann und Botticelli - Der Aufstieg einer Kokotte
5.1.2.3 Ein Kreislauf schließt sich - von der dame en blanc zurück zur dame en rose
5.2 Charlus
5.2.1 Herkunft und sozialer Status
5.2.2 Charlus’ vestimentäre Inszenierung
5.3 Albertines
5.3.1 Herkunft und sozialer Status Albertines
5.3.2 Albertines vestimentäre Inszenierung
5.3.2.1 Von Balbec nach Paris - von der jeune cycliste zur dame élégante
5.3.2.2 Sexuelle Performanz - modisch inszeniert
5.3.2.3 Die Farbsymbolik in Albertines Mode
5.3.2.4 Albertine, Fortuny und die Sehnsucht nach Venedig
6 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Titelbild der Modezeitschrift „La Mode illustrée“, 1886. Online unter www.minidolls.com/Books/LaMode_Leniston.gif
Abbildung 2: La Mode nationale, Plakat von Guguo, um 1900. Online unter http://www.la-belle- epoque.com/index.html
Abbildung 3 :„Le Chalet du cycle au Bois de Boulogne" von Jean Béraud, 1900, ausgestellt im Musée Carnavalet, Paris. Online unter www.topofart.com/artists/Jean_beraud/art_reproduction/4000/The_Cycle_Stop_in_th e_Bois_de_Boulogne
Abbildung 4: Von militärischen Uniformen inspirierte Damenmode, um 1919. Quelle: Brachet- Champsaur, F. : « De l’odalisque de Poiret à la femme nouvelle de Chanel : Une victoire de la femme ? », in Morin-Rotureau, E., 1914 - 1918 : combats de femmes. Les femmes, pilier de l ’ effort de guerre, Paris, 2004, S. 209
Abbildung 5: Die Tournüre, um 1880, ausgestellt im Musée de la Mode et du Costume, Paris. Quelle: Ruppert, J. / Delpierre, M. / Davray-Piékolek, R. / Gorguet-Ballesteros, P. : Le Costume Fran ç ais. Guide Historique, Paris, 1996, S. 275
Abbildung 6: 30 Skizze der Damen- und Herrenmode, um 1875. Online unter http://home.arcor.de/moonlight-shadowcastle/fashion/grunderzeit
Abbildung 7: 30 Kapotthütchen, um 1880, ausgestellt im Musée de la Mode et du Costume, Paris. Quelle: Ruppert, J. / Delpierre, M. / Davray-Piékolek, R. / Gorguet-Ballesteros, P. : Le Costume Fran ç ais. Guide Historique, Paris, 1996, S. 279
Abbildung 8: .31 Skizze des Reformkleides, um 1890. Online unter http://home.arcor.de/moonlight- shadowcastle/fashion/grunderzeit
Abbildung 9: .31 Skizze eines Kleides mit auffallenden Keulenärmeln, 1896. Online unter www.mauritia.de
Abbildung 10: Skizze der S-förmigen Kleidersilhouette, um 1900. Online unter www.mauritia.de/de/belle/belle2.html
Abbildung 11:Costumes de Vélocipédistes, 1895, erschienen in den Grands Magasins du Louvre, ausgestellt im Musée de la Mode et du Costume, Paris. Quelle: Ruppert, J. / Delpierre, M. / Davray-Piékolek, R. / Gorguet-Ballesteros, P. : Le Costume Fran ç ais. Guide Historique, Paris, 1996, S. 294
Abbildung 12: Skizze eines „costume tailleur“, 1902. Online unter www.mauritia.de/de/belle/kostuem_suit1902.html
Abbildung 13: Foto von Mannequins in Poiret-Roben, um 1909. Online unter http://www.lexpress.fr/mag/tentations/dossier/mode/dossier.asp?ida=437155
Abbildung 14:Foto einer Frau, die eine Fortuny-Robe im Stile eines Tea-Gowns trägt, um 1910. Online unter http://en.wikipedia.org/wiki/Mariano_Fortuny_(designer)
Abbildung 15: Robe Tonneau, 1917, erschienen in L’art et la mode. Quelle: Ruppert, J. / Delpierre, M. / Davray-Piékolek, R. / Gorguet-Ballesteros, P. : Le Costume Fran ç ais. Guide Historique, Paris, 1996, S. 312
Abbildung 16: Ausschnitt aus der Modezeitschrift „La mode pratique“, 1914. Online unter www.http://rbmn09.waika9.com/Almanach_173_1914.jpg
Abbildung 17: Straßengarderobe der Herren, 1911, erschienen in L’illustration. Quelle: Ruppert, J. / Delpierre, M. / Davray-Piékolek, R. / Gorguet-Ballesteros, P. : Le Costume Fran ç ais. Guide Historique, Paris, 1996, S. 304
Abbildung 18: Abendgarderobe der Herren, 1898, erschienen in L’illustration. Quelle: Ruppert, J. / Delpierre, M. / Davray-Piékolek, R. / Gorguet-Ballesteros, P. : Le Costume Fran ç ais. Guide Historique, Paris, 1996, S. 301
Abbildung 19: Foto von Marcel Proust, aufgenommen von Paul Nadar, 1891. Online unter www.marcelproust.it/gallery/proust/proust_20anni.htm
Abbildung 20: Foto von Laure Hayman, aufgenommen um 1890. Online unter www.marcelproust.it/gallery/hayman.htm
Abbildung 21: Foto der Schauspielerin Réjane, aufgenommen von Paul Nadar, um 1890. Online unter www.marcelproust.it/gallery/rejane_3.htm
Abbildung 22: Skizze eines aufwendig verzierten Damenkleides, um 1970. Online unter www.mauritia.de/de/belle/belle2.html
Abbildung 23: Ausschnitt aus einer Deckenfreske der Sixtinischen Kapelle im Vatikan, von Sandro Botticelli, um 1481. Online unter http://fr.wikipedia.org/wiki/Odette
Abbildung 24:Ausschnitt aus „Primavera“, von Sandro Botticelli, um 1478, ausgestellt in der Galleria degli Uffizi in Florenz. Online unter www.johnmitchell.org/primavera.htm
Abbildung 25:„Madonna del Magnificat” von Sandro Botticelli, um 1480, ausgestellt in der Galleria degli Uffizi in Florenz. Online unter www.marcelproust.it/proust/botticelli_2.htm
Abbildung 26 :Foto einer Catleyablüte, die zur Familie der Orchideen gehört. Online unter www.flowers.org.uk/flowers/facts/a-d/cattleya.htm
Abbildung 27: Postkartenansicht der Pariser Börse, 1914. Online unter http://perso.orange.fr/philippe.weibel/paris2.htm
Abbildung 28: Portrait du comte Robert de Montesquiou, gemalt von Robert de Boldini, 1897, ausgestellt im Musée d’Orsay, Paris. Online unter http://www.mauritia.de/de/belle/dandy1897.html
Abbildung 29: Foto von Alfred Agostinelli, Chauffeur und späterer Sekretär Proust, aufgenommen um 1913. Online unter www.marcelproust.it/gallery/agostin.htm#
Abbildung 30: Ausschnitt der Adaption der Recherche als Bande Dessinée. Quelle: Heuet, S. / Brézet, S.: À la Recherche du Temps perdu. À l ’ ombre des jeunes filles en fleurs. Volume II, nach Marcel Proust, Tournai, 2002, S. 35
Abbildung 31: Foto der Comtesse Greffuhle, aufgenommen von Paul Nadar, um 1890. Online unter http://reynaldo-hahn.net/images/photosnoblesse/photospages/image17.htm
Abbildung 32:Fortuny-Mantel, um 1915, ausgestellt im Museo Fortuny in Venedig. Online unter http://www.kah-bonn.de/ausstellungen/venezia/bild_20djellaba.htm
Abbildung 33: Ausschnitt aus dem Gemäldezyklus „Le storie di Sant'Orsola“ von Vittore Carpaccio, um 1490, ausgestellt in der Galleria dell’Accademia in Venedig. Online unter www.marcelproust.it/proust/carpac.htm
Der letzte Zugriff auf alle Onlinequellen erfolgte im Februar 2007.
1 Einleitung
Mode als Thema einer Diplomarbeit in französischer Literatur scheint auf den ersten Blick paradox. Aber zwei Aspekte begründen diese überlegte Entscheidung: Zum einen ist die Mode ein komplexes Zeichensystem, das es verdient erforscht zu werden. Das zeigen nicht nur Beispiele aus der Literatur sondern auch Abhandlungen aus anderen Disziplinen, zum Beispiel die strukturalistischen Arbeiten Barthes’, die psychologische Betrachtung Arandas, die kostümhistorische Darstellung Bouchers oder die sozialökonomische Herangehensweise an die Mode durch den Philosophen Simmel. Zum anderen nimmt die Modebeschreibung in der Literatur weit mehr als nur einen deskriptiven Charakter ein. Sie enthüllt auf elegante Weise Grundzüge von Figuren, Ereignissen und Epochen, so zum Beispiel in Prousts À la Recherche du Temps perdu 1.
Durch die Teilnahme an mehreren Seminaren von Frau Professor Felten mit Marcel Proust und seinem literarischen Hauptwerk À la Recherche du Temps perdu nach und nach vertraut geworden, sehe ich es als persönliche Herausforderung, die schier unbegrenzte Vielschichtigkeit der Recherche auf ihre Modedarstellungen hin zu untersuchen. Neben der Komplexität der Recherche führt auch die komplexe Verflechtung von Historie, Literatur und Linguistik, Soziologie, Textilkunde und Stilistik in der modischen Darstellung zu einer multiperspektivischen Herangehensweise, die sich als beeindruckender und interessanter Hintergrund für diese Diplomarbeit erweist.
Proust interessierte sich kaum für die Mode, zumindest was sein Privatleben betrifft.2 Dennoch übernimmt sie in seiner Recherche eine wichtige Funktion. Sie dient nicht, beziehungsweise nur sehr wenig, einer detaillegetreuen Darstellung der Epoche. Proust nutzt die Mode vielmehr, um durch sie die sonst tief im Inneren einer Persönlichkeit versteckten Charakteristiken sichtbar zu machen. Das heißt, Proust beschreibt nicht die Mode an sich, sondern er zeichnet durch die Modebeschreibungen ein raffiniertes und durchdringendes Bild der Persönlichkeit seiner Figuren. Ziel dieser Arbeit ist die Analyse der Verknüpfung von Persönlichkeitsbildern und vestimentärer Inszenierung in der Recherche. Es soll dargestellt werden, wie er die literarische Fiktion nutzt, um dem Leser eine detaillierte Vorstellung vom Aussehen der Figuren zu vermitteln und viel wichtiger den Charakter und die Wesensart der dargestellten Figuren zu offenbaren.
Um Mode im Allgemeinen und die Mode in der Recherche im Besonderen zu verstehen, muss sie unbedingt im Kontext betrachtet werden. Daher ist es unerlässlich, diese Arbeit mit einer allgemeinen Begriffsabgrenzung zu beginnen. Außerdem werden verschiedene Funktionen der Mode dargestellt. In Kapitel 3 wird die Mode auf ihre historische Entwicklung hin untersucht. Das heißt, nachdem die erzählte Zeit der Recherche in die Entwicklungen der realen Zeit eingeordnet wurde, wird die entsprechende Epoche unter gesellschaftspolitischen Aspekten skizziert. In Kapitel 3.3 werden die Damen- und Herrenmode dieser Zeit und ihre Entwicklung unter dem Einfluss externer Faktoren vorgestellt. Im darauf folgenden Kapitel wird das Verhältnis des Schriftstellers zur Mode und deren Darstellung in der Recherche untersucht. Denn auch wenn die Recherche nicht gänzlich als positivistisch zu betrachten ist, so lassen sich bestimmte Parallelen zwischen Prousts Leben und den in der Recherche beschriebenen Geschehnissen nicht verleugnen. Fokussiert wird dabei die Verknüpfung der Mode mit den Figuren, den Räumen und der Zeit der Recherche. Um die theoretischen Untersuchungen werkimmanent zu belegen, werden in Kapitel 5 drei Figuren der Recherche, Odette, Charlus und Albertine, bezogen auf ihre vestimentäre Inszenierung und die Symbolik ihrer Mode, einer differenzierten Analyse unterzogen. Alle drei sind handlungstragende und sehr vielschichtige Figuren der Recherche, die sich sowohl sozial als auch modisch über die erzählte Zeit hinweg entwickeln. Damit wird exemplarisch nachgewiesen, dass in der proustschen Modedarstellung auch kleine, nebensächlich erscheinende Accessoires bewusst eingesetzt sind und dass die Recherche auch als ein zu dechiffrierender vestimentärer Code gelesen werden kann.
Sowohl die allgemeinen Ausführungen zur Mode als auch die werkbezogene Analyse werden von verschiedenen Fotos begleitet, um dem Leser eine genaue Vorstellung der Inhalte zu erleichtern.
Um nicht, wie Proust es des Öfteren war, dem Vorwurf des Snobismus ausgesetzt zu sein, soll noch darauf hingewiesen werden, warum sich sämtliche Ausführungen dieser Diplomarbeit auf die Lebensweise und die Mode der Oberschicht beschränken. Nur die Noblesse und die aufstrebende Bourgeoisie waren zu Prousts Lebenszeit finanziell und gesellschaftlich in der Lage, Mode zu leben. Im Gegensatz zum gemeinen Volk, welches höchstens nach modischer Imitation strebte, waren die Oberschicht und einige wenige Damen, die auf ihr modisches Auftreten achten mussten, weil ihr äußeres Erscheinungsbild im öffentlichen Interesse stand, die Modeführer. So wie sich Prousts Recherche im mondänen Milieu abspielt, so beziehen sich demnach auch sämtliche Ausführungen zur Mode in dieser Arbeit auf die Oberschicht.
2 Kleider, Trachten, Mode - Begriffsabgrenzung und Funktionalitäten
2.1 Begriffsabgrenzung
Wenn die Begriffe Kleidung, Tracht und Mode von einander abgegrenzt werden sollen, muss weit in die Geschichte zurückgegangen werden, bis zum Beginn der Menschheit, denn auch dort findet sich der Anfang der Geschichte der Bekleidung. Boucher unterscheidet in seiner Histoire du Costume en Occident de l ’ Antiquit é à nos jours zunächst zwischen dem Habillement und dem Costume: « Si l ’ on admet que l ’ Habillement correspondait au fait de se couvrir le corps, et que le Costume au choix d ’ un v ê tement de telle forme et pour tel usage, peut-on en d é duire que l ’ Habillement r é sulterait surtout de conditions mat é rielles - climat, sant é , d ’ une part, et de production textile, d ’ autre part - tandis que le Costume correspondait à des conditions mentales telles que croyances religieuse, magie, esth é tique, situation sociale, diff é renciation des races, go û t de l ’ imitation ? Faudrait-il aussi envisager un processus d ’ apparition, qui classerait le Costume avant l ’ habillement ou l ’ Habillement avant le costume ? » 3 Eine Antwort auf die Frage, was zuerst da war, Habillement oder Costume, findet Boucher ebenso wenig wie die Ethnologen, die sich mit der Historie der Bekleidung befasst haben. Dies ist in dem hier verfolgten Zusammenhang auch nicht so wichtig. Von größerer Bedeutung ist vielmehr, nachzuvollziehen, dass die Bekleidung von Menschheitsbeginn an ein Teil des Lebens war, und dass sie ebenfalls von frühster Zeit an weit mehr war, als nur eine Körperbedeckung mit Schutzfunktion. Hier soll auch die begriffliche Unterscheidung gezogen werden: während l ’ Habillement, also die Kleidung wirklich nur dem Schutzbedürfnis des Menschen nachkommt, nimmt le Costume, die Tracht, weit mehr Funktionen an, die in Kapitel 2.2 näher erklärt werden.
Simmel unterscheidet zwischen Kleidung und Mode und begründet dies wie folgt: „ W ä hrend im allgemeinen z.B. unsere Kleidung unseren Bed ü rfnissen sachlich angepa ß t ist, waltet keine Spur von Zweckm äß igkeit in den Entscheidungen, durch die die Mode sie formt: ob weite oder enge Röcke, spitze oder breite Frisuren, bunte oder schwarze Krawatten getragen werden. So h ä ssliche und widrige Dinge sind manchmal modern, als wollte die Mode ihre Macht gerade dadurch zeigen, da ß wir ihretwegen das Abscheulichste auf uns nehmen; gerade die Zuf ä lligkeit, mit der sie einmal das Zweckm äß ige, ein andermal das
Abstruse, ein drittes Mal das sachlich und ä sthetisch ganz Indifferente anbefiehlt, zeigt ihre völlige Gleichg ü ltigkeit gegen die sachlichen Normen des Lebens. “ 4
Die Kleidung wird also wiederum als etwas Zweckmäßiges, etwas, das unseren grundlegenden Bedürfnissen nachkommt, definiert. Die bedeutungsunterscheidenden Grenzen zwischen Tracht und Mode verlaufen weniger scharf. Die Mode übernimmt die differenzierende Funktion der Tracht, wird aber auch von dem starken Drang zur Nachahmung begleitet. Im Gegensatz zur Tracht, die recht beständig ihr Äußeres wahrt, verändert sich die Mode zunehmend schneller und im Wechsel von einer zur anderen Erscheinungsform ist keine Zweckmäßigkeit erkennbar.
Weiterhin erklärt Simmel, dass die Mode eine gesellschaftliche Spielform ist, die nur der Oberklasse zukommt. Nur sie hat, wie in der Recherche bestätigt wird, genügend Zeit und Geld und verfügt über die notwendige l ’ oisivet é, um sich der Mode zu widmen. Da der Mensch im Allgemeinen immer nach Höherem strebt, streben auch die unteren Klassen nach dem Lebensstil der oberen und versuchen sich in dessen Nachahmung. Haben sich die unteren Klassen die Mode der Oberschicht angeeignet, ist diese schon nicht mehr Mode, denn just in diesem Augenblick verliert sie ihre grundlegende Funktion, die der Differenzierung.5 Dieser Kreislauf führt dazu, dass sich die Mode stets weiterentwickelt. Im Zeitalter der Automatisierung der Produktion und des schnellen Informationsaustauschs rotiert dieser Kreislauf mit zunehmender Geschwindigkeit.
Des Weiteren sendet die Bekleidung wie ein Wort oder eine Geste, bewusst oder unbewusst, Zeichen. Deshalb kann die Mode auch „ als komplexes und je nach sozialem Stand des anderen differenzierendes Zeichensystem angesehen werden, als eine Sprache, die zu verstehen scharfe Beobachtung und Intelligenz erforderlich sind. “ 6 Wenn Proust also die muet langage des robes 7 sprechen lässt, dann deshalb, um einen bestimmten Code zu übermitteln. Und wie Marcel, für den das Dechiffrieren der Codes und Zeichen der mondänen Gesellschaft zur Lebensaufgabe wird, kann sich auch der Leser der Recherche in Beobachtung und Interpretation üben, um die stumme Sprache der Kleider zu entschlüsseln.
2.2 Funktion und Wirkung der Mode
Im Zusammenhang mit der Recherche und dieser Arbeit liegt weder die Kleidung als solche noch die in Jahrhunderten gewachsene Beständigkeit von Trachten im Fokus des
Interesses. Von zentraler Bedeutung und damit Untersuchungsgegenstand sind vielmehr die Mode, ihre Veränderung und vor allem ihre unterschiedlichen Funktionen in der literarischen Fiktion, die sie aufgrund ihres komplexen Zeichensystems wahrnehmen kann. Um die verschiedenen Funktionen der Mode aufzuzeigen, soll ein Zitat von Boucher dienen. Dabei ist es nicht von Belangen, dass er von le costume und nicht von la mode spricht, da die Mode, wie bereits erklärt, die Funktionen der Tracht übernimmt und sich nur in der Rasanz ihres Wechsels von der Tracht unterscheidet.
« Il est en tout cas certain que, le Costume a d û r é pondre à d ’ autres fonctions que la simple utilit é , en particulier par la signification d ’ un r ô le magique : l ’ê tre humain primitif a voulu ainsi se pourvoir d ’ attributs le rev ê tant d ’ une puissance emprunt é e à d ’ autres ê tres. [ … ] Le Costume satisfaisait é galement à un d é sir de repr é sentation. [ … ] Le Costume r é pond encore à un d é sir d ’ inspirer la crainte ou l ’ autorit é . [ … ] Avec le temps, le Costume [ … ] a marqu é à la fois le besoin de se distinguer des autres et la volont é de manifester une autorit é personnelle. [ … ] C ’ est parce qu ’ il correspondait à une certaine puissance que le Costume a é galement servi à exprimer une certaine richesse. [ … ] Contrairement à une opinion assez r é pandue, le Costume n ’ a probablement repr é sent é que tardivement, pour les primitifs, l ’ expression d ’ un d é sir de plaire. [ … ] Enfin, le Costume poss è de une signification religieuse dans laquelle interviennent des é l é ments divers. [ … ] » 8
Boucher verdeutlicht, dass le costume viele verschiedene Funktionen übernehmen kann. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass diese ihre Wirkung nur in einem bestimmten Kontext entfalten können. Das heißt, wird ein vestimentäres Ausstellungsstück im Museum betrachtet, so ist es nichts als Kleidung. Nur in Verbindung mit dem Wissen über die Zeit, den Raum, die gegebene Situation und die Trägerin oder den Träger, kann ein Kleidungsstück Macht ausdrücken, politische Zugehörigkeit offenbaren, modern sein oder etwas über den Seelenzustand der Trägerin oder des Trägers verraten. Dieser Sachverhalt lässt sich an der Recherche verdeutlichen. Allein das Wissen über das Vorkommen von gereinigten Handschuhen9 und schwarzen Schuhen zum roten Kleid10 lässt keinerlei zusätzliche Aussage zu. Die einzige Information, die sich ohne den Kontext offenbart, ist die über das Kleidungsstück selbst. Um die weitreichende Funktion dieser und anderer proustschen Modedarstellung zu erkennen, stellt das Wissen über den Kontext eine notwendige Bedingung dar.
Wenn im Folgenden die verschiedenen Funktionen der Mode differenziert dargestellt werden, so muss darauf hingewiesen werden, dass die verwendete Unterteilung nur aus analytischen Gründen genutzt wird. Sowohl in der Realität als auch in der literarischen Fiktion vermischen sich die unterschiedlichen Funktionen der Mode und entfalten bisweilen simultan ihre Wirkung, denn die muet langage des robes besitzt eine zuhöchst ambivalente Ausdrucksstärke.
2.2.1 Mode als Differenzierungsmedium
Die Mode übernimmt, wie oben dargestellt, vielfältige Funktionen. Unabhängig davon, ob das aus religiösen Gründen oder als Zeichen von Macht, Reichtum und so weiter geschieht, lassen sich die Funktionen unter einer Kategorie zusammenfassen: sich mit einer Gruppe Menschen zu vereinigen und sich damit gleichzeitig von einer anderen abzuheben. Ob ein Herrscher, ein s ans-culotte, ein Punk oder eine Nonne, sie alle betonen durch ihre vestimentäre Inszenierung die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und heben sich damit gleichzeitig von einer anderen ab.
Simmel erklärt diese Funktion der Mode unter soziologischer Perspektive: „ Sie [die Mode, d. Verf.] ist Nachahmung eines gegebenen Musters und gen ü gt damit dem Bed ü rfnis nach sozialer Anlehnung [ … ]. Nicht weniger aber befriedigt sie das Unterschiedsbed ü rfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sich-Abheben. Und dies letztere gelingt ihr einerseits durch den Wechsel der Inhalte, [ … ] es gelingt ihr noch energischer dadurch, da ß Moden immer Klassenmoden sind, da ß die Moden der höheren Schicht sich von der der tieferen unterscheiden und in dem Augenblick verlassen werden, in dem diese letztere sie sich anzueignen beginnt. [ … ] So bedeutet die Mode einerseits den Anschluss an die Gleichgestellten, die Einheit eines durch sie charakterisierten Kreises, und eben damit den Abschluss dieser Gruppe gegen die tiefer Stehenden, die Charakterisierung dieser als nicht zu jener gehörig. Verbinden und unterscheiden sind die beiden Grundfunktionen, die sich hier untrennbar vereinigen, von denen eines, obgleich oder weil es den logischen Gegensatz zu dem anderen bildet, die Bedingung seiner Verwirklichung ist. “ 11
Simmel beschreibt, wie die Mode auf einzigartige Weise diese Doppelfunktion erfüllt. Und da die Mode immer präsent ist, gehört sie ohne Frage zu einem der wirkungsvollsten Statussymbole. Früher, das heißt bis zum 18. Jahrhundert, war diese Differenzierung über die Mode sogar gesetzlich festgehalten. Ein Edikt verbot es den nicht-adligen Damen, Stoffe wie Velours und Satin zu tragen. Im Jahr 1793 wurden diese Kleiderordnungen zwar auf dem Papier aufgehoben, die finanzielle Realität setzte aber weiterhin auch modisch klare Grenzen zwischen dem Adel und dem gemeinen Volk.12 Des Weiteren ist der Einsatz der Mode als Differenzierungsmedium zwischen verschiedenen Klassen vor allem dann gefragt, wenn sich die Klassen nicht anderweitig unterscheiden. Während der Klassenunterschied zwischen Adel und Volk schon allein durch die Geburt geklärt ist und in der Mode nur noch Bestätigung findet, manifestiert sich der Unterschied zwischen Bourgeoisie und gemeinem Volk allein im Besitz, welcher durch die modische Ausstattung offen zur Schau getragen wird. Proust ist sich der differenzierenden Wirkung der Mode wohl bewusst und bedient sich in der Recherche der Modebeschreibung auch, um die Zugehörigkeiten seiner Figuren zu bestimmten sozialen Gruppen zu verdeutlichen. In der Recherche geht diese Differenzierung aber auch innerhalb einer Klasse vonstatten. Alle handlungstragenden Figuren der Recherche gehören der Oberschicht an, sei es dem Adel oder dem wohlhabenden Bürgertum. Da beide Gruppen über Kapital verfügen und Mode käuflich ist, funktioniert der Differenzierungsmechanismus nicht mehr nur über die Mode, sondern über den Stil, der bekanntlich nicht käuflich ist.
2.2.2 Mode als Mittel zur Koketterie
Auch wenn Boucher darauf hinweist, dass « se vetir n ’ a constitu é que peu à peu un moyen de s é duire en faisant valoir des avantages physiques r é els ou artificiels » 13, so ist diese Funktion der Mode in der Neuzeit doch nicht zu unterschätzen. Während es im Tierreich die Männchen sind, die durch auffälligen Putz die Weibchen zu beeindrucken suchen, so gestaltet sich dieses Vorgehen bei den Menschen zumeist umgekehrt. Hafermann erklärt das so: „ Die Frau ist der Teil der Geschlechter, der vom Mann umworben wird. Sie ist der passive Teil, sie mu ß warten, bis der Mann sich ihr n ä hert. Darum schm ü ckt sie sich f ü r den Mann, um ihn auf ihre Reize aufmerksam zu machen und ihm zu gefallen. “ 14 Hafermann führt weiterhin aus, dass sie dieses Schmuckbedürfnis der Frau für den grundsätzlichen Entstehungsgrund der Mode hält. Das lässt sich mit den Ausführungen Simmels widerlegen, der nachweist, dass sich in Gesellschaften, zum Bespiel denen der Buschmänner, wo keine Klassen bestehen, auch keine Mode ausgebildet hat.15 Das heißt, das Schmuckbedürfnis der Frau allein reicht noch nicht, um die Entstehung und den immer währenden Kreislauf der modischen Entwicklung zu erklären. Dennoch ist Hafermanns Argumentation zur Frau als passiven Wesen schlüssig. Auch Simmel erklärt, dass die Frau als das schwache Geschlecht sich einerseits der Mode anpassen musste, „ aus der Schw ä che der sozialen
Position n ä mlich, zu der die Frauen den weit ü berwiegenden Teil der Geschichte hindurch verurteilt waren, ergibt sich ihre enge Beziehung zu allem, was ‚ Sitte ’ ist, zu dem, ‚ was sich ziemt ’ , zu der allgemein g ü ltigen und gebilligten Daseinsform. “ 16 Andererseits sind es gerade diese Treue und Beständigkeit der Frau in Fragen des sozialen Lebens, die durch modische Extravaganz versucht werden zu kompensieren. Welche andere Möglichkeit soll sich eine Frau, die sich gesellschaftlich unterordnet und anpasst, sonst zu Nutze machen, um sich hervorzuheben? Dieses Hervorheben ist eine Gratwanderung, denn ein Übermaß wäre schlechter Geschmack und Stillosigkeit, zuwenig würde nicht wahrgenommen werden oder könnte als fehlendes modisches Interesse und damit Interesse zu gefallen, gewertet werden. Daher entfaltet sich dieses Hervorheben, die Koketterie vor allem in den oberen Gesellschaftsschichten durch kleine Details. Persönliche Vorzüge werden unterstrichen, weniger angenehme Äußerlichkeiten gekonnt versteckt. Simulatio und dissumulatio können modisch gelebt werden, denn Mode ist auch Maskerade, vor allem im klar definierten Rollenspiel der Geschlechter. Diejenige Person, die Mode trägt, kann durch sie in eine andere Rolle schlüpfen, um sich selbst und seinem Gegenüber besser zu gefallen. Dabei erlaubt es die Mode auch, die Rolle des anderen Geschlechtes zu übernehmen. Die Koketterie einerseits, die versucht, die Maskerade aufrecht zu erhalten und der Trieb, das Geheimnis hinter der Maskerade zu lüften, andererseits, treiben somit das modische Spiel an. In der Recherche beherrschen vor allem Charlus und Albertine dieses modische Rollenspiel, erlauben aber sowohl ihren Partnern als auch den Lesern selten einen Blick hinter die Maskerade.
2.2.3 Mode als Mediateur der Persönlichkeit und Psyche
Da die Behandlung modischer Fragen durch Boucher aus Sicht eines Ethnologen und durch Simmel aus Sicht eines Soziologen erfolgt, ist es nicht verwunderlich, dass die psychologische Funktion der Mode als Spiegel der Seele keine Erwähnung findet. Da diese Funktion der Mode aber in der proustschen Écriture eine starke Wirkung entfaltet, ist es wichtig, sich ihre Wirkungsweise bewusst zu machen. „ Noch vor deren Entdeckung durch Sigmund Freud verwendet Proust - unbewusst? - den psychoanalytischen Code der Kleidersprache. Kleider werden zu Stimmungstr ä gern. “ 17 An den proustschen Modedarstellungen können soziale Aspekte abgelesen werden. Aber in den meisten Fällen gibt sich Proust damit nicht zufrieden. Für ihn dient die vestimentäre Inszenierung zur eindringlichen Darstellung der menschlichen Psyche seiner Figuren. Barthes beschreibt die Reichhaltigkeit der „ psychologischen Wesensz ü ge: ke ß , l ä ssig, pfiffig, am ü sant, besonnen, ausgeglichen, vertr ä glich, frech, exquisit, kokett, solide, naiv usw.: die Frau in der Mode ist eine Ansammlung einzelner Charaktermerkmale, die ziemlich analog den ‚ Rollenf ä chern ’ des klassischen Theaters unterschieden werden. “ 18 All diese Charakterzüge können durch Mode, bewusst oder unbewusst ausgedrückt und übermittelt werden. „ Die Anh ä ufung oftmals gegens ä tzlicher psychologischer Detailmerkmale ist f ü r die Mode nur eine Weise, die menschliche Person so zu modellieren, da ß sie ein doppeltes Postulat erf ü llt: n ä mlich Individualit ä t und Vielheit zugleich zu verkörpern, je nachdem, ob man die Ansammlung von Charakterz ü gen als Synthese betrachtet oder dem Individuum die Freiheit zugesteht, sich hinter der einen oder anderen dieser Einheiten zu verbergen. “ 19 In der Recherche lässt sich vor allem an der Figur Albertines verfolgen, dass ihre modische Entwicklung mit ihrer psychischen Verfassung einhergeht. Sie wird zum Modell par excellence, dass « chaque robe est ‘ la projection d ’ un aspect particulier ’ de l ’â me de celle qui la porte. » 20 Dabei spielt Albertine mit dieser paradoxen Doppelfunktion. Sie nutzt die Mode zum einen als Hülle des Körpers und damit auch der Seele, die es vermag, etwas zu verstecken. Andererseits bedient sie sich ihrer modischen Inszenierung als Projektionsfläche und offenbart damit ihre Persönlichkeit und ihren Seelenzustand. Eine signifikante Beispielszene für dieses Vorgehen ist ihr Auftritt im grauen Kostüm, mit dem sie an Balzacs Diane de Cadignan erinnert. Auch Buxbaum, der sich mit den Kreationen Fortunys beschäftigt hat, weiß vom expressiven Gehalt der modischen Zeichen: „ Gewebe dr ü cken intime und ephemere Sehns ü chte des Menschen aus, sie besitzen eine eigene Sprache - ihr Vokabular kann sinnlich, streng oder auch sensibel sein. “ 21 Das Gewebe und die Mode nutzen sowohl verbale (zum Beispiel ein aufgedruckter Markenname), als auch nonverbale (zum Beispiel Qualität und Schnitt eines Kleides) Symbole, um als Mediateur der Persönlichkeit und Psyche zu fungieren. « Le costume est un signe ou un symbole : en ce sens on devrait le consid é rer comme un autre langage. » 22 Um diese muet langage des robes zu verstehen, werden also entweder die psychoanalytischen Kenntnisse Freuds benötigt, oder eine genaue Beobachtung, das Wissen um den Kontext und der Mut zur Interpretation. Bemerkenswert ist, dass dieselben Figuren, die verstärkt modische Zeichen aussenden, auch diejenigen sind, die es verstehen den Code der Mode zu dechiffrieren, wie Charlus eindrucksvoll demonstriert.
3 Kostümhistorische Betrachtung der Recherche
3.1 Historische Einordnung der Recherche
Obwohl in der Recherche nur wenige konkrete Zeitangaben vorkommen, kann die erzählte Zeit recht genau datiert werden. Hilfreich sind dabei die von Proust beschriebenen soziokulturellen Umstände, die die Geschehnisse der Recherche begleiten. Dazu gehört neben politischen Vorkommnissen, Wagnerkult oder Japonismus auch die Darstellung modischer Zeitzeugnisse.
Willy Hachez hat den Handlungsbogen des sieben Teile umfassenden Romanzyklus zeitlich rekonstruiert. So beginnen die Ereignisse des ersten Teils, Du c ô t é de chez Swann, der 1913 veröffentlich wurde, im Jahr 1879. Noch vor der Geburt des Erzählers 1880, lernt Swann Odette kennen. Deren gemeinsame Liebesgeschichte bestimmt die ersten Jahre der Recherche. An Odette, die sich in dieser Zeit von der Kokotte zur ehrbaren Ehefrau entwickelt, zeichnet Proust auch die modische Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts nach. Im 1919 erschienenen zweiten Teil der Recherche À l ’ ombre des jeunes filles en fleurs werden die Geschehnisse des Jahres 1897 geschildert. Der siebzehnjährige Erzähler verbringt seine Ferien mit seiner Großmutter in Balbec und lernt dort die Mädchen der petite bande kennen. 1920 erscheint der dritte Teil der Recherche. In Le c ô t é de Guermantes spielt die Einführung des Erzählers Marcel in die mondäne Welt des Faubourg Saint-Germain um 1897 und 1898 die Hauptrolle. Das modische Interesse Marcels kreist zumeist um die Duchesse de Guermantes. In Sodome et Gomorrhe (1921 / 1922 erschienen), La Prisonni è re (1923 erschienen) und Albertine disparue (1926 veröffentlicht) werden Ereignisse der Jahre 1899 bis 1901 thematisiert. An Albertine, die bis zu ihrem Tod 1901, als eine der wichtigsten weiblichen Handlungsträgerinnen auftritt, schildert Proust die Mode dieser Jahre. Im letzten, 1927 erschienenen, Band der Recherche, Le Temps retrouv é, rekapituliert Marcel die verlorene Zeit, bis er sie schließlich in Mademoiselle de Saint-Loup wieder findet. Im letzten Jahr der erzählten Zeit, 1919, beschließt Marcel die Recherche zu schreiben.23
Der Zeitraum, den die Recherche umfasst, kann in drei große Zeitabschnitte unterteilt werden. Der erste Teil beginnt 1879 mit der Generation zu der Marcels Eltern, Odette und Swann sowie die de Guermantes gehören. Die nächste Generation, Marcel, Gilberte, Albertine und andere, tritt ab 1899 auf. Die dritte Generation erscheint wiederum zwanzig Jahre später in Form der sechszehnjährigen Enkelin von Odette, Mademoiselle de Saint- Loup.
Proust, der 1871 geboren wurde und 1922 gestorben ist, verarbeitet in der Recherche die Zeit von 1879 bis 1919, eine Epoche, die er selbst miterlebt hat. Und obwohl die Jahreszahlen klare Worte sprechen, ist die Zuordnung der proustschen Écriture zu einer bestimmten Epoche oder Kunstrichtung, die mit Namen benannt werden soll, nicht einfach. Keller fragt sich in seiner mit dem schon vorausahnenden Namen Marcel Proust zwischen Belle É poque und Moderne betitelten Veröffentlichung, wie die Recherche am besten eingeordnet werden kann: „ Nostalgischer R ü ckblick auf die Belle É poque oder - mit Apollinaire, Cendrars, Sonia Delaunay, Strawinsky - Aufbruch zur Moderne? “ 24 Auf den letzten Seiten gibt er selbst die Antwort: „ Die Frage nach der Zuordnung Prousts zur Belle É poque oder zur Moderne, zum Fin de si è cle oder zum Aufbruch in das zwanzigste Jahrhundert, zu Impressionismus oder Kubismus, diese Frage ist falsch gestellt; denn in ‚À la recherche du temps perdu ’ kommen all diese Kunstrichtungen und Modeströmungen des ausgehenden neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts zur Darstellung, sei es in der Person realer und auch imagin ä re K ü nstler, sei es in Romanfiguren, die die jeweilige Strömung verkörpern. [ … ] Mehr noch: in ‚À la recherche du temps perdu ’ kommen die dargestellten Kunstrichtungen und Modeströmungen auch in der Darstellung selbst zum Ausdruck. Auch Prousts Stil l ä sst sich nicht auf eine bestimmte Kunstrichtung reduzieren. “ 25 Diese Darstellungsweise Kellers findet in der Recherche natürlich ihre Begründung. Der Leser kann im Roman eine Entwicklung hin zur Moderne verfolgen. Dies geschieht beispielsweise anhand des veränderten Kunstgeschmacks der Madame Verdurin, in den statt der eleganten Mylords aufkommenden Automobilen oder auch modisch in der Wandlung von Kleidern mit Tournüre hin zu Fortuny-Roben. Dennoch nimmt die Belle Époque mit ihren Orten, ihren Idealen, ihrem Lebensstil und ihrer Mode eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Recherche ein.
Ein wichtiger, wenn nicht gar der wichtigste, Handlungsort der Recherche ist Paris. « Nul autre lieu que Paris ne pouvait donner à Proust l ’ exp é rience, fondamentale pour lui, des intermittences et des transformations de go û t dans la vie mondaine et artistique. » 26 Das führt dazu, dass, auch wenn es handlungstragende Szenen in Balbec, Venedig oder an anderen Orten gibt, das wahrhaft mondäne Leben insbesondere auf den Straßen, in den Parks, in der Oper oder in den privaten Salons Paris’ stattfindet. Der sich auf den nächsten Seiten anschließende historische Abriss sowie die theoretischen Ausführungen zur modischen Entwicklung der von Proust beschriebenen Ära beziehen sich daher vorwiegend auf Paris und seine Menschen.
3.2 Historischer Abriss des ausgehenden 19. und des beginnenden 20.
Jahrhunderts unter kritischer Betrachtung der Lebensart der mondänen Gesellschaft Das 19. Jahrhundert war in Frankreich, wie in den meisten anderen europäischen Ländern, eine unruhige Zeit. Es war eine Zeit der Kriege, Umstürze, Revolutionen, eine Zeit die für die Gesellschaft und für den einzelnen Menschen althergebrachte, beständige Aspekte des Lebens in Frage stellte und neue entstehen ließ. So ist es nicht verwunderlich, dass die Zeit zwischen dem deutsch-französischen und dem ersten Weltkrieg, in der sich das politische Leben beruhigte, das wirtschaftliche Leben florierte und das gesellschaftliche Leben in neuem Glanz erblühte27, zumindest von der Oberschicht als eine schöne Epoche empfunden wurde. Nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und dem damit verbundenen Zusammenbruch des zweiten Kaiserreiches in Frankreich, etablierte sich dort die dritte Republik, die sich auf eine parlamentarisch-republikanische Verfassung stützte. Trotz der nominell beseitigten Vorherrschaft des Adels, besaß dieser, neben dem Großbürgertum, nach wie vor wichtigen Einfluss auf das politische und wirtschaftliche Leben Frankreichs. Die wirtschaftliche Dominanz des Adels und der Bourgeoisie äußerte sich, wie Proust in der Recherche demonstriert, auch modisch. Die republikanische Regierung, die sich mit der monarchistischen Mehrheit in politischen Kreisen arrangieren musste, verzichtete während der Jahre zwischen den zwei Kriegen auf tief greifende gesellschaftliche Reformen. Die einzige, wirklich die gesamte Bevölkerung erschütternde, innenpolitische Krise dieser Jahre war die Dreyfus-Affäre. Die Anklage und Verurteilung des jüdischen Hauptmanns wegen angeblicher Spionage für Deutschland, spaltete die Nation von 1894 bis 1899 in zwei Lager. Während Militär, politische Rechte und die katholische Kirche die Verurteilung befürworteten, erhob sich Émile Zola mit seiner leidenschaftlichen Veröffentlichung J ’ accuse zum Sprecher der Liberalen und Intellektuellen, die in diesem Skandal die Willkür und den Antisemitismus der Konservativen bestätigt sahen und gegen die Verurteilung Dreyfus’ protestierten. Auch Proust und seine Bekannten konnten sich dieser Affäre nicht entziehen und mussten ihre Zugehörigkeit zur einen oder anderen Gruppe gestehen. Die Brisanz dieses Skandals thematisiert Proust auch in der Recherche und während der konservative Adel des Faubourg Saint-Germain hauptsächlich zu den Dreyfus-Gegnern gehört, verlangt Madame Verdurin von den Besuchern ihres Zirkels an die Unschuld des Hauptmanns zu glauben. Die außenpolitische Lage Frankreichs gestaltete sich, abgesehen von weniger entscheidenden Krisen wie der Faschoda-Krise oder dem Panama-Skandal, aufgrund der erfolgreichen Kolonial- und Bündnispolitik günstig. Im Allgemeinen waren also gute Bedingungen gegeben, um das soziokulturelle Leben florieren zu lassen. Einfluss auf die Neuerungen in vielen Bereichen, auch dem der Mode, hatten die bis zur Jahrhundertwende fünfmal in Paris stattfindenden Weltausstellungen. Der Weltausstellung von 1889 verdankt Paris seinen Eifelturm und dem bis 1870 als Präfekt der Stadt tätigen Baron Haussmann seine prächtigen Boulevards und den Bois de Boulogne, ebenfalls Wahrzeichen des blühenden Paris während der Belle É poque und Handlungsorte der Recherche. Auf den breiten Boulevards fuhren ab den neunziger Jahren des 19. Jahrhundert auch immer mehr Automobile. Deren Aufkommen ist ebenso wie die Verbreitung des Sports unter den Frauen ein wichtiger Einflussfaktor für die Mode, denn diese musste sich zweckmäßig an den neuen Lebensinhalten orientieren. Beweis für die zunehmende Bedeutung des Sports sind auch die durch den Franzosen Baron de Coubertin forcierten und 1896 zum ersten Mal ausgetragenen Olympischen Spiele der Neuzeit, die ihre zweite Auflage vier Jahre später in Paris erfuhren. Neben dem Sport, der Wirtschaft und der Technik florierte auch die Kultur. „ Es ist die Zeit, da die aristokratischen Zirkel im Faubourg Saint-Germain und auf den Champs-Elys é es rauschende Feste und Bankette veranstalten [ … ], w ä hrend das kapitalkr ä ftige Gro ß b ü rgertum sich auf den Boulevards und bei Pferderennen entspannt und f ü r die gro ß en Schauspieler der Zeit [ … ] schw ä rmt. “ 28 Angetrieben durch den technischen Fortschritt und verkörpert durch die Brüder Lumière hielt das Kino zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einzug in Frankreich. Ende des 19. Jahrhunderts zog das Theater die wohlhabenden Bevölkerungsschichten in seinen Bann. Die Aufführungen in denen Sarah Bernhardt als Ph è dre oder La Dame aux Cam é lias glänzte, waren stark besucht und sie wurde als Star gefeiert. Ebenso interessierte sich die mondäne Welt am Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Opernaufführungen Bizets und später Debussys. Man las Flaubert und Zola und bewunderte den Impressionismus Pissarros und die Anfänge der modernen Kunst Cézannes in deren Ausstellungen.29 Diese und ähnliche Themen wurden in den mondänen Salons und den literarischen Zirkeln im Faubourg Saint-Germain diskutiert. Die obere Gesellschaft lebte hinter der Fassade des kulturellen Interesses und Intellekts den Snobismus und die Dekadenz, die Proust in seinem Leben, wie sein Pendant Marcel in der Recherche, nach und nach durchschaut. Proust beschreibt beispielsweise die, von den mondänen Genussmenschen gesetzten, bisweilen fragwürdigen Prioritäten. So wäre der Verlust eines vergnüglichen Abends bei weitem schmerzlicher als der Verlust eines Angehörigen: der Duc de Guermantes erkundigt sich über das Befinden seines Verwandten und erfährt, « on s ’ attend d ’ un moment à l ’ autre que
M. le marquis ne passe » Das jedoch ist für den Monsieur de Guermantes ein Grund zur Freude: « Ah! Il est vivant, s ’é crira le duc avec un soupire de soulagement ».30 Doch die Freude resultiert weniger aus der Nachricht, der Marquis lebe noch, was auch relativ zu betrachten ist, liegt er doch auf seinem Sterbebett, sondern vielmehr aus der Erleichterung doch noch einen vergnüglichen Abend verbringen zu können und nicht trauernd zu Hause bleiben zu müssen. Auch die schwarzen Schuhe, die Madame de Guermantes zum roten Kleid trägt, sind für das Ehepaar de Guermantes von höherer Priorität als die Ankündigung Swanns, bald sterben zu müssen. Der Erzähler offenbart die Gedankengänge der Duchesse:
« Plac é e pour la premi è re fois de sa vie entre deux devoirs aussi diff é rents que monter dans sa voiture pour aller d î ner en ville, et t é moigner de la pi é t é à un homme qui va mourir, elle ne voyait rien dans le code des convenances qui indiqu â t la jurisprudence à suivre et, ne sachant auquel donner la pr é f é rence, elle crut devoir faire semblant de ne pas croire que la seconde alternative e û t à se poser, de fa ç on À ob é ir à la premi è re qui demandait en ce moment moins d ’ efforts, et pensa que la meilleure mani è re de r é soudre le conflit é tait de le nier. » 31 Um den bevorstehenden heiteren Abend nicht zu riskieren, wehrt die Duchesse de Guermantes die schlimme Nachricht ihres Freundes mit der simplen Aussage « Vous voulez plaisanter »32 ab. Genau diese Jahre, gekennzeichnet durch die Vergnügungssucht des Adels, sind es, in die Proust die Geschehnisse seiner Recherche verlagert. Der Terminus Belle É poque für diese „ vergn ü gliche, lebendige und schnellebige Zeit “ 33 ist allerdings erst nachträglich und wohl unter dem Einfluss nostalgischer Verklärung entstanden. Luzius Keller gibt zu bedenken: „ Wenn wir mit dem Begriff Belle É poque eine gewisse Gesellschaftsschicht assoziieren, einen gewissen Lebensstil und vor allem ein k ü nstlerisches und literarisches Leben, das nicht am Rande der Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte stattfindet, [ … ] unterliegen wir vielleicht unsererseits etwas jenem Verkl ä rungssyndrom, das uns die Zeit um 1900 als eine schöne erscheinen l ä sst. “ 34 Dennoch, „ kann denn die Recherche - besonders im Umkreis der Swanns - als eine Art Topographie der Pariser Belle
É poque gelesen werden. “ 35 In der Recherche finden sich all jene Orte der Belle É poque wieder, Paris, der Bois de Boulogne, das Theater, die Salons, die Seebäder in der Normandie, et cetera., an denen sich die mondäne Gesellschaft aufzuhalten pflegte. Auch die Vorherrschaft der mondänen Gesellschaft in der Recherche kann als Indiz für eine Epochenschilderung gewertet werden. Ihr Lebensstil, der von Salons und Soireen bestimmt wird, bildet den Rahmen für Marcels Suche nach der verlorenen Zeit.
Wenn diese Zeitspanne weniger wertend bezeichnet werden soll, eignet sich der Ausdruck Fin de si è cle. Im Vergleich zum Begriff Belle É poque, der sich hauptsächlich auf das Leben in der französischen Hauptstadt bezieht und erst nachträglich eingeführt wurde, wurde der Begriff Fin de si è cle europaweit und zeitgenössisch benutzt.36
3.3 Die Entwicklung der Mode im ausgehenden 19. und beginnenden 20.
Jahrhundert
Nach der französischen Revolution profitierte die Bourgeoisie im 19. Jahrhundert von einer Machtverschiebung innerhalb der sozialen Schichten. Das aufstrebende Bürgertum gewann sowohl politisch als auch gesellschaftlich an Prestige und Macht. Das führte dazu, dass sich der Adel nicht mehr durch seinen materiellen Besitz und sein Renommée von der Bourgeoisie absetzen konnte und somit nach anderen geeigneten Maßnahmen suchen musste. Die Differenzierung durch die Kleidung und den Stil, der der Noblesse angeboren scheint, bot sich unweigerlich an.37 Obwohl die Kleidung im Zuge der Industrialisierung im Allgemeinen zweckmäßiger und weniger verschnörkelt wurde, traf das für die höheren Gesellschaftsschichten nur sehr eingeschränkt und mit etlichen Jahren Verzögerung zu. In den Kreisen der Noblesse und der Bourgeoisie galt immer noch, dass sich der Reichtum eines Mannes in der Ausstattung seiner Frau äußert, was sich wiederum an aufwendig gearbeiteten und kostspieligen Garderoben (Abb. 1) zeigte. Die sich im 19. Jahrhundert weit verbreitenden Modezeitschriften38 (Abb. 1, Abb. 2) und die ersten Modenschauen mit Mannequins gaben den Damen der Gesellschaft dabei stets neue Impulse, die vor allem deshalb nötig waren, da die modischen Neuerungen immer schneller voranschritten, und nur das als chic gelten konnte, was noch nicht durch die Konfektionsschneiderei für Jedermann imitiert wurde. Prousts Akteure lassen sich, wie es sich für die Pariser Oberschicht ihrer Zeit gehörte, in den Ateliers der großen Couturiers einkleiden. In der Recherche werden namentlich Madame Paquin, Madame Cheruit, die Schwestern Callot, Doucet39 und Redfern40 erwähnt. Der wichtigste unter den in der Recherche erwähnten Modeschöpfern ist jedoch der in Venedig ansässige Couturier Fortuny, dessen Kreationen eine entscheidende Symbolik in der proustschen Écriture erhalten. Die in Paris gefeierten Couturiers Worth und Poiret hingegen werden nicht in der Recherche erwähnt, und es kann nur gemutmaßt werden, welche ihrer Entwürfe als Inspiration für Prousts modische Darstellung dienen. Bekannt ist, dass sich zum Beispiel die Comtesse de Greffulhe, die als Vorbild für die stets elegante Duchesse de Guermantes diente, von Worth und die Schauspielerinnen Sarah Bernhardt und die Réjane von Poiret einkleiden ließen.41
3.3.1 Externe Einflussfaktoren der modischen Entwicklung
Für die modische Entwicklung können ganz konkrete, externe Einflussfaktoren ausgemacht werden. Die wichtigsten Aspekte, die im Folgenden kurz näher beschrieben werden sollen, sind das Reisen und zunehmende Internationalität, das Theater und andere Vergnügen außer Haus, der Sport und der Beginn des Krieges 1914.42
Durch das Aufkommen der Eisenbahn Mitte des 19. Jahrhunderts und die Erfindung des Autos, dass ab Beginn des 20. Jahrhunderts immer öfter statt der Kutsche auf den Straßen zu sehen war, wurde das Reisen erleichtert. Die wohlhabende Gesellschaft nutze diese komfortableren Transportmittel, um Urlaub in anderen Regionen und sogar anderen Ländern zu machen. So waren Ausflüge der Pariser Bourgeoisie und der Noblesse an die Côte d’Azur, die Atlantikküste oder nach Italien beliebt. In der Recherche ist das mondäne Seebad Balbec Ort des modischen Schaulaufens. Außerdem erfüllt sich der Erzähler den lang gehegten Wunsch einer Reise nach Venedig. Die Reiselust hatte zwei generelle Folgen für die Mode. Zum einen waren die Reisen trotz der neuen Transportmittel lang und beschwerlich und erforderten daher eine bequeme Kleidung. Reifröcke und Krinoline ließen sich ebenso wenig wie riesige Wagenradhüte mit Ausfahrten im Automobil vereinbaren. Dennoch durfte die Reisemode nicht zu leger sein, denn die mondänen Reiseziele ermöglichten ein Sehen und Gesehen werden, so dass die Reisenden auf geschmackvolle Kleidung achteten. Auch wurde in den schicken Hotels entsprechende Eleganz erwartet, wovon sich Marcel bei seiner Ankunft in Balbec überzeugen konnte.43 Das aus England eingeführte costume tailleur erfüllte die Anforderung nach der Kombination von Bequemlichkeit und Eleganz erfuhr somit einen modischen Aufschwung. Im Allgemeinen begünstigte die Reiselust also eine Simplifizierung der Damenmode. Den anderen Effekt, den das Reisen auf die Mode hatte, war die Beeinflussung und Vermischung verschiedener regionaler und internationaler modischer Besonderheiten. Dabei waren es nicht nur die Reisen der mondänen Gesellschaft, sondern vor allem die der Künstler und Modeschöpfer, die internationales Flair in die französische Mode brachten. Dieser Internationalismus wurde weiterhin durch den zunehmenden wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Austausch mit dem europäischen Ausland sowie mit Amerika und durch die Kolonialherrschaft Frankreichs in Afrika und im Orient gefördert. Modische Zeugen dieser Internationalisierung sind zum Beispiel die Verbreitung von Turbanen als Damenhüte oder die des Panamáhutes. Auch die in Paris stattfindenden Weltausstellungen hinterließen modische Spuren. „ Der gro ß e Erfolg der japanischen Pavillons an den Weltausstellungen 1867, 1878 und 1889 verhalfen japanischer Kunst und japanischen Kunstgewerbe zu gro ß er Verbreitung. “ 44 Der Einfluss des so genannten Japonismus auf Mode und Inneneinrichtung lässt sich in der Recherche an Odette verdeutlichen. So finden sich in ihrem Salon eine grande lanterne japonaise, gros chrysanth è mes, immenses palmiers contenus dans des cache-pot de Chine, des coussins de soie japonaise, des potiches chinoises und Odette tritt in ihrer robe de chambre de soie rose wie eine Geisha in mitten ihres Teehauses auf, um die Teezeremonie zu zelebrieren.45 Auch Albertine entzieht sich dem Japan-Kult nicht: Sie trägt einen Kimono.46
Einen ebenfalls nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Mode übten das Theater und andere öffentliche, mondäne Ereignisse aus. « Le th éâ tre exerce aussi sur la mode une influence tr è s sensible : entre de grandes artistes telles que Sarah Bernhardt, R é jane, la Duse ou Bartet, et des couturiers comme Worth, Doucet et Redfern, une collaboration é troite pr é cise l ’ harmonie que doit exister entre l ’ esprit du r ô le et les toilettes de son interpr è te, et m ê me avec le d é cor ; les r é p é titions g é n é rales, celles dites ‘ des couturiers ’ et les ‘ premi è res ’ sont pour le couturier un publicit é flatteuse autant qu ’ un grand succ è s pour l ’ auteur ; les robes de la vedette consacrent une mode. » 47 Am Theater hatten die Couturiers die Möglichkeit, ihrer Inspiration freien Lauf zu lassen und modisch gewagte Kreationen einem zahlungskräftigen Publikum vorzuführen. Weiterhin war es der Modebereitschaft und Modewirksamkeit der großen Schauspielerinnen der Zeit zu verdanken, dass die Mode von einer breiten Öffentlichkeit bewundert wurde. Der Besuch einer Theatervorstellung ersetzte so den einer Modenschau, die zu dieser Zeit ohnehin noch nicht üblich waren. Die über ein Theaterstück abgefasste Kritik schloss zumeist eine Kostümbeschreibung mit ein und die internationale Bekanntheit der Schauspielerinnen sorgte für einen zusätzlichen Werbeeffekt.48 Dass den Schauspielerinnen, zumindest modisch, Annerkennung beigemessen wurde, zeigt Madame de Guermantes in einer Szene der Recherche.49 Einen weiteren Effekt, den die öffentlichen Großereignisse wie das Theater, die Oper oder der Besuch von Pferderennen förderten, war wiederum das Sehen und Gesehen werden. Ein Besuch in der Oper oder im Theater erforderte einen ganz besonderen Putz, denn auch über die vestimentäre Inszenierung der Besucher einer Vorstellung wurde in den Gazetten berichtet. Weiterhin gab es Besucher, die gar nicht in die Oper oder ins Theater gingen, um die Vorstellung zu verfolgen, sondern vielmehr um die eleganten Roben der Damen in ihren Logen zu betrachten. So ergeht es auch dem Erzähler der Recherche, als er die Kusinen de Guermantes im Theater beobachtet: « Et quand je portais mes yeux sur cette baignoire, bien plus qu ’ au plafond du th éâ tre o ù é taient peintes de froides all é gories, c ’é tait comme si j ’ avais aper ç u, gr â ce au d é chirement miraculeux des nu é es coutumi è res, l ’ assembl é e des Dieux en train de contempler le spectacle des hommes, sous un velum rouge, dans une é claircie lumineuse, entre deux piliers du Ciel. » 50
Ein dritter, wichtiger Einflussfaktor auf die modische Entwicklung im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war die zunehmende Begeisterung für den Sport. Diese Freizeitaktivität fand auch verstärkt unter den Frauen Zuspruch. Wollten die Damen Tennis oder Golf spielen oder gar Fahrrad fahren, forderte dies eine zweckmäßige Kleidung. Diese war noch lange nicht mit der heutzutage gängigen, multifunktionellen Sportbekleidung zu vergleichen, hob sich aber dennoch schon erheblich von den Alltags- und Abendroben der Damen dazumal ab. Die Kleider wurden zwar immer noch mit Korsett getragen, waren aber nicht mehr bodenlang, sondern reichten „nur noch“ bis zum Knöchel und sie bestanden zumeist aus zwei Teilen, das heißt, aus Rock und Bluse. Zum Reiten oder Rad fahren trugen die Damen sogar schon Hosen, wie im zeitgenössischen Gemälde Jean Bérauds (Abb. 3) zu sehen ist.
Diese modische Neuerung erregte die Gemüter und mit der Frage « Madame, doit-elle porter la culotte? » 51 beschäftigten sich sogar die Zeitungen. Kritiker der Emanzipation ahnten wahrscheinlich schon damals erahnen, dass diese nicht mit dem Tragen von Hosen oder dem Fahrradfahren enden würde.
Ein letzter externer Einflussfaktor, der hier kurz erörtert werden soll, ist der Krieg. Ab 1914 verbreitete dieser historische Einschnitt, der das Ende der Epoche markierte, seinen Einfluss auf die modische Entwicklung. Auch wenn die oberen Gesellschaftsschichten nur teilweise von Materialeinsparungen, Lieferschwierigkeiten und aufkommender Armut betroffen waren, so ziemte es sich für die Damen dennoch nicht, ausladende Feste in ausschweifenden Roben zu feiern. Auch die Damen der Recherche, die den Salon Madame Verdurins besuchen, müssen sich der neuen Kleiderordnung fügen.52 « Pour la saison automne-hiver 1914, on r é utilise les toilettes de l ’ hiver 1913, et La Mode illustr é e du dimanche 30 ao û t 1914 conseille m ê me à ses lectrices, pour rendre ces toilettes plus s é rieuses, de les recouvrir de tulle ou de mousseline de soie noire, t ê te-de-n è gre ou bleu marine. » 53 Die Tageskleidung der Damen passte sich in Form und Farbe sehr stark der militärischen Uniform der Männer an, wie die Abbildung 4 zeigt. Insofern kann der Krieg und auch die Nachkriegszeit als konstituierendes Element für mehr Sachlichkeit und Nüchternheit in Modefragen gewertet werden. Mit dem Krieg wurde ebenso die Emanzipation der Frauen gefördert, mussten sie doch die Männer in vielen Lebensbereichen unterstützen oder sogar ersetzen. « Par la suite, elle en tirent mati è re à des revendications é galitaires qui se traduisent é galement dans leur fa ç on de se v ê tir. » 54
3.3.2 Die Damenmode von 1870 bis 1919
Nachdem die allgemeinen Einflussfaktoren auf die modische Entwicklung dargestellt wurden, soll im Folgenden die Damenmode genauer beschrieben werden. Wie schon angedeutet, beherrschte Ende des 19. Jahrhunderts eine ausschweifende Mode, die sich an den höfischen Gewändern des Spätbarocks orientierte, die Damenkleidung der oberen Bevölkerungsschicht. Die auffallendste Erscheinung der Damenroben, für deren Herstellung bis zu 14 Meter Stoff benötigt wurden55, war von 1870 bis in die neunziger Jahre das Tournüre-Kleid. Statt der voluminösen Krinoline, welche die vorangegangenen Jahre die Mode beherrscht hatte, wurde der Rock zum Ende des Jahrhunderts vorn schmaler. Einige Modelle waren so eng, dass sie kaum ein Gehen ermöglichten. Dafür waren sie hinten, aufgepolstert mit der Tournüre (Abb. 5), umso weiter.
Die Tournüre bestand zunächst „ aus einem Ro ß haarkissen oder einigen Garnituren aus Steifleinen. Doch bald formte ein richtiges Gestell aus mehreren wagerecht angebrachten, hufeisenförmigen B ü geln, die an B ä ndern hingen, die vollendete Figur. Die Tournure hing unter dem Kleiderrock, aber ü ber den Unterröcken. So konnte der untere Teil des Kleides phantasievoll in Falten gelegt und die enorme Weite nach hinten verlagert werden. Der unmittelbar auf den H ü ften ansetzende Rock nahm die knappe Korsage auf, die immer h ä ufiger in kleinen Sch öß en auslief. Die oben Enge, am Saum weite, sanduhrförmige Korsage dr ä ngte den Busen nach oben, gleichzeitig den Bauch nach unten, so da ß er leicht hervortrat. [ … ] Die Korsage war - au ß er beim Ballkleid, das als einziges ein weit ü ber die Schultern reichendes Dekollet é aufwies - hochgeschlossen und lie ß am Hals einen wei ß en Spitzenstreifen frei. “ 56 « Pendant quinze ans, cet amoncellement de tissus, de pliss é s, de volants, de ruches alourdit les silhouettes f é minines » 57 , wie in Abbildung 6 zu sehen ist. Die ausladende Kleidung wurde noch von komplizierten Frisuren ergänzt, für die die Damen bisweilen sogar künstliche Haarteile verarbeiten mussten. Als Kopfbedeckung wurden kleine Hüte, so genannte Kapotthütchen (Abb. 7) getragen.
« Pendant ces vingt ann é es, la bottine à talon, boutonn é e ou lanc é e, en peau ou en é toffe sombre, est en faveur à la ville. En toilette de soir é e ou en c é r é monie, on la remplace par des d é collt é s à bout arrondis jusqu ’ en 1880, plus pointus ensuite. » 58 Von etwa 1885 bis 1890 wurde die Tournüre durch den Cul de Paris ersetzt. Auch dabei handelt es sich um eine rückwärtige Aufpolsterung, die allerdings aufgrund des langen Korsetts etwas tiefer saß als die Tournüre.59 Ab den neunziger Jahren entwickelte sich die Mode, beeinflusst durch die verschiedenen Neuerungen im Lebenswandel rasch und wurde
[...]
1 Im Folgenden wird im Text statt des kompletten Titels die Kurzform „Recherche“ und in den Fußnoten die Abkürzung „ARTP“ verwendet.
2 Vgl. Michel-Thiriet, 1999, S. 119
3 Boucher, 1965, S. 9
4 Simmel, 1995, S. 12f.
5 Vgl. Simmel, 1995, S. 11, S. 13, S. 16
6 Corbineau-Hoffmann, 1993, S. 32
7 Proust, 1988, ARTP III, S. 442
8 Boucher, 1965, S. 9f.
9 Vgl. Proust, 1987, ARTP I, S. 370
10 Vgl. Proust, 1988, ARTP II, S. 882
11 Simmel, 1995, S. 11f.
12 Vgl. Rusam, 192, S. 339
13 Boucher, 1965, S. 10
14 Hafemann, 1938, S. 5f.
15 Vgl. Simmel, 1995, S. 16
16 Simmel, 1993, S. 344
17 Voß, 2002, S. 47
18 Barthes, 1991, S. 298f.
19 Barthes, 1991, S. 300
20 Martinoir, 1971, S. 410
21 Buxbaum, 1985, S. 19
22 Jacot, 1957, S. 377
23 Vgl. Michel-Thiriet, 1999, S. 261ff.
24 Keller, 1999, S. 32
25 Keller, 1999, S. 41ff.
26 Bancquart, 1997, S. 37
27 Vgl. Winock, 2002, S. 379ff.
28 Hess et al., 1989, S. 30f.
29 Die historischen Angaben, die im Kapitel 3.2 gemacht werden, wurden aus verschiedenen Veröffentlichungen zur Geschichte der Belle Époque entnommen, in denen sie jeweils in ähnlicher Weise dargelegt werden: Vgl. Winock, 2002; vgl. Ritchie & Javary, 1991; vgl. Hess et al., 1989, S. 30 - 32
30 Proust, 1988, ARTP II, S. 875
31 Proust, 1988, ARTP II, S. 882
32 Proust, 1988, ARTP II, S. 882
33 Hess et al., 1989, S. 30
34 Keller, 2002, S. 20
35 Keller, 1999, S. 29
36 Vgl. Hess et. al., 1989, S.130f.
37 Vgl. Aranda, 1984, S. 7
38 Die bekanntesten französischen Modezeitschriften dieser Zeit waren « Journal des Modistes », « La Mode Illustrée », «L’Art et la Mode», « La Mode Nationale » und « La Mode Pratique ».
39 Vgl. Proust, 1988, ARTP II, S. 254
40 Vgl. Proust, 1987, ARTP I, S. 588
41 Vgl. Aranda, 1984, S. 27ff.; Ruppert et al., 1996, S. 296ff.
42 Vgl. Aranda, 1984, S. 62ff., vgl. Boucher, 1965, S. 387ff.
43 Vgl. Proust, 1988, ARTP II, S. 23f.
44 Keller, 1999, S. 28
45 Vgl. Proust, 1987, ARTP I, S. 216ff.
46 Vgl. Proust, 1988, ARTP III, S. 581f.
47 Boucher, 1965, S. 388
48 Vgl. Aranda, 1984, S. 64 ff.
49 Vgl. Proust, 1988, ARTP II, S. 329
50 Proust, 1988, ARTP II, S. 357
51 O.V., 1997, S. 35
52 Vgl. Proust, ARTP IV, S. 309
53 Brachet-Champsaur, 2004, S. 212
54 Ruppert et al., 1996, S. 309
55 Vgl. Boucher, 1965, S. 393
56 Aranda, 1984, S. 77
57 Boucher, 1965, S. 394
58 Ruppert et al., 1996, S. 281f.
59 Vgl. Aranda, 1984, S. 82
- Quote paper
- Anja Pfeiffer (Author), 2007, Proust und die Mode, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93391
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