Die vorliegende Arbeit widmet sich der Rolle von Film und Kino im Kontext kultureller Bildung. In einem Zeitalter, in dem etablierte Institutionen wie Theater, Museen und Bibliotheken als zentrale Akteure der kulturellen Bildung gelten, scheinen Film und Kino möglicherweise unverdient im Schatten zu stehen. Dabei ist das Kino von Anfang an als Ort für ein breites Publikum konzipiert gewesen und verkörpert eine egalitäre Form der kulturellen Teilhabe. Trotz historischer Vorbehalte und Vorstellungen von "Schmutz und Schund" hat sich das Kino als wichtige kulturelle Institution etabliert.
Die Arbeit beleuchtet die Reaktionen auf das Medium Film und die Institution Kino in verschiedenen historischen Phasen, insbesondere im wilhelminischen Kaiserreich und der Weimarer Republik. Es wird deutlich, dass Film und Kino nicht nur kulturelle, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen widerspiegeln und beeinflussen. Dabei wird auch auf die Unterschiede zwischen Programmkinos mit anspruchsvollem Arthouse-Programm und Multiplex-Kinos eingegangen, wobei letztere oft eher als Konsumtempel denn als kulturelle Einrichtungen betrachtet werden.
Besonderes Augenmerk liegt auf der Verbindung zwischen schulischer Bildung und dem Medium Film. Die Schule als Vermittlerin kultureller Bildung steht vor der Herausforderung, Schülerinnen und Schüler mit anspruchsvollen Filmen in Berührung zu bringen, die über die gängigen Blockbuster hinausgehen. Hierbei wird die Frage aufgeworfen, wie die Schule die Brücke zu den Programmkinos schlagen kann, um Schülern eine Begegnung mit ästhetisch anspruchsvollem Film zu ermöglichen.
Die Arbeit hinterfragt auch die gegenwärtige Praxis schulischer Filmbildung, die häufig durch begrenzte Ressourcen und ein instrumentelles Verhältnis zum Film geprägt ist. Es wird diskutiert, inwieweit die Auswahl von Filmen im schulischen Kontext den Ansprüchen kultureller Bildung gerecht wird und wie eine authentische Begegnung mit dem Medium Film gestaltet werden kann.
Abschließend wird darauf hingewiesen, dass Film und Kino nicht gleichzusetzen sind, da es den Film auch außerhalb des Kinos gibt. Dabei wird auf die Herausforderungen eingegangen, die Streaming-Dienste wie Netflix für die Kinobranche darstellen, aber auch die besondere Rezeptionshaltung, die das Kino ermöglicht, im Vergleich zu den Multitasking-Gewohnheiten im heimischen Umfeld.
Denkt man an kulturelle Bildung, droht das Medium Film und die kulturelle Institution Kino möglicherweise zu Unrecht unter den Tisch zu fallen. Als etablierte Orte und Institutionen kultureller Bildung gelten heute wohl immer noch primär das Theater, das Museum und die Bibliothek, die allesamt auf ein Bildungspublikum abzielen, auch wenn sie heute allein schon aus ökonomischen Gründen gezwungen sind, sich für breitere Gesellschaftsschichten zu öffnen. Dies tat das Kino schon immer. Es war von Anfang an für die breiten Massen geöffnet, kann daher auch pars pro toto für die sich ausbreitende Massenkultur in der Moderne stehen. Das Kino erfreute sich schon historisch klassen- und schichtenübergreifender Beliebtheit, war somit stärker egalitär als Theater, Museum und Oper, was das Kino für sich genommen bereits sympathisch macht.
So kann es nicht wundern, dass es auf das neue Medium Film und die Institution Kino im wilhelminischen Kaiserreich wie auch in der Weimarer Republik heftige Reaktionen gab. Diese waren sowohl von einem kulturkonservativ-reaktionären Weltbild, aber auch von einem Standesdünkel mit bildungsbürgerlichem Habitus durchzogen. Die Ablehnung lässt sich auf die einfache Formel „Schmutz und Schund“ bringen.
Nun ist klar, dass heute niemand mehr den Spielfilm im Kino „Schund“ nennen würde. Gleichwohl wird, wenn auch vielleicht unterbewusst, eine Trennung zwischen vermeintlicher Hochkultur, der man etwa bei einem Museumsbesuch begegnet und dem seichten Freizeitvergnügen des Kinobesuchs unterschieden. Kino wird vorwiegend mit Unterhaltung, Vergnügen und Zerstreuung assoziiert, nicht primär mit kultureller Bildung.
An dieser Stelle sollte aber ohnehin eine Einschränkung getroffen werden. Spricht man dem Kino den Rang einer kulturellen Institution zu, reden wir hierbei von den Programmkinos mit anspruchsvollem Arthouse-Programm. Den Multiplex-Kinos in deutschen Großstädten hingegen ist ein kultureller Bildungsauftrag völlig fremd, das Programm wird ausschließlich aus ökonomischen Gesichtspunkten zusammengestellt und die Kinos sind im Grunde zu Konsumtempeln verkommen. Gerade die Multiplex-Kinos sind es aber wohl, die von weiten Teilen der Gesellschaft für das Ganze genommen werden und gerade der Erfahrungshorizont von Schüler*innen als wichtigste Zielgruppe der kulturellen Bildung dürfte sich auf die großen Hollywood-Blockbuster und die Cineplex-Kinos begrenzen. Diese Einschätzung bekräftigt etwa auch der Betreiber des Freiburger Programmkinos Friedrichsbau. Trotz finanziell lukrativer Angebote für Kinder und Jugendliche- diese werden durchaus auch angenommen- ist das Durchschnittsalter der Besucher*innen in Programmkinos weit höher als in Mainstream-Kinos. Hier äußert sich also auch für das Kino gewissermaßen die Distinktion in Hochkultur, die das Bildungspublikum anspricht und der Populärkultur, die auf die breite Masse abzielt.
Die Schule, die den Auftrag hat, kulturelle Bildung zu vermitteln, muss daher die Brücke schlagen zu den Programmkinos, die als kulturelle Institution eine Begegnung mit dem anspruchsvollen Film schaffen können. Denn genau darum geht es bei kultureller Bildung: Begegnung zu schaffen, mit dem für die Schüler*innen Unbekannten und Fremden. So können sie feststellen, dass es noch weit mehr gibt als die gängigen Blockbuster. Die Erfahrung mit dem ästhetisch anspruchsvollen Film soll dabei den kulturellen Horizont erweitern. So kann kulturelle Bildung für Schüler*innen Partizipation und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Der Schule fällt dabei gerade im Zusammenspiel mit den kulturellen Institutionen die Aufgabe zu, Schüler*innen die Begegnung mit dem zu ermöglichen, worauf sie aus eigenem Antrieb nicht stoßen würden. Hier stellt sich aber die entscheidende Frage, wie man Kinder und Jugendliche, die mit ihren Sehgewohnheiten in die Schule kommen, dem Neuen zuführen soll. Einerseits ist es Konsens, dass in Pädagogik wie Didaktik an das Vorwissen von Schüler*innen angeknüpft werden soll. So stellt sich auch der französische Regisseur und Filmpädagoge Alain Bergala1 in seinem Standardwerk Kino als Kunst die Frage, wie Begegnung mit künstlerisch und ästhetisch wertvollen Filmen geschaffen werden kann, wie also der Weg von Pokemon zu Dreyer2 (Carl-Theodor Dreyer, dänischer Regisseur) gelingen kann. Dabei vertritt Bergala ein emphatisches und radikales Plädoyer für die Kunst und lehnt den bequemen Weg über die aktuellen Sehgewohnheiten ab. So schreibt er:
Wer auf die sanfte Art von den Unterhaltungsprodukten zur Kunst führen will ist schon dabei, die Kunst zu verkennen und zu verraten. Wenn man die Kultur ‚verpacken‘ möchte, um sie appetitlicher oder verdaulicher zu machen, ist man zutiefst überzeugt, dass sie eine bittere Pille ist, deren Geschmack man überdecken muss. (Bergala 2006: 72f.)
Vielmehr schwebt ihm ein radikaler Umgang mit dem Medium Film vor: „Sie [Die Schüler*innen] müssen der Kunst ausgesetzt und können von ihr erschüttert werden.“ (Ebd.) Nun könnten hier Vorbehalte angebracht werden, mit diesem allzu radikalen Ansatz könnten die Jugendlichen für die Kunst auch verprellt werden, schließlich kann Ingmar Bergman beim Publikum, das Fack ju Göhte gewohnt ist, doch einen erheblichen Kulturschock auslösen. Genau diesen will Bergala aber auch erreichen, da für ihn Kunst etwas ist, dass sich wiedersetze. (vgl. Ebd. S.55) Damit sieht Bergala die Kunst in ihrer Sperrigkeit als Gegenpol zu einer gefälligen Massenware, die unmittelbar Identifikation bieten soll. Der Fremdheit und Sperrigkeit der Filme sollen die Jugendlichen ausgesetzt werden, freilich mit pädagogisch-didaktischer Begleitung. Nun kann man darüber diskutieren, ob Bergala die Sache nicht etwas zu radikal angeht. Man muss ihm aber auf jeden Fall zugestehen, den Gegenstand, nämlich den Film, ernst zu nehmen und ihn trotz pädagogischer Aufbereitung nicht mit falschen Zugeständnissen zu verflachen.
Zudem ist ohnehin klar, dass Bergala hier zwar ein engagiertes Plädoyer vertritt, die Realität in den Schulen, nicht zuletzt aufgrund begrenzter Ressourcen, aber ganz anders aussieht. Ins Kino kommen Schüler*innen höchstens einmal im Jahr in der Schulkinowoche, wobei eine Vor- und Nachbereitung nicht sichergestellt ist. Filme werden vor allem in den letzten Tagen vor den Sommerferien gezeigt und geraten so in die Rolle eines Lückenfüllers. Hinzu kommt, dass die Schule nach Bergala ein instrumentelles Verhältnis zum Film pflege, wonach sie Filme gerne nach ihrer thematischen Verwertbarkeit auswählt. Bergala geißelt diese Haltung als „Inhaltismus.“ (Ebd. S.36) Dieses instrumentelle Verhältnis wird dabei zurecht kritisiert, denn wenn man es mit dem Gegenstand ernst meint, sollte man ihm zunächst einen Eigenwert zusprechen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: So empfiehlt das Landesmedienzentrum BaWü Til Schweigers Film Honig im Kopf für den Ethikunterricht. Nun ist dies aufgrund des großen Themas des Films, der Krankheit Demenz, ohne Weiteres zu rechtfertigen. Andererseits würde man Unterrichtszeit für einen ästhetisch relativ belanglosen Film opfern. Dies zeigt, dass es abzuwägen gilt hinsichtlich der mit dem Film verknüpften Lernziele. Generell stellt sich aber die Frage, warum man in der Schule einen Film zeigen sollte, zu dem über 7 Millionen Deutsche ins Kino gerannt sind. Dies passt nicht zur Aufgabe kultureller Bildung, Begegnungen zu schaffen, und wäre im Grunde eine verpasste Chance.3
Zum Schluss soll noch einmal präzisiert werden: Der Film und das Kino fallen nicht in eins, es gibt den Film auch außerhalb des Kinos. Aktuelles Beispiel hierfür ist der Netflix-Film Roma, der bei den Oscars 2019 wichtige Preise gewinnen konnte. So sehr Netflix aber eine Herausforderung für die Kinobranche ist, so sehr werden hierbei auch Unterschiede, wenn man so will Vorzüge, des Kinos als Rezeptionsort von Filmen deutlich. Zunächst zum Film: Dieser sei nach Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt anders als die Serie, die derweil auf dem Vormarsch sei, „kein Nebenbeimedium“. Er sei dahingehend eine „völlig unzeitgemäße Kunstform“, „in Zeiten des Multitaskings ein Ausnahmezustand.“ Es ist zuzustimmen, dass der Film eine völlig andere Rezeptionshaltung erfordert als die Netflix-Serie, die es erlaubt, nebenher noch am Smartphone herumzuhantieren.
Während Filme heute also aufgrund wachsender Streaming- Angebote verstärkt aus dem Kino ins Eigenheim ausgelagert werden, kommt das Kino der konzentrierten Rezeptionshaltung, wie sie Wolfgang M. Schmitt beschreibt, im Grunde entgegen. In Zeiten des multimedialen Multitaskings, das gerade für jüngere Generationen und somit auch für Schüler*innen charakteristisch ist, dürfte das Kino eine gänzlich andere Rezeptionserfahrung darstellen. Somit macht das Kino auch das Einüben einer etwas aus der Mode gekommenen Kulturtechnik, der konzentrierten Rezeption anstelle des heutigen Zapping-Verhaltens, möglich.
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1 Die Ausführungen Bergalas stellen weit mehr als die Meinung einer Einzelperson dar. Seine Expertise floss in die praktische Umsetzung kultureller Bildung in Frankreich ein und stellt auch für Deutschland ein Vorbild dar, da die Schrift von der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) herausgegeben wurde.
2 Die erste Auflage von Kino als Kunst stammt von 2002, daher der Bezug zu Pokemon. Für heute können etwa die Marvel-Blockbuster, aber auch Netflix-Serien als repräsentativ gelten.
3 Es ist klar, dass die Empfehlung thematisch orientiert ist und nicht primär auf kulturelle Bildung abzielt. Dennoch wäre es hier möglich, Synergieeffekte aus gleichsam thematisch wie ästhetisch anspruchsvollen Filmen zu ziehen.
- Quote paper
- Johannes Riedmüller (Author), 2019, Kino und Film als kulturelle Bildung im schulischen Kontext, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/933611