Im Kontext zweier großer Lernerwörterbücher werden spezifische Fragen und Probleme erörtert, die bei der Erarbeitung eines Wörterbuches auftreten.
Gliederung
1 Einleitung
2 Zum Prozess der Lemmaselektion - Definition und Ablauf
3 Probleme der Lemmaselektion
3.1 Überbewertung der äußeren Selektion
3.2 Mangel an metalexikographischer Theoretisierung
3.3 Konflikt zwischen Umfang und Ausführlichkeit
3.4 Offenlegung der Selektionsprogramme
4 Spezifische Selektionskriterien in Lernerwörterbüchern
4.1 Quantitativer Aspekt
4.2 Inhaltlicher Aspekt
5 Quantitativer Umfang als Qualitätskriterium der äußeren Selektion
5.1 Zielsetzung
5.2 Methodisches Vorgehen und Probleme
5.3 Tabellarische Datenerhebung
5.4 Ergebnisse und Deutung
6 Fazit
7 Literatur und Abkürzungen
1 Einleitung
Die vor wenigen Wochen neu herausgegebene 23. Auflage des Duden - Die deutsche Rechtschreibung wirbt sowohl im Vorwort als auch auf einer separaten Werbebanderole und einem Aufkleber auf dem Buchrücken mit der Angabe „5000 neue Wörter“. Die Gesamtzahl der verzeichneten Stichwörter gibt der Verlag ebenfalls direkt auf dem Einband des Dudens mit der Zahl 125.000 an. Darauf folgend wird auf 500.000 Beispiele und andere Inhalte der Wörterbuchartikel verwiesen. Nahezu ironisch mutet der Eindruck an, ausgerechnet in einem Wörterbuch zuerst mit auffällig großen Zahlen konfrontiert zu werden. Der Umfang des Wörterverzeichnisses auf den diese Zahlen verweisen, scheint für die Wahrnehmung eines Wörterbuches und dessen Nützlichkeit von Bedeutung zu sein.
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht daher der Prozess, welcher Basis ist für den Umfang eines Wörterbu- ches: die Lemmaselektion. Im Kontext zweier Lernerwörterbücher, dem de Gruyter Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache (DGWDAF) und Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (LGWDAF), werden hier spezifische Fragen erörtert, die bei der Zusammenstellung eines Wörterver- zeichnisses auftreten. Ausführlich sollen konkrete Probleme der Lemmaselektion diskutiert werden, darunter auch die Frage, wie die beiden Wörterbücher diesen Problemen gerecht werden. Auch wird versucht, die speziellen Selektionskriterien für den Typ des Lernerwörterbuches unter zwei Aspekten zusammenzufassen. Bei allen noch aufzuzeigenden Vorbehalten gegen den äußeren Umfang als Quali- tätskriterium soll eine vergleichende Analyse abschließend aufzeigen, inwiefern der zahlenmäßige Be- stand der Wörterbücher doch die Möglichkeit einer qualitativen Bewertung eröffnet.
2 Zum Prozess der Lemmaselektion - Definition und Ablauf
Als Lemmaselektion bezeichnet man das Auswahlverfahren relevanter sprachlicher Einheiten, welche in einem Wörterbuch verzeichnet werden. Synonym wird hier die Bezeichnung äußere Selektion verwen- det.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: schematische Darstellung zum Ablauf der Lemmaselektion
Bereits vor dem eigentlichen Prozess der Selektion bestimmt die anvisierte Wörterbuchfunktion über die letztendlich verzeichneten sprachlichen Einheiten. Potentielle Benutzertypen und Benutzungssituatio- nen sind bei der Konzeption die Basis für den zukünftigen Lemmabestand eines Wörterbuches. Diese können nicht an den Bedürfnissen der Benutzer „vorbeiproduziert“ werden und somit ist es für den Lemmabestand entscheidend, ob ein Wörterbuch beispielsweise zur Textproduktion oder Textrezeption herangezogen werden soll. Die Ansprüche des Benutzers sollten daher wesentlichen Einfluss nehmen auf das Selektionsprogramm. Unter dem Lemmaselektionsprogramm fasst man jene zuvor festgelegten Kriterien zusammen, anhand derer sprachliche Einheiten auf ihre Relevanz hin untersucht werden. Aus pragmatischen Gründen ist selten das gesamte lexikographische Korpus einer Sprache Grundlage der Selektion:
„Ausgangspunkt bildet die Selektion in einem vorangegangenen Werk, das unter Vergleich mit anderen Wörterbüchern und Zusatzlisten ergänzt bzw. unter Weglassung von als veraltet oder unwichtig angesehenen Einträgen gekürzt wird.“ (Bergen- holtz 1989, 774)
Das Ergebnis dieser Selektion ist eine erste Auswahl sprachlicher Einheiten, denen die Eigenschaft zuerkannt wird, „für bestimmte Personengruppen in bestimmten Situationen nachschlagerelevant zu sein.“ (Beißwenger/Körkel 2002, 394)
Hiernach folgt die formale Strukturierung der Lemmakandidaten nach spezifischen Ordnungsprinzipien, welche ebenfalls an der Funktion des Wörterbuches orientiert sind (initialalphabetisch, finalalphabetisch, 4 Ordnung nach Sachgruppen, etc); Beißwenger/Körkel sprechen in diesem Zusammenhang von „Lem- matisierungskonventionen“ (ebd. 394). Vor der endgültigen Aufnahme der Lemmakandidaten in das Wörterbuch steht oftmals eine erneute Selektion, welche nun nicht mehr ausschließlich lexikographischen Ansprüchen geschuldet ist, sondern organisatorische, technische und kommerzielle Gründe haben kann (vgl. Barz 2001, 205).
Überschreitet beispielsweise die Auflistung der Lemmakandidaten ihren zuvor festgelegten Umfang und somit den Umfang des Endproduktes, gilt es die Auflistung durch erneute Selektion zu komprimieren.
3 Probleme der Lemmaselektion
Sowohl im Ablauf des eigentlichen Prozesses der äußeren Selektion als auch in der Wahrnehmung des Endergebnisses treten Probleme auf, welche im Folgenden umrissen werden sollen.
3.1 Überbewertung der äußeren Selektion
Im metalexikographischen Diskurs wird häufig die generelle Überbewertung des Prozesses der Lem- maselektion beklagt. Zuerst ist dabei die fälschliche Annahme des Laien zu nennen, welcher oftmals vom äußeren Umfang eines Wörterbuches auf dessen Qualität schließt. Für ihn scheint ein Wörterbuch mit angeblichen 60.000 Lemmata kompetenter als eines, welches mit „nur“ 20.000 Lemmata wirbt (vgl. Zöfgen 1994, 56; Bergenholtz 1989, 772 ff). Dieser fälschliche Rückschluss basiert nun nicht allein auf dem entschuldbaren Unwissen des Laien, sondern häufig auch auf der gezielten Desinformation der Wörterbuchverlage. Bergenholtz/Meder (1998, 287 ff) zeigen auf, mit welchen Mitteln gearbeitet wird, um auf den Umtexten eines Wörterbuches mit imposanten Zahlen werben zu können. Zum tatsächli- chen Lemmabestand werden häufig Elemente der Wörterbuchartikel (Synonyme, Antonyme, Kollokatio- nen, etc.) addiert, sodass in manchen Fällen Zahlen erreicht werden, die über dem Doppelten des rea- len Bestandes liegen. Zu Recht beklagen Bergenholtz/Meder diese Benutzertäuschung, wird doch so einem potentiellen Käufer die Möglichkeit genommen, den tatsächlichen Umfang eines Wörterbuches mit dem eines anderen zu vergleichen. Als Beispiel für diese Art der Benutzertäuschung muss auch das LGWDAF gezählt werden, da es mit „rund 66.000 Stichwörtern und Wendungen“ wirbt, jedoch lediglich 33.000 tatsächliche Lemmata verzeichnet (vgl. Bergenholtz/Meder 1998, 287).
3.2 Mangel an metalexikographischer Theoretisierung
Ein weiteres Problem ist die in diesem Zusammenhang oft aufgeführte, mangelhafte metalexikographische Theoretisierung der äußeren Selektion. Eine Ursache dieses Mangels dürfte die große Vielfalt der existierenden Wörterbuchtypen sein. Engelbert/Lemnitzer (2001, 21) führen in ihrer Wörterbuchtypologie allein 61 Beispiele für die Kategorie „Spezialwörterbücher“ auf; Anspruch auf Vollständigkeit wird vermutlich nicht erhoben werden können. Jedes dieser Wörterbücher bedarf eines eigenen individuellen Selektionsprogramms, um seiner angestrebten Funktion gerecht zu werden. Angesichts dieser Vielfalt scheinen „übergreifende theoretische und methodische Ansätze“ der Lemmaselektion, wie sie Bergenholtz (2001, 12) vermisst und fordert, weiterhin fraglich.
3.3 Konflikt zwischen Umfang und Ausführlichkeit
Der Konflikt zwischen der Masse an potentiell wichtigen Informationen und dem begrenzten Umfang eines Printwörterbuches ist eine weitere Herausforderung an das Selektionsprogramm. Dem Anspruch der Lexikographen an Vollständigkeit und Präzision, sowohl in Makro- als auch Mikrostruktur, steht die Übersichtlichkeit und Einfachheit in der Benutzung gegenüber. Gerade für monolinguale Lernerwörter- bücher gilt, dass „weniger oft mehr ist“. Für Fremdsprachenlerner wäre ein zu großer Lemmabestand im produktiven Sprachgebrauch mangels Übersichtlichkeit und Eindeutigkeit eher hinderlich. Somit bedarf es eines überschaubaren und stark begrenzten Ausschnittes des lexikographischen Korpus der zu er- lernenden Sprache. Dieser Begrenzung der Makrostruktur muss nun eine adäquate Gestaltung der Mikrostruktur gegenüberstehen. Zusammenfassend plädieren Beißwenger/Körkel dafür,
„... die Mikrostrukturen so differenziert als möglich zu konzipieren und zugleich auf einem mittleren bis niedrigen Komplexitätsniveau zu präsentieren. [...] Einem relativ restriktiven Programm für die äußere Selektion muß ein relativ differenziertes Programm für die innere Selektion [...] zur Seite gestellt werden.“ (Beißwenger/Körkel 2002, 399)
Angestrebt werden sollte ein ausgewogenes, benutzerorientiertes Verhältnis zwischen äußerem Um- fang eines Wörterbuches und dessen Mikrostrukturenprogramm, also Umfang und Inhalt der Wörter- buchartikel.
3.4 Offenlegung der Selektionsprogramme
Die Offenlegung des Selektionsprogramms und der einzelnen Selektionskriterien gäbe dem möglichen Käufer eines Wörterbuches die Chance, verschiedene Produkte selben Typs miteinander zu verglei- 6 chen. Er könnte abschätzen, wie sich der Lemmabestand eines Wörterbuches zusammensetzt und diesen in Bezug auf seine Ansprüche und Erwartungen an das Produkt abwägen. In diesem Zusammenhang sind beide hier zu vergleichenden Wörterbücher zu kritisieren. Im Vorwort des DGWDAF findet man den Vorsatz, dass „... die Stichwortauswahl zu berücksichtigen [hat], dass der Lernende zunächst mit einem Grundwissen ausgerüstet ist und so viel Wortschatz benötigt, wie er für die alltägliche Kommunikation braucht, dass aber dieser Wortschatzausschnitt [...] in seiner ganzen Breite und mit allen seinen Regularitäten dargestellt werden muss.“ (DGWDAF 2000, VII)
Dieser allgemein formulierte Anspruch an die äußere und innere Selektion mag für das knappe Vorwort genügen. In den sich anschließenden „Erläuterungen zur Konzeption des Wörterbuches“ (ebd. IX-XIV) findet man nun zwar eine detaillierte, sechsseitige Darlegung über Struktur und Inhalt der Wörterbuchartikel, also dem Ergebnis der inneren Selektion, die Konstitution des Lemmabestandes wird aber lediglich mit folgendem Absatz zusammengefasst:
„Der Wortschatzausschnitt war auf die Bedürfnisse von Lernenden zuzuschneiden. Daher wurden Stammwörter mit den wichtigsten Ableitungen ausgewählt, Komposita nur insoweit, als sie in ihrer Bedeutung nicht transparent sind und zugleich im Alltag häufig vorkommen. Fachwortschatz und stark regional eingeschränkter Wortschatz mussten weitgehend ausgeklammert werde, dgl. Veraltetes oder Veraltendes.“ (ebd. IX)
Nur wenig präziser äußert sich das LGWDAF zu seinem Selektionsprogramm. Im Abschnitt „Lexikographische Vorbemerkungen“ (LGWDAF 2003, V-VI) erfährt man zwar, dass der verzeichnete Wortschatz Zugang zu einer Vielzahl von Textsorten bietet und sowohl für den rezeptiven als auch produktiven Sprachgebrauch geeignet ist. Wie die genaue Zusammensetzung des Lemmabestandes jedoch erfolgte, der dieses leisten soll, bleibt recht vage:
„Die Auswahl der Stichwörter erfolgte unter besonderer Berücksichtigung dessen, was der Lernende braucht. Weitere Kriterien waren die Häufigkeit des Gebrauchs und die Zugehörigkeit zum Standard. Als Quelle und Orientierungshilfe dienten Textsammlungen und Befragungen von Muttersprachlern und Lernenden des Deutschen. Aktuelle Wörter und Neuwörter wurden daher in gebührender Weise berücksichtigt.“ (ebd. VI)
Es ist zu bezweifeln, ob die hier zitierten Aussagen zum Selektionsprogramm beider Wörterbücher dem Lernenden die Möglichkeit geben, den Lemmabestand in Bezug auf seine Tauglichkeit im Sprach- gebrauch zu überprüfen (vgl. Bergenholtz 1989, 774). Die Selbsteinschätzung der Lexikographen, den Bedürfnissen der Benutzer gerecht zu werden, ist allein keine gültige Qualitätsaussage über die Selek- tionskriterien, sondern letztendlich nur Werbung für das eigene Produkt. Ein Rückschluss auf den quali- tativen Wert der äußeren Selektion ist damit jedoch noch nicht möglich (vgl. Zöfgen 1994, 66 ff).
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