Es gibt in den Sozialwissenschaften traditionell zwei kontroverse Sichtweisen: eine ist individualistisch und wird in den letzten Jahren oft mit dem Namen "Rational Choice" belegt, die andere ist kollektivistisch und macht in jüngerer Zeit unter der Bezeichnung "Kommunitarismus" von sich reden. Die beiden Traditionen unterscheiden sich u.a. in ihrem grundlegenden Menschenbild. Die Individualisten gehen von einem selbständigen und willensstarken Menschen aus, der stets bestrebt ist, seinen Nutzen zu maximieren. Kollektivisten dagegen betonen die Abhängigkeit und Formbarkeit des Menschen und nehmen an, daß Personen in erster Linie konform zu sozialen Normen handeln. Hiermit ist auch der Kern einer von Kommunitaristen nur implizit vertretenen Handlungstheorie umrissen. Im Zentrum der vorl. Arbeit steht die umstrittene Frage, ob moralisches Handeln mit Hilfe eines nutzentheoretischen Vokabulars angemessen zu erfassen ist. Hierzu werden die Argumente von Robert Bellah, Amitai Etzioni, Alasdair MacIntyre, Charles Taylor, Michael Baurmann, Gary Becker, James Coleman, Hartmut Esser, Robert Frank, Viktor Vanberg u.a. vorgestellt und diskutiert, daneben auch sprachanalytische Überlegungen von John Searle. Die in dieser Dissertation vorgeschlagene Lösung einer handlungstheoretischen Konzeption von "Moral" lautet wie folgt: am methodologischen Individualismus wird zwar festgehalten, von der Prämisse eines strikt nutzen- und entscheidungstheoretischen Vokabulars jedoch abgegangen. Um die Personen über längere Zeiträume prägenden und dabei ihre subjektiven Erwartungen und Bewertungen maßgeblich modifizierenden Einflüsse ihrer sozialen Umwelt theoretisch sinnvoll einarbeiten zu können, muß eine Handlungstheorie die Anwendung behavioristischer Verhaltensgesetze zulassen - eine Anforderung, die ein rein entscheidungstheoretischer Ansatz nicht erfüllt. Meine Konzeption greift insofern in wesentlichen Zügen auf die Überlegungen von George Homans zurück.
Inhalt:
Einleitung
1. Kommunitarismus und Rational Choice als Gegensatzpaar
1.1. Was ist Kommunitarismus?
1.2. Gehen Kommunitaristen von einer Handlungstheorie aus?
1.3. Normative Tendenzen und Befangenheiten bei Rational Choice und Kommunitarismus
2. Das Problem der sozialen Ordnung: synchrone, objektive Merkmale der Situation
2.1 Ist unsere Gesellschaft krank und Moral die Medizin? Robert Bellah und Amitai Etzioni klagen an
2.1.1. Über die Gewohnheiten unserer Herzen
2.1.2. Die Bedeutung der Verantwortung für das Gemeinwesen
2.1.3. Beispiele moralischen Handelns bei Etzioni
2.2. Was ist eigentlich Moral?
Exkurs über Sprache
2.3. Die Antworten von Rational Choice auf das Problem der sozialen Ordnung (S. 69)
2.3.1. Spieltheorie: Die Evolution der Kooperation
2.3.2. Norm, Sanktion und Gruppengröße: Die Logik kollektiven Handelns (S. 77)
2.3.3. Das Konzept des sozialen Kapitals
2.3.4. Das Konzept der Haushaltsproduktionsfunktion
2.3.5. Das Konzept der sozialen Produktionsfunktion
2.3.6. Recht als Konsens
3. Handlungstheorie zwischen Kommunitarismus und Rational Choice: diachrone, subjektive Merkmale der Situation
3.1 Handlungstheorie aus der Sicht kommunitaristischer Autoren
3.1.1. Amitai Etzionis normativ-affektive Faktoren
3.1.2. Alasdair MacIntyres Reformulierung des Tugendbegriffs
3.1.3. Charles Taylors Projekt der Bestimmung der (neuzeitlichen) Identität (S. 125)
3.2. Welche Erklärungen für moralisches Verhalten bietet Rational Choice bzw. die ökonomische Verhaltenstheorie?
3.2.1. Der dispositionelle Nutzenmaximierer (M. Baurmann)
3.2.2. Vertrauen auf Mutter Natur (R. Frank)
3.2.3. Wandlungsprozesse im Akteur (J. Coleman)
3.2.4. Gary Beckers Ergänzungsprinzip
3.2.5. Die Frame-Selection-Theory (H. Esser)
3.2.6. Regelbefolgung als rationale Wahl (V. Vanberg)
4. Ergebnisse und Schlußfolgerungen: Ein Plädoyer für eine wieder stärkere Einbeziehung der Lerntheorie in sozialwissenschaftliche Erklärungen
4.1. George Homans individualistischer Ansatz
4.2. Grundlagen und Möglichkeiten der Lerntheorie
4.3. Spieltheorie mit moralischen Spielern
4.4. Bekannte Probleme bei Rational Choice Erklärungen
4.5. Identität oder was nützt dem Pawlowschen Hund seine konditionierte Reaktion? S. 233)
4.6. Rational Choice und Sozialisation
Literatur
„Let us look at the similarities of things and not be led astray by differences in words.“
George C. Homans
Danksagung
Ich danke allen Personen, die mir durch konstruktive Kritik, Fehlersuche und moralische Un- terstützung beim Verfassen der vorliegenden Arbeit hilfreich waren, insbesondere meiner Schwester Elke Lambert-Kilian, Sonja Haug und Frank Denne. Weiterhin danke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Hartmut Esser für die konzeptuelle Freiheit, die er mir einräumte, sowie Prof. Dr. Johannes Berger, der sich relativ kurzfristig bereit erklärte, das Zweitgutachten zu übernehmen.
Einleitung
Diese Arbeit ist weder eine Einführung in „Handlungstheorie“ noch in „Kommunitarismus“ noch in „Rational Choice“. Es geht vielmehr um die Zusammenhänge zwischen diesen drei Begriffen und dabei um die Erklärung einer besonderen Art individueller Handlungen, die auf vorgegebene soziale Strukturen zurückgeführt werden sollen. Es geht um Handlungen, die offensichtlich uneigennützig oder auch um ihrer selbst willen ausgeführt werden und damit auch um die zentrale Frage, ob ein ökonomischer Ansatz die „Dimension des Sozialen“ be- friedigend erfassen kann.
Das Wort „Handlungstheorie“ im Titel dieser Arbeit soll in erster Linie betonen, daß die Er- klärung von individuellem Verhalten im Vordergrund steht. Es interessiert dabei allerdings nur solches individuelles Verhalten, das von typischen sozialen Strukturen geprägt bzw. be- einflußt ist und relevante Auswirkungen auf soziale Phänomene hat. Es handelt sich also um einen dezidiert soziologischen Ansatz. Für einen dagegen interdisziplinär ausgerichteten Überblick über „Handlungstheorie“ sei auf die Aufsatzsammlung von Jürgen Straub und Hans Werbik (1999, Hrsg.) verwiesen. Andererseits steht die vorliegende Arbeit auch nicht in der Tradition klassischer soziologischer Handlungstheorie. Hierzu sei auf die Einführung „So- ziologische Handlungstheorie“ von Bernhard Miebach (1991) verwiesen bzw. auch auf den der Fragestellung der vorl. Arbeit thematisch etwas näher liegenden Sammelband „Soziologi- sche Handlungstheorie: Einheit oder Vielfalt?“ hrsg. von Andreas Balog und Manfred Ga- briel (1998).
Die gesellschaftspolitische Diskussion im Anschluß an das Werk „A Theory of Justice“ von John Rawls (1975) zwischen „Liberalen“ und „Kommunitaristen“ (Honneth 1993) steht eben- so nicht im Zentrum der vorliegenden Arbeit. In dem von Axel Honneth herausgegebenen Sammelband „Kommunitarismus: Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften“ wird insbesondere in der Einleitung des Herausgebers (S. 7ff.) die Arbeit von Michael Sandel mit dem Titel „Liberalism and the Limits of Justice“ (1989, zuerst 1982) - eine kritische Auseinandersetzung mit dem Werk von Rawls - als Grundsteinlegung des Kommunitarismus angesehen. Auch der Begriff „kommunitarisch“ tauchte wohl zuerst bei M. Sandel (1989) auf (Reese-Schäfer 1994, 13). Für an dieser Diskussion interessierte Leser sei auf den bereits genannten Sammelband von Honneth (1993), das Buch von Rainer Forst (1994) „Kontexte der Gerechtigkeit“ und die Aufsatzsammlung „Kommunitarismus in der Diskussion“ hrsg. von Christel Zahlmann (1997) verwiesen. Dort finden sich auch in einem Beitrag von Otto Kallscheuer (1997: „Anregungen zum Weiterlesen“) zahlreiche weitere Lite- raturangaben. Eine gute, über die obige Diskussion allerdings nur wenig hinausgehende und Amitai Etzioni leider nicht berücksichtigende Einführung in das Thema Kommunitarismus bietet daneben Walter Reese-Schäfer (1994) mit dem Titel „Was ist Kommunitarismus?“. Doch möchte ich betonen, daß es für das Verständnis der vorliegenden Arbeit keinerlei Vor- kenntnisse über Kommunitarismus bedarf. Die Sichtweisen der Autoren Robert Bellah et al., Amitai Etzioni, Alasdair MacIntyre und Charles Taylor - besonders der letzten drei - werden ausführlich dargestellt.
Daß in dieser Arbeit das Konzept des Kommunitarismus nicht auf den Bereich der oben an- gedeuteten Diskussion um das Werk von John Rawls beschränkt wird, hat gute Gründe: Ein- mal haben Autoren, die als wichtige Vertreter des Kommunitarismus gelten, schon vor der Diskussion um „A Theory of Justice“ in den 80er Jahren ihre heutigen Positionen vertreten, insbesondere die hier ausführlich behandelten Autoren Etzioni, MacIntyre und Taylor (M. Sandel gilt in diesem Zusammenhang als „Schüler“ von C. Taylor, vgl. Kallscheuer 1997, 128). Außerdem können „Kommunitarismus“ bzw. „Rational Choice“ als lediglich aktuelle Positionen einer bis an die Anfänge unserer Kultur reichenden intellektuellen Auseinanderset- zung angesehen werden. Schon in der Antike lassen sich einige „kommunitaristische Ideen“ bei Platon und Aristoteles finden1. Die das Mittelalter beherrschende Scholastik (z.B. katholi- sche Sozialrechtslehre von Thomas von Aquin) hat besonders in den Überlegungen von Alas- dair MacIntyre tiefe Spuren hinterlassen. In der Neuzeit haben vor allem der deutsche Idea- lismus und die Romantik kommunitaristische Positionen vertreten. Ende des letzten Jahrhun- derts war es Emile Durkheim, der mit seiner These der Nicht-Reduzierbarkeit gesellschaftli- cher Phänomene auf individuelle Handlungen die Linie weiterführte; ein halbes Jahrhundert später bekräftigte dies mit Nachdruck Talcott Parsons.
Bei Rational Choice handelt es sich um ein naturwissenschaftliches, individualistisches Ver- ständnis von Sozialwissenschaft, dessen Ursprung man üblicherweise in die Zeit der Aufklä- rung legt. Wenn man bis zu den alten Griechen zurück will, kann man bei Epikur beginnen und die Linie dann über Thomas Hobbes, John Locke, die schottische Moralphilosophie bis zur modernen Ökonomie bzw. dem methodologischen Individualismus weiterführen. Einfüh- rungen in Rational Choice sind so zahlreich, daß sich eine Auswahl hier erübrigt. Selbst wenn die vorliegende Arbeit keine Einführung in Rational Choice sein kann und will, so werden doch zentrale Konzepte innerhalb Rational Choice - wie soziale Produktionsfunktionen, spieltheoretische Grundlagen sozialer Situationen, soziales Kapital und die Problematik öf- fentlicher Güter sowie erweiterte akteurstheoretische Annahmen - (hoffentlich) so dargestellt, daß sie auch ohne große Vorkenntnisse verständlich werden und ein Zusammenhang zu kommunitaristischen Positionen hergestellt werden kann.
Will man die Fragestellung der vorliegenden Arbeit in einem Satz zusammenfassen, so könnte sie lauten: Können - noch genau zu definierende - moralische Handlungen nutzentheoretisch erfaßt und erklärt werden? Leider kann als Antwort auf diese Frage kein einfaches „ja“ oder „nein“ gegeben werden. Die hier vorgeschlagene Lösung besteht in der Annahme eines hinter „moralischen Handlungen“ stehenden, evolutionär erfolgreichen (und damit nützlichen) Ver- haltensprogrammes, wobei eingeräumt werden muß, daß nicht alle erdenklichen „moralischen Handlungen“ sprachlich sinnvoll für die betreffenden Akteure als nützlich angesehen werden können. Die Hauptaussage der vorliegenden Arbeit ist somit, daß aufgrund jenes angeborenen Verhaltensprogrammes (nicht aber eines Triebes, Motives, o.ä.) Menschen oder Akteure er- lernte Strukturen der sozialen Umwelt aus ihrer erlebten Vergangenheit mit sich führen, die ihre aktuellen Bewertungen und Erwartungen beeinflussen. In einer neuen oder veränderten sozialen Umwelt kann das zu Handlungen führen, die mit einem herkömmlichen ökonomi- schen Ansatz nur schwer zu erfassen sind.
Eine grundlegende Strategie der vorliegenden Arbeit ist es, Handlungstheorien nach folgendem Kriterium zu unterschieden: a) es werden synchrone, gegenwärtig beobachtbare Merkmale von Personen und Situationen berücksichtigt, wobei Kosten, Nutzen und Opportunitäten im Vordergrund stehen.
b) es werden diachrone, gegenwärtig nicht beobachtbare Merkmale von Personen und Situa- tionen berücksichtigt, wie die sie umgebende Kultur und durch sie bedingte typische Bio- graphien bzw. Sozialisationsprozesse.
Ausschließlich mit synchronen Merkmalen begnügen sich die neoklassische ökonomische Theorie mit ihren kontinuierlichen Weiterentwicklungen bis zum Konzept der sozialen Produktionsfunktionen sowie die dazu gehörigen Menschenbilder von Homo oeconomicus bis RREEM-Man und fast alle spieltheoretischen Modelle der Entscheidungstheorie. Ganz vorwiegend mit diachronen Merkmalen beschäftigen sich eher kollektivistische, konstruktivistische, geisteswissenschaftliche - aber natürlich auch die in dieser Arbeit im Zentrum stehenden kommunitaristischen Ansätze, die materielle Voraussetzungen menschlicher Existenz manchmal weit in den Hintergrund rücken. In der vorliegenden Arbeit stehen dafür beispielhaft die Theorien von A. MacIntyre und C. Taylor.
Die hier verfolgte Argumentation wird zu zeigen versuchen, daß Handlungstheorien, die sich mit synchronen oder diachronen Merkmalen der Situation begnügen, unvollständig bleiben und bei der Erklärung konkreter empirischer Phänomene Probleme bekommen. Die Vernach- lässigung von diachronen Merkmalen führt zu Problemen bei der Erklärung von kollektiven Identitäten und dem daraus resultierenden - noch genauer zu definierenden - moralischen Verhalten. Die Vernachlässigung von synchronen Merkmalen führt dagegen zu Problemen bei der Erklärung von sozialem Wandel aufgrund von Veränderungen der materiellen Gegeben- heiten durch z.B. Innovationen.
Handlungstheorien, die das Prinzip der Nutzenmaximierung mit dem Prinzip der rationalen Wahlhandlungen bzw. der Entscheidungstheorie unentwirrbar verknüpfen und neben syn- chronen auch diachrone Kriterien berücksichtigen wollen, tendieren bei der Rekonstruktion von empirischen Phänomenen manchmal zu konventionalistischen Wendungen (Popper 1982, 50) bzw. Immunisierung gegen Erfahrung (Albert 1967, 338) und werden angreifbar für den von vielen Kritikern erhobenen und so genannten Vorwurf der Tautologie. Zentral bei der in der vorl. Arbeit vorgestellten Konzeption ist die Tatsache, daß Präferenzänderungen bzw. Präferenzentstehung in der Regel nicht auf willentlich gesteuerten Entscheidungen beruhen. Deshalb wird für die Berücksichtigung von typisch ablaufenden Sozialisationsprozessen unter Hinzunahme eines Assoziationssprinzips plädiert, das sich unter dem Nutzenprinzip, aber gleichberechtigt neben dem Entscheidungsprinzip in eine soziologische Erklärung einfügt. Einseitigkeiten wie bei einer verhaltenstheoretischen Soziologie (z.B. Opp 1972), in der Men- schen nur Produkte ihrer Umwelt sind auf der einen Seite und einer rationalistisch überhöhten Entscheidungstheorie (z.B. Baurmann 1996, der von adaptiven Präferenzänderungen ausgeht, wobei man sich ab und zu entscheidet, sich nicht zu entscheiden) auf der anderen Seite sind dabei zu überwinden.
Bereits an dieser Stelle soll auf eine Besonderheit bei der Gliederung der vorl. Arbeit hinge- wiesen werden: Es werden synchrone Merkmale der Situation mit dem Problem der sozialen Ordnung (Kap. 2) einerseits und diachrone Merkmale der Situation mit Handlungstheorie in einem engeren Sinne (Kap. 3) andererseits verknüpft. Dieses Vorgehen bedarf einer kurzen Erläuterung: Viele Autoren (z.B. Baurmann 1996, Bellah et al. 1987, Etzioni 1995, 1997, Hummell 1991, Raub/Voss 1986) verknüpfen handlungstheoretische Fragestellungen mit dem Problem der sozialen Ordnung (ist Gesellschaft möglich unter der alleinigen Annahme ihren Eigennutzen maximierender Individuen?). Ein solches Vorgehen ist immer an die implizite Voraussetzung geknüpft, daß der Nutzen eines Individuums objektiv bestimmbar ist und zwar aus den Merkmalen der objektiv vorliegenden Situation, in die das Individuum gerade invol- viert ist (ohne Bezugnahme auf vergangene Situationen, in die das Individuum involviert war). Die subjektive Sichtweise des Akteurs darf hier nicht interessieren, da der betreffende Nutzen objektivierbar bleiben muß, um die Fragestellung nach dem Problem der sozialen Ordnung nicht ad absurdum zu führen. Es muß sich also um eine EU-Theorie handeln und nicht um eine SEU-Theorie (vgl. hierzu Kap. 4.4.). Diesem Umstand trage ich mit meiner besonderen Gliederung Rechnung, indem ich das Ordnungsproblem auf Kap. 2 (synchrone Aspekte der Situation) beschränke, was durchaus auch als Kritik an den oben genannten Au- toren aufzufassen ist. Daneben halte ich die Frage nach dem Problem der sozialen Ordnung nicht für zentral bei der Diskussion einer angemessenen Handlungstheorie. Weil ein Großteil sowohl der klassisch soziologischen (Durkheim, Parsons) als auch der kommunitaristischen
Literatur sowie einige zeitgenössische Vertreter der Nutzentheorie hier offensichtlich anderer Ansicht sind, wird es in Kap. 2 auch um das Ordnungsproblem gehen, aber eben nur dort.
Überblick über die gesamte Arbeit
In „Was ist Kommunitarismus?“ wird an einem anschaulichen Beispiel der zentrale Unter- schied einer kommunitaristischen oder kollektivistischen und einer individuell- nutzentheoretischen Sichtweise verdeutlicht. Es geht dabei um die Diskussion um Lohnfort- zahlung im Krankheitsfall, wobei gezeigt werden soll, daß gruppenspezifische Standpunkte zu dieser Streitfrage nur aus einer kommunitaristischen bzw. klassisch soziologischen Sichtweise einen Sinn ergeben. Die theoretischen Implikationen dieses Problems werden besonders in Abschnitt 2.3.2. über die Zusammenhänge von Normen, Sanktionen und Gruppengröße ver- tieft. In „Gehen Kommunitaristen von einer Handlungstheorie aus?“ geht es um die Frage, ob ein Vergleich zwischen Rational Choice und Kommunitarismus unter handlungstheoreti- schen Gesichtspunkten überhaupt gerechtfertigt ist. In drei Schritten soll diese Frage bejaht werden: Zuerst wird gezeigt, daß die zeitgenössische Verwendung des Begriffs „Handlungs- theorie“ die Bedeutung von „Verhaltenstheorie“ weitgehend mit einschließt. Anhand einiger - sowohl klassischer als auch jüngerer - Literaturbelege wird die Reduzierbarkeit von kollekti- vistischen Theorien auf individualistische Konzeptionen dargestellt, sowie eine große Über- einstimmung, daß - außer Luhmanns Systemtheorie - alle Paradigmen der Soziologie hand- lungstheoretisch zugänglich sind. In einem zweiten Schritt wird dargelegt, daß der Kommu- nitarismus im Grunde vom klassischen soziologischen Rollenmodell ausgeht und eben dieses Rollenmodell - sogar in mehreren Varianten - handlungstheoretisch gut aufbereitet ist. Ein drittes Argument, warum Kommunitaristen von einer Handlungstheorie ausgehen müssen, liegt in einer wissenschaftstheoretischen Überlegung begründet, die davon ausgeht, daß So- zialtechnologien, wie sie Kommunitaristen propagieren, immer auf einem allgemeinen Ge- setz, welches in diesem Fall ihre Handlungstheorie beinhaltet, aufbauen müssen. In „Norma- tive Tendenzen bei Rational Choice und beim Kommunitarismus“ werden Überlegungen an- gestellt, die sich gegen die unter methodologischen Individualisten verbreitete Annahme richten, kollektivistische Theorien seien „normativ“, ihr eigenes Vorgehen dagegen „wert- frei“. Anhand zweier Beispiele soll gezeigt werden, daß sich beide Paradigmen weniger be- züglich der Dimension der Wertfreiheit als vielmehr in der Dimension des zugrundeliegenden Menschenbildes unterscheiden, wobei kollektivistische Theorien sehr die Formbarkeit des Menschen betonen, individualistische Theorien dagegen diesen Aspekt völlig ausklammern.
Im ersten Teil von Kapitel 2 „Ist unsere Gesellschaft krank und Moral die Medizin ?“ wer- den zunächst die sozialtechnologisch ausgerichteten Beiträge der Kommunitaristen Robert Bellah et. al. und Amitai Etzioni vorgestellt. Das Problem der sozialen Ordnung nimmt dort einen zentralen Platz ein. Die Autoren liefern viele Ratschläge und Mahnungen, wie ein „funktionierendes“ Gemeinwesen erhalten bzw. wiedererlangt werden kann. Ihr Hauptanlie- gen ist dabei eine Bekräftigung moralischer Regeln und Grundsätze. Sie sind davon über- zeugt, daß Personen, die nur ihren Eigennutz maximieren, ein Gemeinwesen zugrunde richten und eine Sozialtheorie, die von diesen Voraussetzungen ausgeht, sowohl aus wissenschaftli- chen als auch aus ethischen Gründen abzulehnen ist. Schließlich werden einige Beispiele mo- ralischen Handelns, die Amitai Etzioni aufführt, genauer betrachtet und dabei festgestellt, daß nur ein Teil davon sinnvoll als „moralisch motiviert“ aufgefaßt werden kann. In „Was ist ei- gentlich Moral?“ wird eine Definition von „moralische Handlungen“ vorgeschlagen, die zwei Elemente enthält: einen Gruppenbezug und eine von externen Sanktionen unabhängige innere Verpflichtung der die Handlung ausführenden Person. Anschließend wird dafür plädiert, zwi- schen „Norm“ und „Moral“ einen entscheidenden Unterschied zu machen. Eine normgerechte Handlung soll danach lediglich in der Übereinstimmung des betreffenden Handelns mit der betreffenden Norm bestimmbar sein, bei einer moralischen Handlung muß dagegen eine inne- re Verpflichtung mit internen Sanktionen vorliegen und damit die subjektive Sichtweise des Akteurs erschlossen werden. In „Exkurs über Sprache“ wird die im vorigen Abschnitt vorge- stellte Definition von Moral zunächst durch einen allgemeinen sprachphilosophischen Kurzüberblick und anschließend durch Überlegungen insbesondere von John R. Searle unter- mauert. Es wird dargestellt, daß nicht nur der Inhalt des Begriffes „Moral“ eine Übereinkunft der betreffenden moralischen Gemeinschaft, sondern Sprache an sich eine regelgeleitete, kol- lektive Übereinkunft der Sprachgemeinschaft darstellt. Moral wird von Searle neben vielen anderen Begriffen als eine institutionelle Tatsache bezeichnet. In einer interessanten Auslas- sung über den naturalistischen Fehlschluß plädiert Searle für die Möglichkeit der Ableitung eines „Sollens“ aus einem „Sein“. Searles Argumentation wird von mir dennoch - und ganz im Sinne Searles - gegen den sprachphilosophisch begründeten moralischen Realismus Charles Taylors verwendet.
In „Die Antworten von Rational Choice auf das Problem der sozialen Ordnung“ werden im Rahmen von Rational Choice liegende Konzepte vorgestellt, die kooperatives bzw. normge- rechtes Handeln erklären sollen. (Fast) alle diese Theorien beziehen sich nur auf synchrone Aspekte der Situation, entsprechen damit Karl R. Poppers (1992, 123) Situationslogik und sind völlig unpsychologisch, indem sie die Motivation der Akteure nicht hinterfragen. Es kann gezeigt werden, daß unter bestimmten Umständen Kooperation spontan entsteht und warum rationale Menschen bestimmte Präferenzen (für Zwischengüter) ausbilden, die nur unter Zuhilfenahme konkreter gesellschaftlicher Umstände nutzentheoretisch zu begründen sind (soziale Produktionsfunktionen). Mit Hilfe dieser Konzepte kann ein großer Teil der von Kommunitaristen als „moralisch“ bezeichneten Handlungen erfaßt und die vorschnelle Ver- neinung der Frage nach der Möglichkeit einer sozialen Ordnung allein aus egoistischen Moti- ven zurückgewiesen werden. Auf der anderen Seite zeigt der Beitrag über die Logik des kol- lektiven Handelns auch die Grenzen einer Rational Choice Erklärung auf: Mancur Olson stellt fest, daß die Verfolgung von Gruppennormen beim Fehlen externer Anreize niemals indivi- duell rational begründet werden kann. Argumentationen, die dazu neigen, diese Feststellung zu relativieren (z.B. von Russell Hardin), werden zurückgewiesen. Der Beitrag von James Coleman, ein Recht als einen machtgestützten Konsens aufzufassen, nimmt eine mittlere Po- sition zwischen Hartmut Essers / Siegwart Lindenbergs sozialen Produktionsfunktionen und John Searles institutionellen Tatsachen ein und demonstriert somit die Affinität dieser drei vorgestellten Konzepte.
In Kapitel 3 geht es um Handlungstheorie im engeren Sinne. Im ersten Teil werden die kommunitaristischen Standpunkte der Autoren Etzioni, MacIntyre und Taylor vorgestellt und kommentiert. Die Ausführungen der Kommunitaristen in diesem Teil der Arbeit unterschei- den sich von denen im zweiten Kapitel in ihrem eher deskriptiven Charakter. Es werden Handlungsmotivationen dargestellt, die allein mit den synchronen Merkmalen einer Situati- onslogik nicht nachvollziehbar sind. Hier müssen persönliche Erfahrungen der betreffenden Akteure und damit diachrone Merkmale, die über die gegenwärtige Situation hinausreichen, mit berücksichtigt werden. Die etwas in Vergessenheit geratene Lerntheorie - die mit dem methodologischen Individualismus genauso harmoniert wie die Entscheidungstheorie - kann dies aber problemlos bewerkstelligen. Ich werde deshalb immer dort, wo es passend erscheint, den Ausführungen der Kommunitaristen eine lerntheoretische Erklärung anfügen. Hinter die- sem Vorgehen steht die These, daß „echte“ moralische Handlungen nicht entscheidungstheo- retisch, sondern nur lerntheoretisch erfaßt werden können. Im Anschluß an diesen Abschnitt wird in einem kurzen Exkurs auf den zunächst seltsam anmutenden Vorwurf von Kommunita- risten eingegangen, die individualistische Nutzentheorie würde dazu beitragen, gesellschaft- lich-moralische Ressourcen zu vernichten. Es wird dargestellt, warum dieser Vorwurf tat- sächlich nicht aus der Luft gegriffen ist.
Im zweiten Teil von Kapitel 3 wird geprüft, wie Vertreter der Nutzentheorie versuchen, das Phänomen moralischer bzw. offensichtlich nicht nutzenmaximierender Handlungen zu erklä- ren. Es werden die Konzepte von Michael Baurmann, Robert Frank, Gary Becker, James Coleman, Hartmut Esser und Viktor Vanberg vorgestellt und beurteilt. Dabei zeigt sich, daß Baurmann und Frank auf der Ebene einer EU-Erklärung (und damit auf der Erklärungsebene von Kapitel 2) verharren und moralisches Handeln nicht befriedigend erklären können, da sie durch die Nichtberücksichtigung der subjektiven Dimension moralischer Handlungen schon bei der Operationalisierung moralischer Handlungen scheitern. Sie „wechseln das Thema“, wie Charles Taylor (1994, 114) in solchen Fällen zu sagen pflegt. Becker und Coleman dage- gen verfehlen die Definition moralischen Handelns nicht. Sie gehen - was insbesondere im Fall von Gary Becker ausführlich dargestellt wird - faktisch von Präferenzänderungen durch Konditionierungprozesse aus, greifen also indirekt auf die Lerntheorie zurück, auch wenn besonders Becker dies weit von sich weist. Esser und Vanberg vertreten zwischen diesen bei- den Polen, also einer Beibehaltung einer objektiven Perspektive und der Annahme einer Prä- ferenzverschiebung, eine mittlere Position, wobei Vanberg die Notwendigkeit der Einbezie- hung der Lerntheorie in eine ökonomische Erklärung moralischen Verhaltens explizit ein- räumt.
In Kapitel 4 werde ich mit Hilfe der Lerntheorie versuchen, einen eigenen individualisti- schen Ansatz vorzustellen, der sowohl synchrone als auch diachrone Merkmale der Situation berücksichtigt. Hierzu wird zunächst George Homans Forschungsprogramm vorstellt, welches meinen eigenen Überlegungen sehr nahe kommt. Dort wird auch auf die Kritik, mit der Ra- tional Choice Vertreter (Lindenberg 1991) Homans Vorgehensweise zurückgewiesen haben, eingegangen. Danach wird in Grundlagen und Möglichkeiten der Lerntheorie eingeführt, um auf ihr enormes Potential für sozialwissenschaftliche Erklärungen hinzuweisen. Im dem an- schließenden Abschnitt mit dem Titel „Spieltheorie mit moralischen Spielern“ soll demon- striert werden, daß eine Einbeziehung der subjektiven Sichtweise von Akteuren spieltheoreti- sche Modellierungen nicht nur nicht behindert, sondern sogar neue Möglichkeiten eröffnet. In Abschnitt 4.4. wird ein „heißes Eisen“ angefaßt: es geht um den verbreiteten und sehr ernst zu nehmenden Vorwurf, Rational Choice Erklärungen würden auf eine Tautologie - wie die mei- sten Kritiker es nennen - hinauslaufen. Eine Differenzierung zwischen verschiedenen nut- zentheoretischen Erklärungen wird zeigen, daß der Einbezug der Lerntheorie in eine nut- zentheoretische Erklärung vor dem Tautologievorwurf schützen kann. In „Identität oder was nützt dem Pawlowschen Hund seine konditionierte Reaktion?“ geht es um den Zusammen- hang zwischen angeborenen Verhaltensprogrammen, die manchmal fehlerhaft arbeiten und der Entstehung sozialer Identität sowie den daraus resultierenden Präferenzverschiebungen. Desweiteren wird über die Auswirkungen der sozialen Struktur auf das vorherrschende Handlungsprinzip spekuliert, wobei ich die Hypothese aufstelle, daß Dichotomien bezüglich der Gesellschaftsform, wie sie von renommierten Autoren vorgeschlagen werden, jeweils dem handlungstheoretischen Prinzip der Lern- oder Entscheidungstheorie zugeordnet werden kön- nen. In „Rational Choice und Sozialisation“ wird der Standpunkt von Anwendern von Nut- zentheorien (beispielhaft Boudon/Bourricaud und Baurmann) zu lerntheoretischen Sozialisa- tionsannahmen untersucht. Ihre Begründung für ihr Vorgehen, Sozialisationsprozesse unbe- rücksichtigt zu lassen, wird zurückgewiesen. Desweiteren wird zum Vorwurf der handlungs- theoretischen Willkür und zum Vorwurf des Psychologismus gegen einen Einbezug lerntheo- retischer Erkenntnisse in eine nutzentheoretische, soziologische Erklärung Stellung genom- men. Es wird argumentiert, daß umgekehrt gerade die Lerntheorie in besonderem Maße ge- eignet ist, die vorliegenden gesellschaftlichen Strukturen in eine handlungstheoretische Erklä- rung einzubauen. Schließlich werde ich vorschlagen, das in der zeitgenössischen Rational Choice Theorie vorherrschende Menschenbild des RREEM-Man zu modifizieren, indem ich ein weiteres „M“, was für „malleable“ (leicht zu beeinflussen, formbar) steht, hinzufüge.
1. Kommunitarismus und Rational Choice als Gegensatzpaar
1.1 Was ist Kommunitarismus?
„Kommunitarismus“ ist zunächst einmal nur ein begriffliches Konstrukt, mit dem bestimmte, nicht immer homogene Ideen verschiedener Autoren verknüpft sind. „Kommunitaristisches Denken“ hat seit den achtziger Jahren zunehmenden Einfluß sowohl auf Intellektuelle als auch auf die politische Entscheidungsfindung2. Abstrakte fachwissenschaftliche Diskussio- nen, Artikel in Feuilletons und publikumswirksame Bestseller beschäftigen sich gleicherma- ßen mit diesem Thema. Worum geht es? Kommunitaristen wollen die in westlichen Gesell- schaften vorherrschenden philosophischen und politischen Anschauungen einer gründlichen Selbstreflektion und Kritik unterziehen. Die zentrale These des Kommunitarismus ist dabei, daß eine Gesellschaft aus atomisierten, voneinander isolierten und ihrem Eigeninteresse fol- genden Individuen ihre eigenen Grundlagen untergräbt und sich dabei selbst zugrunde richtet (Reese-Schäfer 1994, 7). Atomisiert und seine eigenen Interessen verfolgend: das ist - etwas überspitzt vielleicht - das herrschende Menschenbild der neoklassischen Ökonomie bzw. der Rational Choice Theorie in den Sozialwissenschaften. Es liegt auf der Hand, daß aus den ver- schiedenen Sichtweisen erhebliche Spannungen resultieren.
Karl-Otto Apel charakterisiert den Kommunitarismus als vor allem nordamerikanische Reak- tion und Korrektiv zur Tradition des Liberalismus, insbesondere seiner kritischen Erneuerung durch Rawls und als positive Rückbesinnung auf Gemeinschaftstraditionen republikanischer Partizipation und Selbstverwaltung, die bis auf die Gemeinden der Puritaner zurückgehen, wobei auch Affinitäten zu europäischen Geistestraditionen wie Alasdair McIntyres aristote- lisch-thomistische Tugendethik oder Michael Taylors Aneignung Hegels und seiner substan- tiellen Sittlichkeit bestehen (Apel 1993, 149). In der vorliegenden Arbeit ist die Perspektive, unter der Kommunitarismus betrachtet werden soll, weniger philosophisch-politisch wie z.B. bei Apel. Es geht vielmehr um den Aspekt soziologischer Handlungstheorie, wobei davon ausgegangen wird, daß Kommunitaristen methodologisch in der Tradition Emile Durkheims liegend den als klassisch bezeichneten soziologischen Ansatz verfolgen.
Als „Kommunitarier“ am häufigsten genannt werden Robert Bellah (1987, 1991), Amitai Et- zioni (1994, 1995, 1997), Alasdair MacIntyre (1987), Michael Sandel (1989), Charles Taylor (1988, 1994) und Michael Walzer (1983)3. Schon die genannten sechs Autoren unterscheiden sich bezüglich ihrer Herangehensweise, Ideen und Programme erheblich. Charles Taylor z.B. bezeichnet sich selbst nicht als Kommunitarier (Reese-Schäfer 1994, 45; Kallscheuer 1997, 128). Ihre Gemeinsamkeit liegt in der Ablehnung eines zunehmenden Individualismus in So- zialwissenschaft und Gesellschaft - und zwar sowohl in Form einer wissenschaftlichen Heuri- stik (methodologischer Individualismus, Rational Choice) als auch in Form einer ethischen Theorie (Utilitarismus). Sie lehnen dabei eine individuelle Nutzenmaximierung unterstellende Handlungstheorie als Erklärungsinstrument ab und fordern eine Sichtweise ein, die über be- stimmte soziale Situationen hinausgehend wirksame moralische Handlungsmotive zugrunde- legt. Man kann den Kommunitarismus deshalb - unter soziologischen Gesichtspunkten - als eine kollektivistische Position in der Tradition Emile Durkheims bezeichnen (Cladis 1992, Junge 1998, 95).
Zwei Gruppen von Kommunitaristen
Nicht nur aufgrund der Konzeption der vorliegenden Arbeit ist es sinnvoll, kommunitaristi- sche Ansätze grob in zwei Gruppen aufzuteilen4: Eine sozialtechnologisch argumentierende Gruppe, die mit einer kritischen, aber teilweise etwas oberflächlichen Betrachtung des Alltags in modernen westlichen Gesellschaften einhergeht, populärwissenschaftlich geschrieben und manchmal recht ungeniert mit einem normativen Anspruch auftretend. Hier ordne ich vor allem die Autorengruppe um Robert Bellah (Bellah et. al. 1987) und die späteren Veröffentli- chungen von Etzioni (1995, 1997) ein. Den genannten Autoren geht es vor allen Dingen um das gesellschaftliche Ordnungsproblem. Liberalismus, freie Märkte und das daraus resultie- rende egoistische Verhalten von Individuen führen nach ihrer Ansicht zu einem Zusammen- bruch der gesellschaftlichen Ordnung und Kultur. Sie treten deshalb durchaus normativ für eine Stärkung von moralischem Verhalten durch größere Investitionen in moralische Erzie- hung ein. Sie setzen dabei voraus, daß eine funktionierende Gesellschaft nicht aus nutzenma- ximierenden Akteuren bestehen kann. Diese Voraussetzung soll zumindest in Frage gestellt werden, indem moralisches Verhalten zunächst präziser definiert wird, um dann darauf hin- zuweisen, daß viele Handlungen - wenn auch nicht alle -, die Bellah und Etzioni moralisch motiviert nennen würden, es im Grunde gar nicht sind und recht einfach vor allem mit Hilfe der Spieltheorie und des Konzeptes der sozialen Produktionsfunktionen rein nutzentheoretisch erklärt werden können (vgl. Abschnitt 2.3.). In Kapitel 2 geht es deshalb um äußerliche ob- jektive, synchrone Determinanten der Situation, weil nur zur Erklärung „echten“ moralischen Verhaltens - das, wie wir sehen werden (Abschnitt 2.2.), sinnigerweise gewisse situations-unabhängige Handlungsmotive einschließen muß - diachrone Aspekte aus dem Leben der betreffenden Personen zu berücksichtigen sind.
Der zweiten Gruppe kommunitaristischer Autoren geht es um eine tiefergehende, anthropolo- gisch - philosophische Dimension der Debatte, was besonders bei A. MacIntyre (1987) und C. Taylor (1988, 1996) zum Ausdruck kommt. Diese Autoren - so könnte man sagen - versu- chen, die oben genannten kommunitaristischen Forderungen nach mehr Investitionen in eine moralische Erziehung durch eine Formulierung des darauf gründenden Menschenbildes (handlungs-)theoretisch zu begründen. Die normativen Forderungen von Bellah und Etzioni stellen eine naheliegende, wenn nicht gar konsequente Folge des Menschenbildes dar, das sich hinter den philosophischen Untersuchungen von MacIntyre und Taylor verbirgt. Der Mensch wird dabei als ein in seinen Interessen und Präferenzen formbares, soziales Wesen mit einem Bedürfnis nach Sinn und normativen Vorgaben angesehen.
Viele Kommunitaristen, aber auch andere Autoren, die die Kraft der Moral hoch schätzen (z.B. Hirsch 1980, 1995ff., Küng 1998, 35), gehen dabei so weit, eine internalisierte Moral als einen Ersatz für externe Sanktionen anzusehen. Dies ist gewagt, da die typischen sozialstrukturellen Bedingungen der Kleingruppe in großen Gesellschaften nicht vorliegen. Nur in Kleingruppen ist aber eine internalisierte Moral auch als individuell nützlich anzusehen (vgl. Anschnitt 2.3.2.), und es ist fraglich, ob eine Ver- haltensdisposition, die individuell nicht von Nutzen ist, sich auf Dauer behaupten kann. Die genannten Unterschiede zwischen kleinen und großen Gruppen scheinen allerdings auch die „Nutzentheoretiker“
M. Baurmann (1996) und R. Frank (1992) zu übersehen (vgl. Abschnitte 3.2.1. und 3.2.2.), wenn sie moralisches Verhalten generell als letztendlich individuell nützlich ansehen.
Diese weniger normativen, sondern eher deskriptiven kommunitaristischen Argumente sollen vorwiegend in Abschnitt 3.1. behandelt werden. Dabei geht es um diachrone und subjektive Determinanten der Situation, weil individuelle Präferenzen formende, zeitlich womöglich weit zurückliegende Sozialisationsprozesse berücksichtigt werden müssen. MacIntyre und Taylor sprechen freilich nicht von Sozialisationsprozessen, sondern von Tradition, Kultur und Identität. Um die Zusammenhänge zwischen Sozialisation und Konditionierungsprozessen auf der einen Seite und Tradition, Kultur und Identität auf der anderen Seite geht es in Kapitel 4.
Ein Beispiel für kommunitaristisches Denken
Die kommunitaristische Denkweise ist kollektivistisch. Als ein daraus resultierendes Prinzip könnte man die Maximierung des Nutzens der Gruppe bzw. des Kollektivs ableiten5. Im Ge- gensatz dazu geht eine individualistische Sichtweise von der Maximierung des Nutzens eines Individuums aus. Damit korrespondieren jeweils verschiedene handlungstheoretische Vor- stellungen. In diesem Abschnitt soll beispielhaft anhand einer kontroversen politischen Dis- kussion gezeigt werden, wie sich eine individualistische und eine kollektivistische Denkweise in ihren normativen Schlußfolgerungen unterscheiden: Die immer noch aktuelle politische Kontroverse zwischen Anhängern einer 100%igen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Befürwortern einer - wie im einzelnen auch immer geregelten - verminderten Lohnfortzah- lung.
In der alltäglichen, politischen Diskussion gewinnt man den Eindruck, daß es sich hierbei - vor allem durch Äußerungen von Gewerkschaftsvertretern bzw. des linken Flügels der SPD - um ein Relikt marxistischen Klassenkampfes handelt. In dieser Sichtweise stehen auf der ei- nen Seite die Gruppe der Arbeiter oder Arbeitnehmer mit ihren gewerkschaftlichen Interes- senvertretungen der Gruppe der Arbeitgeber oder den Kapitalisten und ihren Verbänden in einem typischen Interessengegensatz gegenüber. Die Interessen der Arbeitnehmer und die Interessen der Arbeitgeber scheinen klar definiert zu sein und unverrückbar fest zu stehen: Jede „Klasse“ will für sich aus dem Produktionsprozeß so hohe Erträge wie möglich schöp- fen. Diese Sichtweise setzt aber voraus, daß es innerhalb der Mitgliedern beider Gruppen hierzu keine Interessengegensätze gibt und es für jedes Mitglied deshalb rational ist, sich mit den Zielen seiner Gruppe zu identifizieren und für sie einzutreten. Von genau diesen Voraus- setzungen gehen Vertreter kommunitaristischer Ansätze implizit immer aus, wobei einzuräu- men ist, daß die ihnen vorschwebenden Gruppen üblicherweise nicht Klassen in Sinne von Marx sind, sondern (Kultur-)Nationen oder allgemein gesellschaftliche Vereinigungen, seien sie lokal nachbarschaftlich, religiös oder politisch motiviert6. Die „Güter“, um die es Kom- munitaristen geht, sind auch nicht Profit oder kurze Arbeitszeiten, sondern z.B. geringe Kri- minalitäts- und Scheidungsraten, politisches Engagement von Bürgern und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Es geht aber immer um Kollektivgüter (zum Begriff des Kollektivgutes vgl. Abschnitt 2.3.2.). Im unserem Beispiel ist das Kollektivgut „Lohnfortzahlung im Krankheits- fall“. Aus der Sicht von Arbeitgebern handelt es sich dabei vielleicht um ein öffentliches Un- gut. Man sieht hier deutlich das Problem, daß der Nutzen von Kollektivgütern oft strittig ist. Was für die einen ein öffentliches Gut ist, stellt für andere ein öffentliches Ungut dar.
Daß die genannte Voraussetzung der Interessenhomogenität bei Lohnfortzahlung im Krank- heitsfall nicht zutrifft, soll im folgenden verdeutlicht werden7. Nicht alle Arbeitnehmer sind gleich. Es gibt sehr leistungsfähige und leistungswillige Arbeitnehmer und solche, auf die dies eher weniger zutrifft. Weiterhin ist unumstritten, daß Krankheits- und insbesondere Schmerz- empfindung sehr subjektive Angelegenheiten sind und nicht immer objektiv beobachtbar und belegbar. Als dritter Punkt soll auf die geltenden gesetzlichen Regelungen der Sozialversiche- rungen hingewiesen werden, die vorsehen, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich jeweils zur Hälfte an den Kosten für die Krankenversicherung beteiligen. Innerhalb einer Abteilung einer Firma muß die Arbeit von Nicht-Anwesenden manchmal von den „Gesunden“ zusätzlich übernommen werden, was oft einen gewissen sozialen Druck auf die Abwesenden erzeugt, möglichst schnell an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Finanziell erleiden die Kollegen kranker Mitarbeiter jedoch keinerlei Einbußen, da die Solidargemeinschaft der Sozialversi- cherten eine sehr große Gruppe ist (vgl. Olson 1968 und Abschnitt 2.3.2.). Aus diesem Grund sind also keine Sanktionen für Fehlzeiten zu erwarten. Dies ist aber genau der Mechanismus, um den es hier gehen soll.
Das Trittbrettfahrerproblem innerhalb der Arbeitnehmerschaft
Die Annahme, daß durch Arbeitsausfälle in erster Linie der Unternehmer „geschädigt“ wird, kann angesichts paritätischer Kostenaufteilung in der Sozialversicherung nicht aufrechterhal- ten werden. Aus der Kombination der genannten Phänomene - a) unterschiedliche physische und charakterliche Eigenschaften von Personen, b) Krankheit (Schmerz) ist nicht objektiv beobachtbar, c) dem System der Sozialversicherung als latente Gruppe - ergibt sich zwangs- läufig bei der spieltheoretischen Modellierung dieser sozialen Situation unter den Arbeitneh- mern ein Trittbrettfahrerproblem bzw. Gefangenendilemma (vgl. Abschnitt 2.3.1.), wobei jeder dann die höchsten Auszahlungen erhält, wenn er selbst „krank feiert“ und die anderen arbeiten gehen und man andererseits am schlechtesten wegkommt, wenn man selbst arbeiten geht und die anderen krank feiern. Aufgrund dieser Konstellation entsteht - nach einer indivi- dualistischen Nutzentheorie - ein latenter Interessenkonflikt innerhalb der Gruppe der Arbeit- nehmer zwischen Personen, die selten krank sind und Personen, die häufig krank sind. Die Arbeitnehmer, die selten krank sind, entwickeln ein rationales Interesse an der Einführung einer verminderten Lohnfortzahlung in Kombination mit einer Senkung ihrer Beiträge zur Krankenversicherung, da sie sich damit besser stellen. Umgekehrt haben Personen, die oft krank sind, ein Interesse an einer vollen Lohnfortzahlung, da sie eine Änderung schlechter stellen würde. Bei 100%iger Lohnfortzahlung sind die typischen Gefangenendilemma- Bedingungen am ehesten erfüllt. Bei einer Verringerung der Lohnfortzahlung wird Defektion, also „krank feiern“, negativ sanktioniert und damit der Anreiz zum Trittbrettfahren vermin- dert. Es müßte deutlich geworden sein, daß eine kommunitaristische Position auf Arbeitneh- merseite eine volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vertritt und eine individualistische Po- sition hier differenziertere Ansichten hat. Eine individualistisch denkende Person wird für volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sein, wenn sie überdurchschnittlich oft krank ist und gegen volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, wenn sie unterdurchschnittlich oft krank ist. Für eine individualistisch denkende Person, die überdurchschnittlich oft krank ist, wäre es allerdings nicht besonders klug, ihre Motive offen zu legen. Sie wird sich stattdessen auf das doch ganz offensichtliche „Kollektivgut“ der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall berufen8.
Wie sieht es auf der Arbeitgeberseite aus? Aus einer marxistischen Perspektive haben die Unternehmer als Gruppe natürlich ein gemeinsames Ziel: die möglichst effektive Ausbeutung der Arbeiter. In der Realität muß hier differenziert werden, denn auch die Unternehmer haben nur bedingt gemeinsame Interessen, da sie miteinander in Wettbewerb stehen. So ist Fabrikant A durchaus an einer Produktivitätserhöhung seiner eigenen Firma interessiert, nicht jedoch bei einer Konkurrenzfirma. Das kommunitaristische Denken ist demnach ein (in vielen Bereichen in Deutschland noch vorherrschendes) Denken, das homogene Gruppeninteressen voraussetzt. Eine individualistische Theorie sieht dagegen viele einzelne rationale Akteure, die strategisch vorgehen und bestrebt sind, ihren individuellen Nutzen - abhängig von ihren individuellen Fähigkeiten und Vorlieben - zu maximieren.
Warum aber ist, wenn die oben angeführten Überlegungen zutreffen, die große Mehrheit der (deutschen) Arbeitnehmer gegen eine Verringerung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall? Das ist eine Frage, deren Beantwortung Rational Choice nicht gerade leicht fällt. Die Antwort einer kommunitaristischen Handlungstheorie würde lauten: Es existiert eine gewisse Identifi- kation von Arbeitnehmern mit einem „Geist der Arbeiterschaft“9. Die Frage, warum die große Mehrheit der Unternehmer für eine Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall votiert, ist für Rational Choice leichter zu beantworten. Die Unternehmer stehen nicht nur im Wett- bewerb mit inländischen Konkurrenten, sondern auch mit ausländischen Firmen. Wäre der Markt auf Deutschland begrenzt, würde sich eine Gesetzesänderung kaum auf den Gewinn eines Unternehmers auswirken. Hieraus kann die Hypothese abgeleitet werden, daß insbeson- dere Firmen, die sich mit ihren Produkten in weltweiter Konkurrenz befinden, auf eine Sen- kung der Lohnnebenkosten drängen. In diesem einleitenden Beispiel wurden bereits zwei Punkte angerissen, die in der vorliegenden Arbeit im Zentrum stehen: die These, daß das Handlungsmodell von Rational Choice nicht alle empirischen Phänomene „gleich gut“ erklä- ren kann und eine allgemeine Handlungstheorie deshalb sozialisationstheoretische Aspekte einbeziehen muß, sowie die Erkenntnis, daß die Größe bzw. die Grenzen der zu untersuchen- den Gruppen ganz entscheidende Faktoren bei der Analyse sozialwissenschaftlicher Problem- stellungen sind.
1.2. Gehen Kommunitaristen von einer Handlungstheorie aus?
Kommunitaristen, so könnte man sagen, grenzen sich doch bewußt vom methodologischen Individualismus ab und verfolgen deshalb auch keine individuelle Handlungstheorie. Träfe dieser Einwand zu, ginge schon die Fragestellung der vorliegenden Arbeit von falschen Voraussetzungen aus. Im folgenden soll deshalb erläutert werden, inwiefern auch Kommunitaristen von einer Handlungstheorie ausgehen.
Handlungstheorie und Verhaltenstheorie
Eigentlich müßte man hier zwischen Handlungs- und Verhaltenstheorie unterscheiden. Wenn Kommunitaristen vielleicht nicht von einem Handlungsmodell im Sinne einer Entscheidungs- theorie ausgehen, eine implizite Verhaltenstheorie verfolgen sie auf jeden Fall. Es hat sich aber offensichtlich eingebürgert, nur noch von „Handlungen“ und nicht mehr von „Verhalten“ zu sprechen, auch in Fällen, wo „Verhalten“ eigentlich besser passen würde, wie z.B. beim „Homo sociologicus“ (vgl. Esser 1993, 231f. oder der Titel des Sammelbandes, hrsg. von A. Balog und M. Gabriel 1998: „Soziologische Handlungstheorie: Einheit oder Vielfalt?“, wo es teilweise auch ganz explizit um Verhaltenstheorie geht). In den sechziger Jahren beinhaltete die individualistische Sozialwissenschaft - vor allem angeführt von George Homans - noch vorwiegend (lern-)psychologische Konzepte, in den folgenden Jahrzehnten gewann die nut- zen- bzw. entscheidungstheoretische Sichtweise von Handlungen die Oberhand (vgl. auch Abschnitt 4.1.). Damit wandelte sich der individualistische Ansatz langsam von einer Ver- haltens- zu einer Handlungstheorie. Diese Entwicklung ist m.E. vor allem auf drei Gründe zurückzuführen:
Die Einbeziehung der Spieltheorie ermöglichte es, viele verschiedene soziale Situationen erfolgversprechend zu modellieren. Die Voraussetzungen der Spieltheorie10: a) Menschen wählen immer zwischen (mindestens zwei) Alternativen (Entscheidungstheorie) und b) sie tun das stets eigennützig (Nutzentheorie) wurden - wie selbstverständlich - dabei gleich mit übernommen.
Die zunehmende Praxis von Ökonomen, in den „soziologischen Gärten“ erfolgreich zu wildern, z.B. der Nobelpreis für Gary Becker für die Untersuchung eines - bis dahin - genuin soziologischen Phänomens, gab der Anwendung der Nutzentheorie sicher auch bei vielen Soziologen Auftrieb11.
Der fallende Stern des Behaviorismus und das damit parallel ablaufende Aufsteigen der kognitivistischen Psychologie gab der Lerntheorie wohl den Rest. So richtig schien den Behaviorismus niemand gemocht zu haben: Die Übertragung der Tierexperimente von Burrhus F. Skinner mit Ratten und Tauben auf menschliches Handeln war vielen Humanisten schon immer ein Greuel. Man konzentrierte sich fortan auf die „black box“ und damit das „O“ in der erweiterten S-O-R- Kette. Nur das „R“ und vor allem das „S“ wurden dabei oft links (bzw. rechts) liegen gelassen.
Um die Dinge nicht unnötig zu komplizieren, wird im folgenden nur von „Handlungstheorie“ gesprochen, auch wenn manchmal „Verhaltenstheorie“ vielleicht angemessener wäre.
(Fast) alle verfolgen eine Handlungstheorie
Wie so oft besteht innerhalb der Soziologie keine Einigkeit darüber, was eine Handlungstheo- rie genau ist und welcher Stellenwert ihr zukommt (Balog 1998, 25). Individualistischen Theoriekonzeptionen steht der Begriff „Handlungstheorie“ prinzipiell besser, da sie explizit von Individuen als Grundlage ausgehen. Doch gibt es einige Untersuchungen, die nachweisen konnten, daß auch von ihrem Anspruch her nicht-individualistische Theorien implizit von individuellen Entscheidungsträgern ausgehen (klassisch: Homans 1964, Boudon 1980) bzw. sich in individualistische Begriffe übersetzen lassen (Hummel & Opp 1971). Lindenberg (1983) überführt Durkheim der impliziten Verwendung von psychologischen Theorien zur Erklärung sozialer Phänomene, wobei er generell bei der Verwendung nicht explizit gemach- ter Theorien von „Schattenmethodologie“ spricht (Lindenberg 1991, 36; 1996, 131). Nach Balog (1998, 30) führen z.B. auch der Gesellschaftsbegriff Simmels durch Simmels eigene Explikation als „seelische Wechselwirkungen zwischen Individuen“ oder Durkheims Um- schreibung sozialer Tatsachen als „gefestigte Arten des Handelns“ auf spezifische Hand- lungszusammenhänge zurück und sind somit als Handlungen auflösbar. In dem Versuch Talcott Parsons, der sich auch auf Durkheim bezieht, eine voluntaristische Handlungstheorie zu entwerfen, sieht Schmid (1998, 56) gar den Ausgangspunkt der aktuellen Theoriedebatte, wobei als besonderes Kennzeichen der Parsonsschule die Betonung der Normorientierung und Regelhaftigkeit des Handelns hervorgehoben werden kann.
Es gibt demnach keine besondere handlungstheoretische Soziologie. Die „Handlungstheorie“ ist kein spezifischer soziologischer Ansatz, der von anderen Ansätzen unterschieden werden könnte (Balog 1998, 48f.). Der Vorwurf, handlungstheoretische Ansätze würden soziale Strukturen zu wenig berücksichtigen, wird dabei zurückgewiesen: Was mit „Struktur“ be- zeichnet wird, kann als konstitutives Element von Handlungen identifiziert werden, das ihnen vorgegeben ist und ihren Ablauf beeinflußt und zwar durch individuelle Absichten und Glau- bensannahmen (Balog 1998, 49). Auch M. Schmid (1998, 78) ist der Ansicht, daß alle sozio- logischen Theorieangebote nur Teile eines übergreifenden, entscheidungstheoretischen Theo- riegebäudes behandeln und daß jedes individuelle Handeln als Wahlhandeln konzipiert wer- den kann, wobei der Akzent der theoretischen Überlegungen auch auf den Grenzen oder Vor- aussetzungen von Wahlhandlungen liegen kann.12 Ausschließlich Akteure seien Träger moti- vationaler Energie und ohne ihr Handeln könnten soziale Dynamiken weder in Gang kommen noch verändert werden (ebd. 80). Ein Zitat von M. Gabriel schließlich mag die Aussage dieses Abschnittes zusammenfassen und den Zusatz in der Überschrift erklären: „Der handlung- stheoretische Zugang zum Gegenstandsbereich der Soziologie kann aber außer im Werk von Luhmann in allen Paradigmen der Soziologie identifiziert werden“ (Gabriel 1998, 8).
Homo sociologicus
Was sind die von der sozialen Struktur abgeleiteten konstitutiven Elemente von Handlungen konkret? Eine ganz zentrale Denkfigur der Soziologie - und vielleicht sogar die, die Nicht- Soziologen am ehesten beim Thema „Soziologie“ einfallen würde - ist zweifellos die Rollentheorie mit dem dazugehörigen Menschenmodell des „Homo sociologicus“, berühmt und berüchtigt durch die gleichnamige Veröffentlichung von Ralf Dahrendorf 1977 (zuerst 1958). Hier werden ausgehend von dem Begriff der sozialen Rolle als einem Strukturmerkmal von Gesellschaften über spezifische Erwartungen der sozialen Umwelt individuelle Handlun- gen vorgezeichnet. Der homo sociologicus ist ein „Menschenmodell“, das wiederum ein Handlungsmodell beinhaltet. Die Rollentheorie kann insofern durchaus als Handlungstheorie bezeichnet werden: Man nimmt an, daß sich die Menschen an die Vorgaben der gesellschaft- lichen Institutionen halten: „Die Menschen handeln so, wie es die Normen von ihnen verlan- gen. Dazu bringen sie innere und äußere Sanktionen: ein schlechtes Gewissen oder Bestra- fungen bei abweichendem, ein gutes Gewissen und Belohnungen bei konformem Verhalten“
(Esser 1993, 231). Nach S. Lindenberg (1985) kann man das doch sehr allgemeine Konzept des homo sociologicus in zwei Varianten aufteilen und zwar:
Das SRSM-Modell: Socialized, Role-Playing, Sanctioned Man. Dieses Modell ist die Va- riante der normativen Rollentheorie, des Struktur-Funktionalismus und insbesondere des in den 60er Jahren in der Soziologie sehr einflußreichen Werkes von Talcott Parsons (1951). Es läßt sich auch gut auf Emile Durkheims Forschungsprogramm zurückführen13. Eine Selektion des Handelns findet praktisch nicht statt, es ist lediglich die automatische Ausführung von Rollenkonformität (Lindenberg 1985, 103f.). Insofern ist das SRSM- Modell eigentlich eher ein Verhaltensmodell als ein Handlungsmodell (s.o.). Auf die in Abschnitt 2.1. dargestellten Werke der Kommunitaristen Bellah et al. und Etzioni paßt der Begriff „normative Rollentheorie“ sehr gut, bei der Konzeption von Alasdair MacIntyre wird die Negierung des Wahlhandelns von Individuen in festgefügten Gemeinschaften be- sonders betont (vgl. Abschnitt 3.1.).
Das OSAM-Modell: Opinionated, Sensitive, Acting Man. Hier werden dem Akteur ge- wisse sein Handeln steuernde Einstellungen und Werthaltungen zugestanden, welche wie- derum durch Einflüsse seiner sozialen Umwelt entstanden sind. Das OSAM-Modell ist das implizite Modell der Variablensoziologie der empirischen Sozialforschung: Man nimmt dabei an, daß spezielle Kontext-Variablen wie Alter, Geschlecht oder berufliche Stellung spezifische handlungssteuernde Einstellungen zur Folge haben und hierüber so- ziale Regelmäßigkeiten erklären können (Lindenberg 1985, 104f.). Aufgrund eines sol- chen Modells geht oder ging man z.B. davon aus, daß Arbeiter die Forderungen von Ge- werkschaften unterstützen, die SPD wählen und für 100-prozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sind. Daß prinzipiell auch Kommunitaristen von den Annahmen des OSAM-Modells ausgehen und diese Annahmen oft unbegründet sind, sahen wir in Ab- schnitt 1.2.. Hartmut Esser (1993, 234f.) fügt einen dritten Homunculus hinzu:
Das SSSM-Modell: Symbols Interpreting, Situations Defining, Strategic Acting Man. Zwei theoretische Richtungen innerhalb der Soziologie gehen von diesem Menschenbild aus: der symbolische Interaktionismus und die Ethnomethodologie. In einer historischen Linie kann man den „Phänomenologen“ Edmund Husserl (1859-1938), den „Pragmati- sten“ John Dewey (1859-1952), den Sozialpsychologen George Herbert Mead und den Soziologen Alfred Schütz damit in Verbindung bringen. Das Modell geht davon aus, daß Menschen zunächst Situationen definieren, indem sie Symbole interpretieren, um an- schließend ihre Handlungen - auch: strategisch - darauf auszurichten. Die Interpretation der Symbole muß natürlich ihrerseits wieder auf gewissen Voraussetzungen innerhalb der Person aufbauen. Damit beschäftigt sich von den in der vorliegenden Arbeit vorgestellten Kommunitaristen am ausführlichsten Charles Taylor, der dieser Variante des Homo so- ciologicus somit am nächsten steht (vgl. Abschnitt 3.1.3.).
Wir haben gesehen, daß Kommunitaristen allgemein vom Handlungsmodell des homo sociologicus ausgehen. Dies zu zeigen war das vorrangige Ziel dieses Abschnittes. Darüber hinaus wurden einzelne Vertreter des Kommunitarismus einer etwas differenzierten Sichtweise des klassischen soziologischen Menschenbildes zugeordnet.
Allgemeines Gesetz und Technologie
Es gibt auch einen (wissenschafts-)theoretischen Hinweis darauf, daß Kommunitaristen von einer Handlungstheorie ausgehen: Kommunitaristen (besonders Bellah und Etzioni, vgl. Kap. 2.1.) scheuen nicht vor konkreten Vorschlägen zurück, wie z.B. Kriminalität und Scheidungs- raten gesenkt und allgemein gemeinschaftsschädigendes Verhalten wie Steuerhinterziehung und Versicherungsbetrug vermindert werden könnten. Derartige Ratschläge sind aber nichts anderes als Technologien zur Erlangung oder Erhaltung eines öffentlichen Gutes. Doch wenn Technologien (in Form von politischen Empfehlungen) propagiert werden, muß ein allgemei- nes Gesetz bekannt und bewährt sein. Dieses allgemeine Gesetz ist bei den Kommunitaristen ein handlungs- bzw. verhaltenstheoretisches Gesetz auf der Akteursebene.
Der hier unterstellte Zusammenhang soll im folgenden verdeutlicht werden (vgl. Esser 1977, Band 1, 101ff.). Eine Erklärung kann auch als eine Einordnung eines Rätsels in bereits be- kanntes Wissen umschrieben werden. Das Explanandum (singuläres Ereignis) wird dabei er- klärt durch ein Explanans, also ein allgemeines Gesetz (muß eine Funktion darstellen, die über das singuläre Ereignis herausragt) und die Randbedingung. Das Gesetz muß eine Kau- salbeziehung enthalten (wenn, dann / je, desto) und eine zeitliche Reihenfolge vorgeben. Bei der Anwendung von Gesetzen kann man zwischen Erklärung, Prognose, Experiment und Technologie unterscheiden. Die folgende Tabelle veranschaulicht die grundlegenden Zusam- menhänge:
Tabelle1: Zum Zusammenhang zwischen Technologien und allgemeinen Gesetzen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In der Spalte ganz rechts wird deutlich, daß beim Vorschlagen einer Technologie zur Verbes- serung der allgemeinen Wohlfahrt (das Ziel) ein bekanntes und bewährtes Gesetz vorhanden sein muß. Dieses Gesetz wird von Kommunitaristen kaum explizit genannt - vielleicht weil es ihnen so selbstverständlich vorkommt. Es könnte lauten: „Der Mensch ist formbar“ (d.h. er identifiziert sich in der Regel mit seiner sozialen Nahumwelt und übernimmt die von ihr ver- mittelten Werte und kollektiven Vorstellungen als seine eigenen. Er bildet ein Gewissen aus und eine Identität, die mit bestimmten Erwartungen und Bewertungen verknüpft ist). Die Kausalbeziehung des Gesetzes könnte folgendermaßen formuliert werden: „Je aufwendiger die Erziehung eines Individuums bzw. je intensiver die Einflüsse der sozialen Umwelt auf das Individuum, desto mehr wird es sich mit den Normen und Werten seiner Umwelt identifizie- ren.“ Die Randbedingung ist das, was mit Hilfe der Technologie verändert werden soll. Für Kommunitaristen ist das eine Erziehung, die die Werte der Gemeinschaft erfolgreich vermit- telt und internalisiert, die wir der Einfachheit halber mit „(zeit-)aufwendiger Erziehung“ gleichsetzen. Grob gesprochen bzw. zumindest der Tendenz nach sehen Kommunitaristen diese Randbedingung in modernen Gesellschaften immer weniger realisiert. Das Explanan- dum ist dann das (beabsichtigte) Verhalten der Individuen: sie handeln jetzt (wegen der er- folgreich veränderten Randbedingung einer aufwendigeren Erziehung) weniger egoistisch und gemeinschaftsschädigend als vorher.
Vertreter der Nutzen- bzw. Entscheidungstheorie gehen bei der Verfolgung des gleichen Zie- les (hier: Verbesserung der allgemeinen Wohlfahrt) von einem anderen allgemeinen Gesetz aus und sie kommen deshalb auch zu anderen Technologien. Ihr allgemeines Gesetz lautet: „Der Mensch maximiert stets (flexibel) seinen eigenen Nutzen“ und ihre Technologie ist es, die äußeren Restriktionen des Handelns zu verändern, z.B. durch Besteuerung von Waren und Dienstleistungen oder bessere Kontrollmechanismen. Darum geht es auch im folgenden Ka- pitel.
1.3. Normative Tendenzen und Befangenheiten bei Rational Choice und Kommunita- rismus
Kommunitaristen und andere Autoren, die sozialen Strukturen bzw. Kollektiven große Bedeutung beimessen, werden von methodologischen Individualisten manchmal als normative Theoretiker bezeichnet. Das mag oft gerechtfertigt sein (wie z.B. bei Bellah et al. 1987 und Etzioni 1995; 1997, vgl. Abschnitt 2.1.); es wird aber dabei, wie ich versuchen werde zu zeigen, meist übersehen, daß auch Rational Choice mit der grundlegenden Annahme der individuellen Nutzenmaximierung ein normatives Element besitzt.
Der Begriff „normativ“ wird vieldeutig verwendet. Hier geht es nicht um den Vorwurf, zweckrationa- les Verhalten setze eine besondere „Ethik des Utilitarismus“ voraus (vgl. Berger 1999, 319; Parsons 1951, 41ff.; Weber 1920, 33). Es geht auch nicht um die Auffassung, Rational Choice schreibe den Leuten vor, was sie tun müßten, um ihre Ziele am besten zu erreichen und sei deshalb normativ. Eine Sichtweise, wie sie offensichtlich Dennis Mueller und Jon Elster vertreten: „...rational actor models are always normative descriptions of what the actor ought to do to achieve the postulated objective" (Mueller 1992, 203, Hervorhebung im Original) und „The theory of rational choice is, before it is anything else, a normative theory. It tell us what we ought to do in order to achieve our aims as well as possible" (Elster 1986, 1). Dieses Verständnis von „normativ“ teile ich nicht und darum wird es im folgenden Abschnitt auch nicht gehen. Ein Beispiel soll zunächst verdeutlichen, worauf es hier an- kommt:
Erstes Beispiel: Rational Choice und Kriminalität
Wie erklärt Rational Choice abweichendes bzw. kriminelles Verhalten? Nach der SEU- Theorie oder auch WE-Theorie14 wägen Individuen die möglichen Folgen ihrer Handlungen ab und entscheiden sich für die Handlung, die ihren Nutzen maximiert. Wenn demnach eine kriminelle Handlung einen (subjektiv gesehen) großen persönlichen Nutzen verspricht, wird sie nach der SEU-Theorie ausgeführt. Wann aber verspricht eine kriminelle Handlung einen großen Nutzen? Wenn der mögliche Gewinn der Handlung hoch (z.B. viel Geld) und das Ri- siko, erwischt und bestraft zu werden, gering ist, also z.B. in der Region eine geringe Aufklä- rungsquote herrscht.
Anders sieht es freilich aus, wenn man psychische Kosten z.B. eines schlechten Gewissens in die Rechnung mit einbezieht. Hier soll dagegen von einer vollkommen unpsychologischen ökonomischen Handlungstheorie ausgegangen werden. Um psychische Kosten und den mit ihnen verwandten Präfe- renzänderungen, sowie den theoretischen Problemen, die sich daraus ergeben, geht es in den Kapiteln 3 und 4 der vorliegenden Arbeit.
Nehmen wir an, ein Vertreter von Rational Choice würde um Rat gefragt, wie man die Kriminalitätsrate in einer Gesellschaft wirksam verringern könnte. Aufgrund der oben ausgeführten Überlegungen wird er folgende Punkte vorschlagen15: a) den potentiellen (Brutto-)Gewinn16 aus kriminellen Handlungen zu verringern und b) die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, zu erhöhen und c) die angedrohte Strafe zu erhöhen.17
Insgesamt wird er also raten, mit Hilfe dieser Maßnahmen den (SEU-)Nutzen der kriminellen Handlung unter den Nutzen der nicht-kriminellen Handlung zu drücken und damit folgende Bedingung zu erfüllen: Der Nutzen aus nicht krimineller Handlung muß größer sein als der Nutzen aus der kriminellen Handlung verknüpft mit der Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden und verknüpft mit der Höhe der erwarteten Strafe.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen a) bis c) sind Gegenstand gesellschaftspolitischer Ausein- andersetzung und keineswegs wertneutral. Hinter ihnen stehen Ideale und Werte und übli- cherweise auch bestimmte politische Programme. Für die Maßnahme a), also den Gewinn aus kriminellen Handlungen zu verringern, plädieren erfahrungsgemäß politisch linke Gruppie- rungen. Hier kann man von der Idee sozialer Gerechtigkeit sprechen: die Gegensätze zwi- schen armer und reicher Bevölkerung sollten möglichst gering gehalten werden. Auch für eine ökonomische Theorie macht das bezüglich einer Verminderung der Kriminalitätsrate Sinn: Wo es keine großen Reichtümer gibt, halten sich die Gewinne (Anreize) aus kriminellen Handlungen in Grenzen. Auch Liberale könnten - aus einer ganz anderen Werthaltung - mo- tiviert durch die Idee der Freiheit und des Individualismus indirekt für Maßnahme a) plädie- ren, z.B. durch die Legalisierung des Handels mit Drogen oder mit sexuellen Dienstleistun- gen. Dabei wird die Profitrate (Anreize) kriminellen Handelns durch geringere Transaktions- kosten legaler Austauschbeziehungen und größeren Wettbewerb verringert. Für die Maßnah- men b) und c) stimmen dagegen eher politisch konservative, rechte Strömungen. Bezüglich der Einführung härterer Strafen wird besonders in den USA immer wieder für die Todesstrafe bzw. ihre Ausweitung plädiert oder auch für höhere Strafmaße schon bei Bagatelldelikten. Bezüglich der Erhöhung der Aufklärungsquote wird für ein größeres Polizeiaufgebot und bes- sere Ausrüstungen bzw. mehr Rechte für die Fahnder votiert. Der dahinter stehende Wert- maßstab ist typisch konservativ: „Ruhe und Ordnung“.
Somit scheint es zunächst, daß die von rational choice empfohlenen Maßnahmen unabhängig zu allen politischen Richtungen liegen und insofern die Ideologiefreiheit der Theorie unter Beweis gestellt sei. Das ist allerdings nicht der Fall. Ein nach einer Vielzahl von empirischen Untersuchungen nicht zu vernachlässigender Faktor der Kriminalitätsrate ist die in einem so- zialen Milieu vorherrschende moralische Erziehung bzw. Sozialisation18: für viele, vielleicht sogar für die Mehrheit der Individuen einer Gesellschaft sind kriminelle Handlungen mora- lisch verwerflich und damit entweder nicht frei wählbar, d.h. sie werden als realistische Handlungsoptionen erst gar nicht in Betracht gezogen oder aber die psychischen Kosten wä- ren so hoch, daß sie die Gewinne aus den kriminellen Handlungen überwiegen. Das liegt schlicht daran, daß die Individuen ein Gewissen ausgebildet haben, wodurch sie sich selbst die Ausführung von kriminellen Handlungen verbieten. Der Rat eines „Kommunitaristen“ wäre an dieser Stelle, mehr in die Erziehung zu investieren19, z.B. durch mehr Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbringen, besser ausgestattete Kindertagesstätten und Schulen. Ob diese „Methode“ der Verhaltenssteuerung mit dem Ziel, die Kriminalitätsrate zu vermindern, er- folgversprechend ist, interessiert hier nicht. Nur: Diese Möglichkeit von vornherein auszu- schließen, wie es Rational Choice aufgrund seines Handlungsmodells strenggenommen tun muß, kann nicht als unvoreingenommenes Vorgehen angesehen werden. Sozialisationseffekte sind für Rational Choice problematisch, weil Personen, die sich selbst in ihrer Handlungsfrei- heit beschränken, nur noch mit argumentativen Verrenkungen als nutzenmaximierend be- zeichnet werden können (vgl. Baurmann (1996) und Frank (1992) und in der vorl. Arbeit die Abschnitte 3.2.1. und 3.2.2.) und das Postulat einer reinen Entscheidungstheorie dadurch letztlich ins Wanken gerät (vgl. Baurmann 1996, 312ff.; Boudon & Bourricaud 1992, 513ff.; vgl. auch Abschnitt 4.6. der vorl. Arbeit).
Normative Theorie und Menschenbild
Es wurde vorgeschlagen, eine sozialwissenschaftliche Theorie dann „befangen“ zu nennen, wenn sie technologische Möglichkeiten, also Anwendungen von Mitteln, die auf die Errei- chung von bestimmten gesellschaftlichen Zielen ausgerichtet sind, ausschließt bzw. diskrimi- niert. Wie wir gesehen haben, trifft dies auf die einfache Nutzentheorie zu, da sie nur externe Anreize in ihr Blickfeld nimmt. Umgekehrt neigen die Kommunitaristen dazu, Knappheiten und Preise bei der Erklärung und Lenkung des Verhaltens zu vernachlässigen und die Bedeu- tung von Sozialisationseinflüssen zu überschätzen20. Warum ist das so? Es liegt an den grundlegenden Menschenbildern, auf denen die beiden Theorierichtungen aufbauen.
Innerhalb Rational Choice scheint sich S. Lindenbergs RREEM-Man-Modell (vgl. Esser 1993, 237ff., Lindenberg 1985, 100ff.) durchzusetzen. Die Abkürzungen stehen für resource- ful, restricted, evaluating, expecting und maximizing. Sie bedeuten, daß Menschen bestimmte Fähigkeiten - insbesondere ihren Ideenreichtum - besitzen, aber auch nicht allwissend sind und nur über beschränkte Intelligenz verfügen und den Restriktionen ihrer Umwelt ausgesetzt sind. Weiter wird davon ausgegangen, daß Menschen bestimmte Dinge und Ereignisse be- werten und ihr Eintreffen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit erwarten und schließlich stets ihren Nutzen maximieren. In diesem Menschenbild gibt es auf die Formbarkeit des Men- schen durch Sozialisationsprozesse keinen expliziten Hinweis (vgl. hierzu auch Kap. 4.6.). Kommunitaristen wie A. Etzioni, C. Taylor oder A. MacIntyre (vgl. Abschnitt 3.1.) sehen den Menschen dagegen als ein soziales, Sinn bedürfendes Wesen an, das von sich aus - ohne eine leitende soziale Umwelt - völlig überfordert wäre, bestimmte Ziele zu bewerten, geschweige denn zu verfolgen. Auch das Ziel, den Eigennutz zu verfolgen, wird als ein zu großen Teilen erlerntes Ziel aufgefaßt. Menschen könnten erst dann komplexere Bewertungen vornehmen, wenn sie eine Identität ausgebildet hätten, die sich jedoch nur über längere Zeiträume in Inter- aktionsbeziehungen zu ihrer sozialen Umwelt entwickeln könne.
Aufgrund dieser unterschiedlichen Menschenbilder überrascht es nicht, daß methodologische Individualisten externe Anreize bzw. Restriktionen als entscheidende Faktoren des Handelns ansehen, während sie Präferenzen als gegeben annehmen und Kommunitaristen die Bildung von Präferenzen - also der Bewertungen - für den zentralen Erklärungsmechanismus von Handlungen bzw. Verhalten halten. Wenn eine Theorie davon ausgeht, daß Menschen letzt- lich orientierungslose Geschöpfe sind, werden Vertreter dieser Theorie - wenn sie bestimmte Ziele verfolgen - natürlich auch davon ausgehen, daß ihre eigenen normativen Aussagen eine gewisse Wirkung auf das Handeln ihrer Zuhörer nicht verfehlen. Weil dies so ist, machen Kommunitaristen auch normative Aussagen. Mit anderen Worten: Wenn man davon ausgeht, daß Menschen sehr beeinflußbar sind, liegt auch der Versuch, sie zu beeinflussen, nahe. Um- gekehrt liegen die Verhältnisse bei Rational Choice: Wenn man davon ausgeht, daß die Men- schen selbst am besten wissen, was gut für sie ist und deswegen unempfänglich für normative Ratschläge sind, liegt es auch nahe, auf normative Ratschläge zu verzichten.
Das schließt allerdings nicht aus, daß die Popularisierung von Nutzentheorien wie Rational Choice Auswirkungen auf das Handeln der Menschen haben. Genau das befürchten nämlich Kommunitaristen, da sie annehmen, das von Rational Choice als normal angesehene individuell nutzenmaximierende Verhalten werde erlernt. In dem Exkurs in Kap. 3 „Was die Gegner der Nutzentheorie immer besonders ärgert“ wird erläutert, warum diese Befürchtung nicht unbegründet ist.
Es wäre demnach ein Fehlschluß, aus der moralisierenden Praxis der Kommunitaristen ein normatives Menschenbild abzuleiten. Das dem Kommunitarismus oder dem sogenannten „normativen Paradigma“ von Talcott Parsons zugrundeliegende Menschenbild ist nicht mehr oder weniger normativ als das Menschenbild von Rational Choice. Insofern sind - in diesem besonderen Sinne - sowohl Rational Choice als auch Kommunitarismus keine wertneutralen Theorien, da beide „auf einem Auge blind“ sind. Nur ist es in der Regel so, daß Rational Choice Vertreter - im Gegensatz zum Kommunitaristen - kaum gesellschaftspolitische Rat- schläge erteilen. Somit erscheint RC eher als eine wertneutrale Theorie, während die Kom- munitaristen mit der Verkündigung ihrer „Botschaft“ in die Nähe von theologischen Morali- sten rücken (z.B. Bellah et al. 1987: 123f, 320, 346, vgl. auch Abschnitt 2.1.1.). Das liegt aber, wie dieser Abschnitt darzulegen versuchte, allein am zugrundeliegenden Menschenbild.
Zweites Beispiel: Rational Choice und Strafrecht
Das Strafrecht unterscheidet bei der Festsetzung von Urteilen zu straffälligen Handlungen zwischen unterschiedlichen Handlungsmotivationen wie „Vorsatz“, „niedere Beweggründe“, „Affekt“ u.ä. Auch die Frage der Schuldfähigkeit wird bei der Urteilsfindung berücksichtigt. Eine einfache Nutzentheorie kann alle diese Unterscheidungen nicht nachvollziehen, da ja allen denkbaren Handlungen die gleiche Motivation - die der Nutzenmaximierung - zugrunde liegt. Auch die übliche Berücksichtigung der Kindheit und Lebensumstände des Angeklagten ist für eine Theorie, die Sozialisationsprozesse als nicht relevant betrachtet, nicht nachvoll- ziehbar. Rational Choice kann die Frage der Schuldfähigkeit nicht berücksichtigen, denn jedes Individuum ist für sich selbst und seine Handlungen voll verantwortlich.
Birger P. Priddat (1998, 7ff.) sieht in der Voraussetzung der Verantwortlichkeit des Handelns das normative Element bei Rational Choice: „Es geht nicht darum, wie sich die Akteure tatsächlich ver- halten haben, sondern um den Umstand, daß sie, gleichgültig, wie sie sich verhalten haben, ihre eige- ne Entscheidung vor sich selbst als endgültig und irreversibel zu verantworten haben“ (ebd. 7). Diese moralische Konstruktion unterstelle den Individuen, daß sie stets wüßten, was sie tun und deshalb verantwortlich sein könnten (ebd. 8). Mit der Verantwortung für die Vernünftigkeit ihrer eigenen Ent- scheidung übernähmen die Akteure eine zugeschriebene Verpflichtung und eine Verpflichtung bein- halte ein moralisches Sollen (ebd. 9). Priddat sieht hier einen Zusammenhang mit der Kulturmaxime der protestantischen Ethik, daß ein jeder sein persönliches Schicksal nüchtern zu meistern habe.
Diese Überlegungen sind nicht von der Hand zu weisen: Sobald Akteure eine vorgeschriebene Rolle übernehmen, sich regelorientiert verhalten oder im Auftrag anderer handeln, treten sie die Verantwortung für ihre Handlungen zumindest teilweise ab. Genau diese Fälle sind es, die Rational Choice immer wieder in Erklärungsnotstände bringen. Ohne „Zusätze“ wie die „Prinzipal-Agent-Beziehung“ (Coleman 1991, 186-224) oder das Habit-Handeln nach einem vorgeschriebenen oder erwarteten Script („ap-Modus“, vgl. Esser 1996 und Abschnitt 3.2.5. der vorl. Arbeit) könnte die Nutzentheorie derartige Phänomene nicht integrieren. Um es noch einmal an einem drastischen Beispiel zu veranschaulichen: Die einfache Nutzentheorie kann keinen Unterschied machen zwischen einem Bankräuber, der einen Angestellten erschießt und einem Polizisten, der einen Bankräuber erschießt, denn beide maximieren ihren Nutzen. Der Rollenbegriff mit seiner Delegation von Verantwortung kann in eine einfache Nutzentheorie nicht integriert werden.
Rational Choice tut sich schwer, zwischen Beweggründen zu unterscheiden, denn der Beweg- grund ist ja bei allen Handlungen der gleiche: die Maximierung des Eigennutzes. Deshalb müßten nach Rational Choice eigentlich auf gleiche Handlungen immer gleiche Strafen fol- gen, unabhängig von Vorsatz oder Affekt. Einem rationalen Akteur ist natürlich bekannt, daß es strafmindernde Faktoren wie Handeln im Affekt oder Handeln unter Drogen gibt, und er wird schon vor seiner Tat alles so planen, daß er im Falle einer Festnahme auf diese Faktoren zurückgreifen kann, um sein Strafmaß zu verringern. Das liegt natürlich nicht in Interesse des Gesetzgebers, weil es der Idee der verminderten Schuldfähigkeit widerspricht. Auch hier wird deutlich, welch entscheidenden Einfluß das Menschenbild auf die Rechtsprechung hat: Ist der Mensch ein willensschwaches, beeinflußbares, formbares und emotional handelndes Wesen oder ist er ein rational denkender, selbstbewußter und selbstbeherrschter Akteur, der seine Emotionen bzw. kurzfristigen Begehrlichkeiten im Griff hat?
Fazit
Eine soziologische Handlungstheorie, die lerntheoretische Erkenntnisse nicht explizit einbe- zieht, kann nicht erkennen, daß die Inhalte von Schulbüchern einen enormen Einfluß auf ge- samtgesellschaftliche Zustände haben. Sie wird die Folgen organisierter, religiöser Indoktri- nation von Kindern ebenso unterschätzen wie die Möglichkeiten einer gezielten Manipulation der öffentlichen Meinung. Eine soziologische Handlungstheorie, die die Findigkeit und den Opportunismus der Menschen unberücksichtigt läßt, unterschätzt die Bedeutung von externen Anreizen, sei es über Marktpreise, Steuern oder einen gut organisierten Rechtsstaat mit einer hohen Aufklärungsquote ungesetzlicher Handlungen. Besonders in einer zunehmend globali- sierten Welt mit korporativen Akteuren (Coleman 1992, 271ff.) scheinen externe Anreize immer wichtiger zu werden, da für korporative Akteure die Gesetze der Lerntheorie nicht gelten.
2. Das Problem der sozialen Ordnung: synchrone, objektive Merkmale der Situation Für Kommunitaristen - exemplarisch in diesem Kapitel R. Bellah et al. und A. Etzioni - ist eine funktionierende gesellschaftliche Ordnung allein aufgrund der Annahme ihren Eigennut- zen maximierender Individuen nicht möglich. Diese Frage des Problems der sozialen Ord- nung wird spätestens seit Thomas Hobbes „Leviathan“ kontrovers diskutiert. Hobbes selbst, die schottischen Moralphilosophen und die Utilitaristen halten gesellschaftliche Ordnung mit Akteuren, die allein eigennützige Motive verfolgen, für möglich. Vertreter einer geisteswis- senschaftlichen, romantischen Tradition halten dies nicht für möglich. Émile Durkheim hatte die Absicht, den Utilitarismus mit dem Hinweis auf die „nicht-vertraglichen Grundlagen des Vertrages“ zu widerlegen und einige Jahrzehnte später „bewies“ Talcott Parsons die Unvoll- ständigkeit eines utilitaristischen Gesellschaftsmodells erneut. Heute sind es, neben klassi- schen Soziologen in der Tradition von Durkheim oder Parsons, oft Kommunitaristen, die die Ansicht vertreten, daß es „ohne Moral nicht geht“. Doch die Lage ist unübersichtlicher als es scheint, denn auch nutzentheoretisch argumentierende Vertreter individualistischer Ansätze, wie M. Baurmann (1996, vgl. Abschnitt 3.2.1. der vorl. Arbeit), H. Kliemt (1991;1993) oder H. J. Hummel (1988) gehen davon aus, daß der streng nutzenmaximierende Homo oeconomicus zur Lösung des gesellschaftlichen Ordnungsproblems durch eine etwas sozialere Variante ersetzt werden muß.
Ich halte die Frage nach dem Ordnungsproblem für unentscheidbar und insofern nicht zentral für die Fragestellung nach einem „wahren“ Menschenbild bzw. einer sozialwissenschaftlich angemessenen Handlungstheorie. Die von mir im zweiten Teil dieses Abschnittes dargestellten Ideen und Argumente sollen lediglich andeuten, daß das Ordnungsproblem für eine individualistisch-nutzenmaximierende Handlungstheorie nicht von vornherein unlösbar ist. Der Homo oeconomicus hat ohne Zweifel seine Schwächen, die Problematik des gesellschaftlichen Ordnungsproblems halte ich jedoch nicht für das geeignete Schlachtfeld der Auseinandersetzungen um ein handlungstheoretisches Menschenbild. In diesem Kapitel geht es hauptsächlich deswegen (auch) um das Problem der sozialen Ordnung, weil sich die Analyse hier auf vorwiegend objektive und synchrone Merkmale der Situation beschränken soll und damit eine EU-Theorie (im Gegensatz zu einer SEU-Theorie, vgl. Abschnitt 4.4.) im Vorder- grund steht, die die subjektive Sichtweise der Akteure bzw. ihre Motivation im großen und ganzen nicht berücksichtigt. Der Zusammenhang des Problems der sozialen Ordnung mit einer EU- Handlungs-theorie liegt darin, daß das Problem der sozialen Ordnung nur formulierbar ist, wenn man von einer Divergenz von individuellem Nutzen und kollektivem Nutzen einer individuellen Handlung ausgeht. Bei einem Zusammenfallen von individuellem und kollektivem Nutzen, wie es Identifikati- onsprozesse, die nach dem Prinzip der Konditionierung ablaufen, zur Folge haben können, ist von subjektiv anderen - nämlich dem Kollektiv dienenden - individuellen Bewertungen bzw. Präferenzen auszugehen (SEU-Theorie), womit sich das Problem der sozialen Ordnung von selbst auflöst. Identifi- kationssprozesse benötigen zu ihrer Ausbildung jedoch gewisse Zeiträume und sind deshalb diachrone Merkmale der Situation, die in Kapitel 3 und 4 behandelt werden.
Diese analytische Trennung von synchronen und diachronen Merkmalen der Situation und die Verkoppelung von synchronen Merkmalen der Situation mit dem Problem der sozialen Ordnung und von diachronen Merkmalen der Situation mit (psychologischen) Präferenzbildungsprozessen ist natürlich nur ein heuristischer Vorschlag. Insofern wundert es auch nicht, wenn die in den folgenden beiden Kapiteln vorgestellten Konzepte verschiedenster Autoren nicht genau mit dieser Unterscheidung übereinstimmen. Die Überschriften der jeweiligen Kapitel sind also nur als grobes Orientierungsschema zu verstehen.
2.1. Ist unsere Gesellschaft krank und Moral die Medizin? R. Bellah und A. Etzioni klagen an
R. Bellah et al. und A. Etzioni gehen bei ihren im folgenden Abschnitt vorgestellten Arbeiten davon aus, daß Gesellschaften unter eigennützigem Verhalten ihrer Mitglieder leiden und treten deshalb für eine Schärfung des moralischen Bewußtseins ein, das die Verantwortung für das Gemeinwohl stärken soll. Sie unterbreiten vor dem Hintergrund eines sehr formbaren Menschenbildes sozialtechnologische Vorschläge, wie dies geschehen kann - immer unter der Voraussetzung, daß das Problem der sozialen Ordnung rein nutzentheoretisch nicht lösbar ist. Aus diesem Grund erscheint ihre Argumentation oft normativ. Es soll gezeigt werden, daß für viele - wenn auch nicht alle - von ihnen beschriebenen Situationen die Annahme moralischen (uneigennützigen) Verhaltens nicht notwendig ist und allein unter Aspekten synchroner Si- tuationsmerkmale eine plausible Lösung gefunden werden kann (Abschnitt 2.1.3.). Natürlich gehen Bellah et al. und Etzioni hier von der gleichen „Handlungstheorie“ aus, die in Abschnitt 3.1. ausführlich vorgestellt wird und damit auch immer von diachronen Aspekten der Situati- on. Sie legen in den folgenden Beiträgen den Fokus jedoch auf sozialtechnologische Vor- schläge, weshalb sie hier in Kap. 2 (Ordnungsproblem und synchrone Aspekte der Situation) und nicht in Kap. 3 (Handlungstheorie und diachrone Aspekte) behandelt werden. Bei ihrem Vorgehen setzen Bellah et al. und der „späte Etzioni“ die in Kap. 3 ausführlicher erläuterte Handlungstheorie implizit voraus und verallgemeinern damit das nicht an Konsequenzen und äußeren Anreizen orientierte Handlungsprinzip auf alle Lebensbereiche. Dieses Vorgehen soll durch die anschließende Vorstellung von neueren Rational Choice Konzepten (Abschnitt 2.3.) zumindest in Frage gestellt werden.
2.1.1. Über die Gewohnheiten unserer Herzen
Der Titel „Habits of the Heart“ von Robert Bellah et al.21 ist eine Wendung aus Alexis de Tocquevilles (1969, 287) Schrift „Über die Demokratie in Amerika“; ein Werk, in dem der Franzose in den 1830er Jahren aufgrund von Beobachtung und Gesprächen die Sitten und Gebräuche der Amerikaner vorstellte (Bellah et al. 1987, 16). Das an „Habits of the Heart“ anschließende Buch „The Good society“ von Bellah et al. (1991) dreht sich weniger um „Kultur und Charakter“ als um die „institutionelle Infrastruktur“ (Müller 1992, 373) und liegt somit jenseits der Fragestellung der vorliegenden Arbeit. Doch auch von „Habits of the Heart“ kann und will die folgende Darstellung keine ausgewogene Zusammenfassung sein, sondern stattdessen den dort vertretenen normativen Anspruch pointieren, der auf der An- nahme gründet, das Problem der sozialen Ordnung sei ohne „moralisches Handeln“ unlösbar.
Die Untersuchung
Familienleben, Religion und Teilnahme an lokaler Politik stehen - so Toqueville - im Mittel- punkt der amerikanischen „mores“. Schon damals warnte der Europäer vor den schädlichen Folgen eines besonderen Aspektes des amerikanischen Charakters: dem Hang zum Individua- lismus (Bellah et al. 1987, 16). Das Projekt von Bellah et al. stellt gewissermaßen eine Repli- kation der Untersuchung von Toqueville dar: Die Autoren wollten prüfen, ob auch im Ame- rika des ausgehenden 20. Jahrhunderts die oben genannten Sitten und Bräuche noch Geltung besitzen oder ob der „Individualismus bereits krebsartig gewachsen“ sei und die „sozialen Zwischenräume“ zerstört habe (ebd.). Mit Fragen wie: „Wie sollen wir leben? Wer sind wir als Amerikaner?“ (ebd. 15) an weiße Mittelschichtangehörige22 sollte die Substanz der ame- rikanischen Kultur bzw. Identität eruiert werden. In vier Forschungsprojekten 1979-1984 wurden ca. 200 Personen zu Themen wie Liebe und Ehe, Therapie, Mitwirkung in Kommu- nalpolitik und anderen Vereinigungen in Tiefeninterviews befragt. Das Ergebnis der Studie aufgrund der Selbsteinschätzungen der Interviewten ist, grob vereinfacht, daß zeitgenössische Amerikaner keine kalten Nutzenmaximierer sind, sondern liebenswerte Menschen, die gerne in idyllischen Kleinstädten leben, ihrer Privatreligion anhängen, von der romantischen Liebe träumen und in einem kleinen Kreis der Freunde und Familie ein schönes Leben genießen möchten (Reese-Schäfer 1994, 77).
Individualismus, Tradition und Religion
Nach Bellah und seinem Team hat „die Idee des ontologischen Individualismus“ bzw. „die Kultur der Vereinzelung“ in unseren Tagen einen Höhepunkt erreicht (Bellah et al. 1987, 314f.). Aus ihrer ablehnenden Haltung gegenüber diesen Tendenzen machen die Autoren kei- nen Hehl. Sie beklagen auf intellektuellem Gebiet eine zunehmende Fragmentierung der Wis- senschaften und im Bereich der „Volkskultur“ die Programme bzw. Inhalte der Massenmedi- en, insbesondere des Fernsehens, die „alle qualitativen Unterschiede verwischen“ sowie das Konsumverhalten der Zuschauer. Auf der anderen Seite stellen Bellah et al. eine ungebroche- ne Wirksamkeit der Traditionen, insbesondere von biblischen und republikanischen Traditio- nen fest, die von Familien, Kirchen, kulturellen Vereinigungen und manchmal auch von Schulen und Universitäten vermittelt werden (ebd. 319). Institutionen, die dies leisten, nennen Bellah et al. „Erinnerungsgemeinschaften“, in denen Zeit nicht als ein Fluß bedeutungsloser Sensationen erfahren wird, sondern Tage, Wochen und Jahre von einem regelmäßigen Wech- sel bestimmter Ereignisse strukturiert werden. „Gebete unterbrechen unser alltägliches Leben zu Beginn einer Mahlzeit, am Ende eines Tages oder im gemeinsamen Gottesdienst und erin- nern uns daran, daß unser zweckrationales Handeln nicht alles im Leben ist, daß wir in einem erfüllten Leben zuerst an Gott und unseren Nächsten denken. Viele religiöse Traditionen er- kennen die Bedeutung des Schweigens als Unterbrechung der unaufhörlichen Reizüberflutung und öffnen unsere Herzen für die Ganzheit des menschlichen Seins“ (ebd. 320). Aber auch nicht-religiöse Traditionen haben ihre eigene Zeitstruktur, wie Gedenktage an z.B. nationale Ereignisse bzw. Helden. Diese Feiertage gelten für alle Mitglieder der Population „Amerika- ner“ im Falle republikanischer Traditionen oder „Christen“ im Falle religiöser Traditionen oder beides. Für Bellah sind diese Traditionen sinnstiftend, weil sie Geschichte und Handeln in einen langfristigen Zusammenhang bringen (ebd. 321).
Derartige Gedenktage erleichtern eine Identifikation mit der Gruppe (hier: der Nation, vgl. Abschnitt 4.5.) und bewirken damit eine Entschärfung des Trittbrettfahrerproblems (vgl. Abschnitt 2.3.2.) bei der Schaffung und Erhaltung von sozialem Kapital (vgl. Abschnitt 2.3.3.). Identifikationsprozesse laufen nach dem gleichen Muster ab wie Konditionierungsprozesse (vgl. Abschnitt 4.2.). Wiederkehrende Feiertage und Feste werden mit als angenehm empfundenen Ereignissen wie Freizeit und Geselligkeit assoziiert und damit die betreffende Gruppe mit einer emotional positiven Grundstimmung verknüpft.
Soziale Ökologie, soziale Gerechtigkeit und Arbeitswelt
„Soziale Ökologie“ oder „Moralische Ökologie“ nennen Bellah et al. das Netz sozialer Bin- dungen, das Gemeinschaften zusammenhält (ebd. 370). In einer Analogie stellen Bellah et al. natürliche Ökologie und soziale Ökologie gegenüber (ebd. 322): So wie die Errungenschaften der modernen Technologie verheerende Folgen auf die natürliche Ökologie hatten, so hatte die Moderne „vergleichbare destruktive Folgen für die soziale Ökologie“.
[...]
1 So z.B. der Begriff des „zoon politikon“ bei Aristoteles: der Mensch als ein soziales, sich in der Gemeinschaft handelnd entfaltendes Wesen.
2 Viele Politiker - quer durch die Parteienlandschaft - bekennen sich zu kommunitaristischen Ideen und Idealen, z.B. Tony Blair, Joschka Fischer, Kurt Biedenkopf (vgl. Etzioni 1995, IX).
3 Unter der perspektivischen Vorgabe der vorliegenden Arbeit werden die Autoren Sandel und Walzer, die sich vornehmlich mit politischen, gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen beschäftigen, kaum erwähnt.
4 Auch Rosa (1998, 203f.) unterscheidet zwei Gruppen von Kommunitaristen: a) eine „schwächere“ Variante, zu der er R. Putnam, F. Fukujama und A. Etzioni zählt und b) eine „stärkere“ Variante, die er mit A. MacIntyre, C. Taylor, M. Sandel und R. Bellah verbindet. Die in der vorl. Arbeit vertretene Unterscheidung weicht demnach teilweise davon ab. Mir geht es bei der Unterteilung von Kommunitaristen nicht um „stark“ vs. „schwach“, son- dern um das Übergewicht sozialtechnologisch/normativer vs. handlungstheoretisch/anthropologischer Argu- mente.
5 Vgl. Coleman 1992, 271f. Kommunitaristen selbst würden das vielleicht nicht so ausdrücken.
6 Das war wohl auch ein Fehler von Karl Marx: Er unterschätzte die gemeinschaftsbildende Kraft kultureller Tradition und überschätzte die Bedeutung der Solidarität, die allein gemeinsamer, wirtschaftlicher Not ent- springt.
7 Ich wurde darauf hingewiesen, daß meine Darstellung nicht genau mit geltenden gesetzlichen Bestimmungen übereinstimmt. Ich bitte, darüber hinwegzusehen. Es geht mir in erster Linie ums Prinzip.
8 Das heißt selbstverständlich nicht, daß alle überzeugten Gewerkschafter Leistungsverweiger sind. Es handelt sich nur um theoretische Ableitungen aus einem spieltheoretischen Modell, das eigennütziges Denken unterstellt.
9 Das ist es wohl auch, was Karl Marx meinte, als er auf den Unterschied der „Klasse an sich“ und der „Klasse für sich“ hinwies.
10 Für eine Einführung in die Spieltheorie vgl. Rasmusen 1989
11 vgl. hierzu die in jüngerer Zeit erschienenen Sammelbände von Pies & Leschke (1998) und Ramb & Tietzel (1993)
12 Um die Frage, ob es sinnvoll und gewinnbringend ist, jegliches Verhalten entscheidungstheoretisch zu erfassen, geht es in Kap. 4.
13 Vgl. „Die Regeln der soziologischen Methode“ (Durkheim 1976, zuerst 1895)
14 Subjective Expected Utility- bzw. Wert-Erwartungs-Theorie, vgl. Esser 1999, 247ff. Wir wollen hier noch nicht zwischen EU-Theorien und SEU-Theorien differenzieren (vgl. hierzu Abschnitt 4.4.)
15 Die hier vorgestellten „Maßnahmen“ stimmen im großen und ganzen mit den von Gary Becker (1982b 1968) vorgestellten Überlegungen überein. Becker wiederum beruft sich auf den klassischen Utilitaristen Jeremy Bent- ham. Daß sich an dieser grundlegenden Sichtweise von Ökonomen bezüglich Kriminalität auch nach weiteren 30 Jahren im Prinzip nichts geändert hat, zeigt die Arbeit von A. Lippert (1997): „Verbrechen und Strafe“. Für Gary Becker selbst trifft das nicht zu, denn er hat seine Theorie weiterentwickelt (vgl. Kap. 3.2.4.).
16 Bruttogewinn deshalb, weil die Punkte b) und c) auch den Gewinn aus einer kriminellen Handlung verringern, hier aber noch nicht abgezogen sind. Abzüglich b) und c) spricht man daher auch vom Nettonutzen.
17 Becker (1982b 1968, 52f.) weist allerdings auch auf die gesellschaftlichen Kosten für die Bekämpfung von Straftaten hin und kommt deshalb - diese Kosten gegen die gesellschaftlichen Kosten der Straftaten abwägend - mit Hilfe einer „Wohlfahrtsfunktion“ zu gewissen „Optimalitätsbedingungen“ für den Einsatz von Ressourcen zur Bekämpfung von Straftaten.
18 Damit meine ich nicht den - gesellschaftlich wie auch immer geregelten - Zugang zu Bildungspatenten, sondern eine besonders von Eltern und Lehrern während Kindheit und Jugend geleistete moralische Erziehung. Natürlich ist auch mangelnde Chancengleichheit ein Grund für eine hohe Kriminalitätsrate, hier jedoch nicht Gegenstand der Überlegung (eine Ursache, die Rational Choice im übrigen gut erklären könnte).
19 Z.B. Bellah et al. oder Etzioni, vgl. Abschnitt 2.1. Kommunitaristen lassen sich dabei - genau wie RationalChoice-Theoretiker - nicht in ein politisches rechts-links-Spektrum einordnen.
20 Z.B. „rät“ Etzioni (1994, 428) Versicherungsgesellschaften, nicht nach Versicherungsbetrug zu fahnden, mit der Begründung, dies würde die Versicherungsnehmer erst auf die Idee bringen. Versicherungsbetrug würde demnach durch Maßnahmen zur Verhinderung von Versicherungsbetrug „erlernt“.
21 Diese anderen sind: Richard Madsen, William Sullivan, Ann Swidler und Steve Tipton
22 Diese Gruppe dominiere die amerikanische Kultur, so Bellah et al. (1987, 17). Kritisiert wurde diese Beschränkung zu unrecht, wie H.-P. Müller (1992, 375) meint: „In einer Mittelschichtgesellschaft wie der Vereinigten Staaten ist freilich die Mittelklasse ein sensibles Krisenbarometer, um die virulenten Probleme, die der „American way of life“ heraufbeschwört, deutlich zu machen.“
- Quote paper
- Klaus Dieter Lambert (Author), 2000, Handlungstheorie zwischen Kommunitarismus und Rational Choice, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92862
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