Ein neuer philosophischer Anstoß im 18. Jahrhundert brachte eine philosophische Deutung der Sinne mit sich. Bis ins 18. Jahrhundert bedeutete „Aisthesis“ nach der griechischen Definition die neutrale Wahrnehmung durch die fünf Sinne. Seit der Ausprägung des Begriffes der „Ästhetik“ durch Alexander Gottlieb Baumgarten und der Reklamation der Ästhetik für die Philosophie wurde die Sinneswahrnehmung zu einem Thema der Künste.
Die Literatur der Romantik setzt sich auseinander mit den vielfältigen Aspekten der Wahrnehmung, mit der Wirkung der Sinneskräfte, mit der Erinnerung und schließlich mit der Projektion.
Die Philosophie der sinnlichen Erkenntnis besagt, dass wir das, was wir aus der Welt aufnehmen, als Phantasie im Kopf haben, und damit arbeiten. Man war der Ansicht, Kunst könne nur auf Grundlage der Erinnerung entstehen, und die Einbildungskraft wurde zu einer wichtigen Voraussetzung für die Kunst. Die Projektion als ein immer wiederkehrendes Thema der romantischen Literatur bedeutet die Übertragung eigener Erinnerungen auf die momentane Wirklichkeit.
Sinnliche Wahrnehmung wird nun nicht mehr als rezeptiver, sondern als aktiver Prozess aufgefasst. Es kommt zu einer Umkehrung der Innen- und der Außenwelt. Dabei hat die traditionelle Metapher der Sinne als das Fenster zur Seele ihre Gültigkeit behalten.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Der Betrachter rückt ins Bild:
2.1 Subjektive Wahrnehmung – zum Problem der Vermittlung:
2.2 Text – Bild – Projektionen:
3 Aufgefächerte Wahrnehmung:
3.1 Das Denkmal der Mutter:
3.2 Das Denkmal der Violette:
3.3 Künstlerische Einbildungskraft:
4 Abschließendes und Weiterführendes:
5 Bibliographie:
1 Einleitung
Ein neuer philosophischer Anstoß im 18. Jahrhundert brachte eine philosophische Deutung der Sinne mit sich. Bis ins 18. Jahrhundert bedeutete „Aisthesis“ nach der griechischen Definition die neutrale Wahrnehmung durch die fünf Sinne. Seit der Ausprägung des Begriffes der „Ästhetik“ durch Alexander Gottlieb Baumgarten und der Reklamation der Ästhetik für die Philosophie wurde die Sinneswahrnehmung zu einem Thema der Künste.
Die Literatur der Romantik setzt sich auseinander mit den vielfältigen Aspekten der Wahrnehmung, mit der Wirkung der Sinneskräfte, mit der Erinnerung und schließlich mit der Projektion.
Die Philosophie der sinnlichen Erkenntnis besagt, dass wir das, was wir aus der Welt aufnehmen, als Phantasie im Kopf haben, und damit arbeiten. Man war der Ansicht, Kunst könne nur auf Grundlage der Erinnerung entstehen, und die Einbildungskraft wurde zu einer wichtigen Voraussetzung für die Kunst. Die Projektion als ein immer wiederkehrendes Thema der romantischen Literatur bedeutet die Übertragung eigener Erinnerungen auf die momentane Wirklichkeit.
Sinnliche Wahrnehmung wird nun nicht mehr als rezeptiver, sondern als aktiver Prozess aufgefasst. Es kommt zu einer Umkehrung der Innen- und der Außenwelt. Dabei hat die traditionelle Metapher der Sinne als das Fenster zur Seele ihre Gültigkeit behalten.
In den folgenden Ausführungen wird gezeigt, wie stark etwa auch in Clemens Brentanos Roman Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter eine Verschmelzung von Wahrnehmung, Einbildungskraft und Erinnerung vollzogen wird. Aus dem eigenen Kopf heraus werden Bilder in die Welt projiziert, sie werden umgestaltet, in andere künstlerische Medien transportiert, und so schließlich dem Rezipienten übermittelt. Es gibt nicht EINE Wahrnehmung der Dinge, sondern eine progressive, eine aufgefächerte Wahrnehmung. Im Godwi werden diese ästhetischen Prozesse großteils auch metareflexiv behandelt, weshalb sich der Roman besonders gut zu einer Analyse der Wahrnehmungsstrukturen eignet.
Einbildungskraft wurde in der Romantik als ein Vermögen verstanden, und dieses Vermögen ist den zentralen Figuren in Brentanos Roman sehr stark gegeben.
Die Theorie nach Kant und Wittgenstein besagt, dass in die Wahrnehmung immer auch imaginäre Anteile einfließen: Wahrnehmung funktioniert weder als optisches Registrieren noch als reines Einbilden, vielmehr ist der aktuelle Wahrnehmungseindruck immer mit inaktuellen Wahrnehmungen verbunden. Wolfgang Iser schreibt in seinem Aufsatz über das Imaginäre[1], dass es in der Vorstellung zu einer Vergegenwärtigung von Abwesendem kommt und das Imaginäre so erfahrbar gemacht wird. Gelenkt ist dieser Prozess vor allem durch die Erinnerung, die Nicht-Gegebenes mit tatsächlich Gegebenem in ein neues Anschauungsbild zusammenfließen lässt.
Die Umbruchsituation der Ästhetik um 1800 ist in Brentanos Roman evident. Die Wahrnehmung wird in der Romantik als eine produktiv-konstruktive aufgefasst. Diese „Kunstrevolution der Moderne“ wird bei Silvio Vietta trefflich ausgedrückt als das „Ende der Nachahmungsästhetik und Beginn einer neuen transzendentalen Ausdrucksästhetik“.[2]
In der Literatur der Frühromantik wird die Einbildungskraft als das produktive, schaffende Vermögen schlechthin an die oberste Stelle gesetzt. Unabhängig von der rein sinnlichen Wahrnehmung können projektive Welten aus sich heraus generiert werden.
In den Philosophischen Versuchen von Johann Nicolas Tetens[3] heißt es, die „Dichtkraft“ sei „die selbstthätige Phantasie“ und das „DICHTUNGSVERMÖGEN“ sei ein „ENTWICKELN, AUFLÖSEN, und WIEDERVEREINIGEN… INEINANDERTREIBEN und VERMISCHEN“. Genau dieses Vermögen des Dichters wird in Brentanos Roman sehr ausführlich dargestellt und auch reflektiert. In den nachfolgenden Punkten soll nun die nicht ganz so einfach zu erfassende Struktur der aufgefächerten Wahrnehmung näher behandelt werden.
2 Der Betrachter rückt ins Bild:
Nicht nur meiner Ansicht nach kann Caspar David Friedrich als der bedeutendste Maler der Romantik genannt werden. Auch Brentano, der immer den Kontakt zu den romantischen Malern seiner Zeit suchte und sie schätzte, sah in ihm den Maler der romantischen Sehnsucht schlechthin. Im Zusammenhang mit der vorliegenden Betrachtung ist vor allem auf einen zentralen Aspekt der Bilder Friedrichs hinzuweisen: das Eintreten des Betrachters ins Bild.
Diese Bildästhetik ist deshalb so herausragend, weil die Betrachterfigur ins Zentrum der Bilder rückt und das Wesen der Bilder erst ausmacht. Man denke etwa an die Frau am Fenster, wo die Betrachtung als Handlung an sich thematisiert wird. Das Neue an dieser Ästhetik ist also der ins Bild gerückte „Wahrnehmungsakt selbst“, um auf Silvio Viettas Ausführungen zurückzugreifen[4]. Der Betrachter des Bildes wird wiederum mit einer Betrachterfigur konfrontiert, er sieht also das Sehen.
Genau so wie in Caspar David Friedrichs Bildern wird auch in Brentanos Roman das Betrachten selbst subjektiviert und thematisiert. Brentano beschreibt schließlich lyrisch, was Friedrich farblich malt. In der multiperspektivischen Erzählstruktur des Godwi blickt der Leser zuerst über die Schultern des Autors, dann über die Schultern einer vom Autor gesetzten betrachtenden und erzählenden Figur und so fort, und hier können zweifellos Parallelen gezogen werden zur Frau am Fenster, wo der Betrachter des Bildes zuerst sie aus der Rückenansicht erblickt, dann aus dem Fenster das von ihr Gesehene sieht, und noch über ihr Blickfeld hinaus die Landschaft wahrnehmen kann.
Allerdings möchte ich noch hinzufügen, dass Brentanos Dynamik der Erzählstruktur noch über die spezifische Bildstruktur bei Friedrich hinausreicht: Die Gegenstände, die in der Betrachtung durch die jeweilige Romanfigur an den Leser herangebracht werden, sind bei Brentano transformiert in Gebilde der Imagination, der subjektiven Einbildungskraft.
2.1 Subjektive Wahrnehmung – zum Problem der Vermittlung:
Clemens Brentanos Roman Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter gilt als einer der allerersten modernen Romane. Er ist 1798 entstanden und wurde 1801 und 1802 in zwei Bänden veröffentlicht. In diesem Roman wird die Wahrnehmung als intensive Aktivität dargestellt und ins Zentrum der Handlung gerückt. Habe ich weiter oben von den Gegenständen der Betrachtung gesprochen, so handelt es sich dabei hauptsächlich um Gemälde und Statuen, die im Roman durchgehend präsent sind, vor allem im zweiten Teil des Romans. Diese Objekte der Wahrnehmung werden hier nicht mehr als gegebene Größen vorausgesetzt, sondern sie unterliegen einer subjektiven Betrachtungsweise und werden als ein verwaschenes Gebilde aus tatsächlich Vorhandenem sowie aus Produkten der Einbildungskraft an den Leser weitervermittelt. Nicht selten kommt es vor, dass ein und dasselbe Bild aus zwei oder mehreren unterschiedlichen Perspektiven geschildert wird und die Resultate der Betrachtung auch sehr unterschiedlich ausfallen. Anhand dieser Methode der Auffächerung der Wahrnehmung gelingt es Brentano das Problem der subjektiven Wahrnehmung auf sehr anschauliche Weise darzustellen.
In der vorliegenden Abhandlung möchte ich nun auf die Subjektivität der Wahrnehmung näher eingehen. Ich möchte aufzeigen, inwiefern die Einbildungskraft in diesem Roman zur aktiven und handlungstragenden Instanz wird und die Gegebenheiten der fiktiven Romanwelt bei ihrem Eintritt in diese grundlegend verändert. Wolfgang Iser bezeichnet die Einbildungskraft als die „Mächtigkeit, Abwesendes in einem Vorstellungspanorama zur Anschauung zu bringen“[5], und genau diesem Vorgang sehen wir uns im Godwi gegenüber.
Die Wirkung der Einbildungskraft wird uns vor allem im Umgang mit den Bildern vermittelt: Sie werden dem Leser vor Augen geführt, indem erzählt wird, wie Godwi oder Maria sie betrachten, dabei erweist sich alles Geschilderte von Anfang an als perspektivische Figurensicht. Wie sich herausstellt, entfalten die Gemälde erst im gemeinsamen Kunsterlebnis ihre besondere Qualität, die aus ihrer Dynamik resultiert. Die Gemälde rufen bei ihren Betrachtern emotionelle Reaktionen hervor. Sehr deutlich äußert sich dieser vielschichtige Rezeptionsprozess in der Betrachtung des Gemäldes der Annonciata durch den fiktiven Dichter Maria. Godwi zeigt Maria dieses innerhalb der fiktiven Romanwelt reale Gemälde der Frau, doch ihm verwandelt es sich zu einem anderen, imaginierten Bild, nämlich zum Erinnerungsbild eines Mädchens, das er „sehr liebe, und [das] diesem Bilde gleicht“.[6] Godwi verhüllt das Bild wieder, da er bemerkt, dass Maria nicht das Bild selbst beschreibt, sondern den Eindruck, den das Bild in ihm erweckt. Erst nachdem Godwi den Vorhang zum zweiten Mal hebt, folgt eine objektive Beschreibung des Gemäldes.
Eine ähnliche Szene ergibt sich im 26. Kapitel, als Godwi und Maria sich vor dem Gemälde der Wallpurgis einfinden: Auch dieses Bild ruht nicht in sich, sondern befindet sich in fortdauernder Bewegung. Maria empfindet nicht nur die Farben als beweglich, sondern glaubt, mit der Betrachtung des Bildes nie fertig werden zu können, da es unter seinen Augen wachse. Der Prozess der subjektiven Wahrnehmung wird jedoch in dieser Szene wie im gesamten Roman auch gleichzeitig reflektiert. Godwi drückt Marias Empfindung in klaren Worten aus: Für ihn heben sich die Gemälde vor allem durch ein bestimmendes Element hervor, nämlich dadurch, dass „sie nicht sind, sondern ewig werden“.[7]
Das Bild der Wallpurgis wird dem Leser in der Folge noch in weiteren Stufen vermittelt. Der Maler des Gemäldes hat dazu auch ein Gedicht geschrieben, in italienischer Sprache. In einer weiteren Steigerung wird dieses Gedicht nun von Maria ins Deutsche übersetzt, und die
Übersetzung wird dem Bericht über das Gemälde angefügt, mit der Bitte an den Leser, „daß Sie immer Ihre Augen auf das Bild wenden, während Sie sie lesen.“[8] Dem realen Leser ist dies selbstverständlich nur möglich, wenn er das im Roman beschriebene Gemälde seinerseits in ein imaginäres Bild „übersetzt“. In diesem Roman wird also auch die Einbildungskraft des Rezipienten auf ganz besondere Weise aktiviert.
Um dieses Kapitel abzuschließen, möchte ich nun auf eine meines Erachtens äußerst wichtige Stelle des Romans Godwi noch ausdrücklich hinweisen, nämlich auf die poetischen Ausführungen im „allgemeinen Gespräche über das Romantische“[9] im 8. Romankapitel. Dort können wir die Theorien nachlesen über die oben angedeutete perspektivische Vermittlung des Gegenstandes durch die Subjektivität des romantischen Künstlers.
Brentano legt den Romanfiguren Godwi und Maria diejenigen Worte in den Mund, die er an den Leser weitergeben möchte. Schon zu Beginn des Gesprächs erklärt Maria, dass „alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem seinigen mitgiebt“[10] romantisch sei. Der Roman Godwi und die spezifische Art seines Aufbaus rücken die Frage nach der Vermittlung der Gegenstände ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Weiter unten im Gespräch über das Romantische heißt es: „die romantischen Dichter haben mehr als bloße Darstellung, sie haben sich selbst noch stark.“[11] Im schöpferischen Umgang mit den Gemälden werden Godwi und Maria von bloßen Betrachtern zu erweiterten Künstlern, sie imaginieren nicht anwesende Objekte in die Gemälde hinein und transformieren diese so in Konstrukte der eigenen Einbildungskraft.
Wir wollen den Blick nun auch auf den ersten Teil des Romans lenken: Der fiktive Dichter Maria hat sein Quellenmaterial zu einem Roman verarbeiten wollen; die Originalbriefe, die selbst schon schriftliche Vermittlungen von Erlebtem darstellen, sind aber verändert, sie sind stets durch das Medium Maria gefiltert und entziehen sich dem Leser. Auch die Texte, die Godwi an Maria weitergibt, werden dem Leser nicht in ihrer authentischen Form übermittelt, was im Roman auch immer wieder betont wird. Das Erzählen erfolgt über mehrere und immer wieder erweiterte Perspektivierungen, es eröffnet sich dem Leser als ein Prozess der Interpretation von Interpretation. Diese fortlaufende Auffächerung der Wahrnehmung spiegelt sich wider in den metareflexiv gestalteten Überlegungen im Gespräch über das Romantische, „welches seinen Gegenstand nicht allein bezeichnet, sondern seiner Bezeichnung selbst noch ein Colorit giebt.“[12] Im Godwi führt die freigesetzte Subjektivität nicht nur soweit, dass Beschreibungen durch die eigene Wortwahl und Sichtweise vorgeformt sind – die frühromantische Subjektivität reicht soweit, dass die betrachtenden Romanfiguren plötzlich nur noch umgeben sind von Konstrukten der eigenen Phantasie, ohne Bindung zur Außenwelt und zu den tatsächlichen Gegenständen.
„Das Romantische selbst ist eine Übersetzung“[13], bemerkt Godwi schließlich. Im Roman betrifft dies vor allem auch die Übersetzung in andere künstlerische Medien. Es macht sich häufig ein Nebeneinander von erzählerischer und bildlicher Repräsentation bemerkbar.
[...]
[1] Iser 1993, S. 314f
[2] Vietta 2001,
[3] Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung I. Leipzig 1777 (Nachdruck Olms / Hildesheim 1979), S. 107 bzw. 24
[4] Vietta 2001,
[5] Iser 1993,
[6] Godwi,
[7] Godwi,
[8] Godwi,
[9] Godwi,
[10] Godwi,
[11] Godwi,
[12] Godwi,
[13] Godwi,
- Arbeit zitieren
- Anna Scheiterbauer (Autor:in), 2006, Aufgefächerte Wahrnehmung in Clemens Brentanos "Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92743
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