Hugo von Hofmannsthal gehört zu den bekanntesten österreichischen Schriftstellern der Wiener Moderne. Sein Frühwerk, das er in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts verfasste, zeichnet sich durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem neu aufkommenden literarischen Ästhetizismus und dem damit verbundenen Ästhetentum aus. Das Signifikante an seinem Schaffen ist dabei die Tatsache, dass er trotz seines literarischen Wirkens auf diesem Gebiet auch Kritik daran übt. Hugo von Hofmannsthal hinterfragt das ästhetische Leben wie kaum ein anderer Dichter seiner Epoche.
In dieser Untersuchung wird die Theorie des Ästhetizismus näher beleuchtet. Dabei steht die Darstellung und Bewertung des Ästhetentums durch die verschiedenen Protagonisten in Hugo von Hofmannsthals Frühwerk und die Diskussion seiner theoretischen Schriften im Mittelpunkt.
Bemerkenswert ist dabei, die Ambivalenz, die sich in seinem ästhetizistischen Diskurs offenbart. Hugo von Hofmannsthal schätzt die Neuerungen, die sich in der Literaturlandschaft zeigen, aber er sieht auch die Gefahren, die sich hinter dem Ästhetizismus verbergen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Wien am Ende des 19. Jahrhunderts
2.1. Tendenzen im Fin de siècle
2.2. Hugo von Hofmannsthal und das literarische Leben in Wien
3. Hugo von Hofmannsthal und der Ästhetizismus
3.1. Die Vorbilder Hugo von Hofmannsthals: Oscar Wilde und die französischen Symbolisten
3.2. Das Ästhetizismusverständnis Hugo von Hofmannsthals
4. Die Rose und der Schreibtisch – Die Gegenüberstellung von Kunst und Natur
5. Die Aufsätze
5.1. Die D’Annunzio-Essays
5.1.1. Gabriele D’Annunzio (I)
5.1.2. Gabriele D’Annunzio (II)
5.1.3. Der neue Roman von D’Annunzio, Le Vergini delle Rocce
5.2. Algernon Charles Swinburne
5.3. Walter Pater
6. Die Erzählungen
6.1. Gerechtigkeit – Die zweite Chance eines Ästheten
6.2. Das Märchen der 672. Nacht
6.2.1. Das ästhetische Leben des jungen Kaufmannssohns
6.2.2. Die Gegenüberstellung von Stadt und Land
6.2.3. Der Garten und das Gewächshaus
7. Lyrik – Mein Garten
8. Die lyrischen Dramen
8.1. Gestern
8.1.1. Andreas Verhältnis zu Gegenwart und Vergangenheit
8.1.2. Die Konfrontation mit der Vergangenheit – Die Widerlegung der Überzeugungen Andreas
8.1.3 Der Ästhet Andrea
8.2. Der Tod des Tizian
8.2.1. Die Darstellung Tizians und seiner Schüler – Künstler und Dilettant
8.2.2. Garten und Stadt in der Wahrnehmung der Schüler Tizians
8.3. Der Tor und der Tod
8.3.1. Claudio und sein ästhetisches Leben
8.3.2. Die Darstellung des Todes
8.3.3. Die Bedeutung des Sterbens Claudios
9. Ein Brief
9.1. Ursachen und Merkmale der Krise
9.2. Der Ästhet Lord Chandos
10. Fazit
11. Bibliographie
11.1. Primärliteratur
11.2. Sekundärliteratur
1. Einleitung
Hugo von Hofmannsthal gehört zu den bekanntesten österreichischen Schriftstellern der Wiener Moderne. Sein Frühwerk, das er in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts verfasste, zeichnet sich durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem literarischen Ästhetizismus und dem damit verbundenen Ästhetentum aus. Das Signifikante an seinem Schaffen ist dabei die Tatsache, dass er trotz seines literarischen Wirkens auf diesem Gebiet auch Kritik daran übt. Hugo von Hofmannsthal hinterfragt das ästhetische Leben wie kaum ein anderer Dichter seiner Epoche.
Wie Annette Simonis in ihrer Besprechung des Literarischen Ästhetizismus bemerkt, ist es überaus wichtig, auf die Tatsache hinzuweisen, dass es einen essentiellen Unterschied zwischen dem Ästhetizismus als literarischer Strömung und dem Ästhetentum als Lebensform gibt. Da sich diese Arbeit mit beiden Bereichen auseinander setzt, muss darauf hingewiesen werden, dass von dem Ästhetentum ausgegangen wird „[...] als einer persönlichen bzw. philosophisch fundierten Lebenshaltung und dem literarischen Ästhetizismus, verstanden als eine spezifische Epochenströmung der europäischen Literaturgeschichte mit ihren eigenen Stil- und Schreibkonventionen.“[1] Daher basiert die vorliegende Untersuchung auf zwei Teilen. Zum einen wird die Theorie des Ästhetizismus näher beleuchtet, der zur Zeit der Wiener Moderne Eingang in die Literaturlandschaft Österreichs gefunden hat und Gegenstand vieler Diskussionen bildete. Zum anderen steht die Darstellung und Bewertung des Ästhetentums der verschiedenen Protagonisten in Hugo von Hofmannsthals Frühwerk im Mittelpunkt. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Thematisierung der Ambivalenz, die in seinem ästhetizistischen Diskurs evident wird.
Für eine umfassende Analyse der Texte muss auch der gesellschaftliche Hintergrund berücksichtigt werden. Dazu gehört vor allem die Darstellung der damaligen Bedeutung der Schriftsteller des Jungen Wien, da diese österreichische Künstlergruppe Hugo von Hofmannsthal in seinem Wirken entscheidend beeinflusst und geprägt hat. Darüber hinaus spielt auch die rezeptive Erfahrung der Literatur fremdsprachiger Autoren wie zum Beispiel Oscar Wildes oder der französischen Symbolisten eine große Rolle. Die literarische Verbindung zu diesen ästhetizistischen Vorbildern spiegelt sich in seinem Werk in großem Umfang wieder und offenbart Hugo von Hofmannsthals Verehrung dieser ausländischen Künstler. Diese haben in ihrer jeweiligen Heimat einen wichtigen Beitrag zu einer neuen Wahrnehmungsweise der Literatur geleistet, noch bevor die Schriftsteller Österreichs sich auf diese neuen künstlerischen Wege begaben.
Zur Textanalyse werden hauptsächlich solche Werke untersucht, die sich in besonderem Maße mit dem Themenkomplex des Ästhetizismus und seiner Vor- beziehungsweise Nachteile und seine Wirkung auf das Leben beschäftigen. Sei es in theoretischer Form wie es in den frühen Essays Hugo von Hofmannsthals geschieht, die sich mit angesehenen englischen und italienischen Autoren des zeitgenössischen Ästhetizismus und seiner Kritik beschäftigen, oder durch fiktionale Texte, die sich durchaus differenziert mit dem Ästhetizismus und dem Ästhetentum auseinandersetzen. Vor allem die Darstellung des Ästheten erfährt in Hugo von Hofmannsthals Schriften immer wieder neue Facetten.
Als äußerst programmatisch erweist dabei sich die frühe Prosaskizze Die Rose und der Schreibtisch, da sie die Essenz des Ästhetizismus an die Oberfläche bringt und eines der Hauptprobleme, nämlich die Konkurrenz von Kunst und Natur, Künstlichkeit und Natürlichkeit widerspiegelt.
Daran anknüpfend werden jene Texte behandelt, die den oft in der Literatur des Fin de siècle zu findenden Typen des lebensfremden Ästheten zeigen. Dazu gehören die Erzählungen Gerechtigkeit und Das Märchen aus der 672. Nacht, sowie die lyrischen Dramen Gestern, Der Tod des Tizian und Der Tor und der Tod.
Als letzter Punkt ist noch die Schrift Ein Brief (auch der Chandos-Brief genannt) von besonderer Bedeutung, da sich dieser ausführlich mit den Grenzen der Sprache und ihrer Bedeutung für jeden literaturschaffenden Künstler auseinandersetzt. Die thematisierte Sprachkrise wird oft als Resultat des Ästhetizismus gewertet und verdeutlicht Hofmannsthals Kritik einmal mehr. Dieser Text stellt einen wichtigen Wendepunkt in seiner Arbeitsweise dar und bildet so gesehen den zeitlichen Abschluss für diese Arbeit, da er mit ihm die Abkehr vom Ästhetizismus zelebriert und sich diesem in seinen späteren Werke thematisch nicht mehr verpflichtet sieht.
2. Wien am Ende des 19. Jahrhunderts
2.1. Tendenzen im Fin de siècle
In einem seiner dokumentierten Tagebucheinträge äußerte sich Hugo von Hofmannsthal über seinen zeitlichen Kontext folgendermaßen: „Unsere Epoche eine entsagende, ablehnende. Große Forderungen, denen wir nicht nachkommen, in der Ferne. Über das Wohinaus eine allgemeine Unklarheit. Kein Gegenwartssinn. Verlogenheit, resultiert zumeist aus dem fortgesetzten ehrerbietigen Gebrauch von Begriffen, denen eine lebendige Achtung versagt ist. Eine entmutigende Literatur. 1860-90 in Frankreich zersetzend, in Deutschland formal konservativ, dadurch halbwahr, demoralisierend, in England zu scharfes Auseinandergehen, paradox und verdorben.“[2] Diese in höchstem Maße pejorativ erscheinende Bewertung der damaligen Verhältnisse resultiert vor allem aus dem herrschenden Durcheinander, das zu dieser Zeit politisch, gesellschaftlich, sowie auch kulturell allgegenwärtig war. Die Menschen sehnten sich nach Neuerungen, die diesem Zustand der Unzufriedenheit ein Ende setzen sollte.
Dieser Wunsch betraf jedoch nicht allein die Politik, sondern vor allem auch das künstlerische Leben. „Was die Zeitgenossen damals als ihre spezifische Moderne erleben konnten, war ein bis an die äußerste Grenze des Paradoxen vorgetragener Eklektizismus, der keine Neo-Strömung von vornherein ausschloß [...].“[3] Das Neue sollte in der Kunst der vorherrschende Faktor sein und sie revolutionieren. Man hatte mit dem Kulturbegriff der eigenen Vätergeneration abgeschlossen und wollte etwas schaffen, das die neue, junge Generation von ihnen und ihren angestaubten Ideen abgrenzte. Ausdruck wurde diesem Vorhaben vor allem durch eine strikte Ablehnung und Verurteilung des damals in der Literatur vorherrschenden Naturalismus verliehen. Es galt die Auffassung, dass die Realisierung des überholten Konzepts der Mimesis schlichtweg unerfüllbar sei. Man sollte in der Kunst nicht dem Primat unterliegen, die Natur nachahmen zu wollen, sondern, ganz im Gegenteil, diese darstellen, ohne überhaupt eine originalgetreue Abbildfunktion, die die tatsächliche Wirklichkeit bis kleinste Detail imitiert, zu intendieren, denn die außerliterarische Welt, auf die man sich bezog, ist in der Literatur auch von den größten Künstlern nicht ohne weiteres abzubilden.[4] Das tatsächliche Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit kann also nie spiegelbildlich, beziehungsweise mimetisch sein, sondern erreicht höchstens den Status des Gleichnishaften.[5]
Natürlich hatte diese neue, unorthodoxe Bewegung auch seine Kritiker. Zu nennen sei dabei vor allem der Name Karl Kraus, der mit dem Werk Die demolirte Literatur seinem Unmut Ausdruck verlieh. Auch die anfängliche Begeisterung des Literaten Hermann Bahr, der als österreichischer Schriftsteller der Wiener Gruppe sehr nahe stand, wechselte von einer enthusiastischen Haltung des Ästhetizismus gegenüber zu einer späteren äußerst harschen Kritik des selben. Die ältere Generation, die sich noch immer mit dem tradierten Ideal des Naturalismus identifizierte und sich im Epigonentum großer Künstler wie zum Beispiel Johann Wolfgang von Goethe erging, missbilligte die neue Bewegung, da sie mit den Innovationen, die auf sie einstürzten nicht zurecht kamen.[6]
Aber aus diesen Innovationen wurde schließlich allen Verurteilungen zum Trotz der Ästhetizismus geboren. In der Literatur herrschte nun ein anderer Maßstab. Im Mittelpunkt stand nicht mehr die Darstellung des Objektiven, denn diese wich jener der Subjektivität und der bedingungslosen Thematisierung des Schönen. Ernst Robert Curtius sah diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Wenn es ein Sinn der Kunst ist, Schönheit zu schaffen, so bedeutet jede Verfeinerung oder Neufundierung des Schönheitsgefühls, aber auch jede Erfindung einer neuen Schönheit einen Seinsgewinn und einen Wert. Der Ästhetismus [...] war beides: Erneuerung des Schönheitssinns und eine neue Schönheit.“[7] Bei der literarischen Arbeit wurde auch immer häufiger die Bedeutung der Kunst an sich und des Künstler in den Vordergrund gestellt. Das Werk stand nicht mehr für sich allein, sondern derjenige, der es erschafft, war nun auch als derjenige, der sich der Kunst widmet, mit in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen.
„Ästhetizismus bedeutet [...] die sensuell-imaginäre Umwandlung von Welt und Ich unter der Hinsicht des die Sinne und die Imagination stimulierenden Schönen. Dieser Ästhetizismus führte zu einer Lebens-Kunst oder -Verkünstlichung ohne Kunst(erzeugnis), das nur dem vom Dekadenten unterschiedenen Künstler [...] möglich war.“[8] An dieser Stelle greift die für den Ästhetizismus der Zeit des Fin de siècle typische Unterscheidung von den Prototypen des Künstlers und des Dilettanten. Der Erstere ist Produzent von Kunst und somit aktiv am künstlerischen Schaffensprozess beteiligt. Eine literarische Figur aus dem Werk Hofmannsthals, die für diesen Typus steht ist zum Beispiel der Maler Tizian in dem lyrischen Drama Der Tod des Tizian. Ihm entgegen steht der Dilettant, wie ihn zum Beispiel der Ästhet Claudio in Der Tor und der Tod darstellt. Dieser so genannte Dilettant beschäftigt sich ausschließlich mit der Rezeption von Kunst und künstlichen Dingen, die meist keinen Gebrauchswert für die jeweilige Person darstellen, sondern nur Vergnügen bereiten sollen. Ihm kommt also nur eine passive Rolle in seinem Leben zu. Er zählt nicht zu den tatsächlich Schaffenden. Der Ästhet, wie er in Hofmannsthals Werken dargestellt wird, ist nahezu ausschließlich Dilettant. Die künstlerisch Schaffenden, die Produzenten, wie zum Beispiel Tizian nehmen dabei eine untergeordnete Rolle ein, die dennoch im Gesamtkontext wichtig ist. Sie dienen meist zur Kontrastierung der Ästheten und sind somit diejenige Instanz, durch die implizit am Ästhetizismus Kritik geübt wird.
Karl Johann Müller hat die gesellschaftlichen Ursachen eines Phänomens, das sich auf eine solch extreme Weise der Lebensfremdheit verschreibt wie der Ästhetizismus, folgendermaßen erklärt: „Besonders im Rokoko und in der Renaissance sehen eine Reihe Wiener Literaten (z. B. Richard von Schaukal, Hugo von Hofmannsthal) Epochen von großer Schönheit und Würde. Die Darstellung von Schönheit in allen Lebensbereichen, Stilisierung des naturhaft Schönen, pedantischer Kult der Exklusivität, der in ästhetisch verbrämte „Häßlichkeit“ umschlagen kann, sind Resultate einer aristokratischen Haltung, die die Ästhetisierung des Lebens als Reaktion auf die bürgerlichen Lebensumstände versteht. Die Kritik an der modernen Industriegesellschaft, an den angeblich vorherrschenden materiellen Wertvorstellungen äußert sich in der Flucht in ein autonomes Reich der Schönheit.“[9] Der Ästhetizismus ist also nicht nur die reine Darstellung von Schönheit, sondern intendiert ebenfalls bei einigen Autoren eine implizite Gesellschaftskritik.
Eine weitere Innovation war die Verlagerung des Akzents der Handlung. Nicht mehr der Gegenstand an sich stand im Mittelpunkt, sondern seine Rezeption wurde nun hervorgehoben.[10] Statt einer traditionellen objektiven Wahrnehmung von Welt, stand nunmehr die Subjektivierung des einzelnen im Vordergrund. Die Darstellung und Analyse der Seelenlandschaft war zur Zeit des aufkommenden Interesses an psychologischen Vorgängen ein äußerst beliebtes Thema. Die literarischen Figuren ergingen sich in ihren psychischen Zuständen, denen nun eine völlig neue Tragweite zukam. Eine Fülle von verschieden Emotionen wurde thematisiert und bis ins kleinste Detail geschildert. An die Stelle der den Realismus und den Naturalismus charakterisierenden äußeren Beschreibung rückte nun die Darstellung der Seele des Menschen. So findet man zum Beispiel in den lyrischen Dramen Hugo von Hofmannsthals kaum Regieanweisungen, die das Äußere der Protagonisten betreffen. Das zentrale Thema ist die Empfindung und nicht das Äußere.
Doch so populär der Ästhetizismus in den Wiener Künstlerkreisen auch war, den Traditionalisten unter den Schriftstellern erschien er dennoch suspekt. „Der Ästhetizismus wird [...] oft als ein zu vernachlässigendes, vergleichsweise unwichtiges Übergangsphänomen und Durchgangsstadium betrachtet, nach dessen Abschluß und glücklicher Überwindung die fruchtbare Schaffensperiode beginnen kann und der Interpret erleichtert aufatmen kann.“[11] Dem Ästhetizismus wird also nicht die ihm gebührende Stellung als einer wichtigen literarischen Strömung zugestanden, sondern er ist in den Augen seiner zahlreichen Kritiker ein notwendiges Übel, das man auf sich zu nehmen hat, um zu voller künstlerischer Größe heranzureifen. Das künstlerische Schaffen wird dabei außer Acht gelassen. Die Kritiker beschränken sich lediglich auf die Betrachtung des oberflächlich erscheinenden Inhalts und erkennen auf diese Weise nicht den wahren Charakter und die Intention der ästhetizistischen Literatur.
Der inhaltliche Unterschied der Texte des Fin de siècle gegenüber ihren naturalistischen oder klassischen Vorgängern ist evident. „Mittels sprachlicher Ausdrucksmittel kann jeder Gegenstand interessant gemacht werden [...]. Die soziale und ethische Enthierarchisierung läßt die Gegenstände gleich-gültig im Sinne von gleichwertig erscheinen: Das Nebensächliche kann so zur Hauptsache werden, das Häßliche und Abartige zum Anziehenden.“[12] Die exakte Darstellung der Natur war, wie schon erwähnt, aus der Mode gekommen. In der Literatur herrschte die Darstellung des Unerwarteten vor. Man hielt sich nicht mehr an die aus der französischen Klassik stammenden und lange für das Schreiben von Literatur geltenden Regeln der vraisemblance (Wahrscheinlichkeit) und bienséance (Schicklichkeit).[13] Das Irrationale, Erstaunende, Ungehörige und völlig Absurde hatte im Fin de siècle seinen Weg in die Literatur gefunden.
Eine Schwierigkeit zeigt sich jedoch in der Namengebung dieser künstlerischen Epoche. Zur damaligen Zeit konkurrierten mehrere Bezeichnungen miteinander, die im Grunde immer dieselbe künstlerische Ausformung bezeichneten, die sich wenn überhaupt, lediglich in ihrer Nuancierung unterschieden. So gab es die Dekadenz, die Neu–Romantik, den Impressionismus, sowie eben den Ästhetizismus. Festgeschriebene formale Merkmale gab es für keine dieser Gruppen. Die Autoren selbst fühlten sich oft keiner dieser Bewegungen vollkommen zugehörig. Sie wollten sich nicht in vorgefasste Schemen pressen lassen, was eben auch Ausdruck eines neuen Weges der Kunst war. Man ließ sich von allem inspirieren, unabhängig von Epochengrenzen, gesellschaftlichen oder aber künstlerischen Konventionen.
2.2. Hugo von Hofmannsthal und das literarische Leben in Wien
Der noch sehr junge Hugo von Hofmannsthal hat sich recht schnell nach den ersten Veröffentlichungen seiner Gedichte, die er schon als Schüler verfasst hatte, den Literaten des Jungen Wien angeschlossen. Diese trafen sich Anfang der neunziger Jahre im Café Griensteidl. Dort diskutierten sie über verschiedene Literaturtheorien und stellten ihre neuesten Werke in dieser vertrauten Runde zur Diskussion. Hugo von Hofmannsthal schätzte diesen Kreis sehr, in dem sich unter anderem bekannten Schriftsteller wie Arthur Schnitzler, Leopold von Andrian, Richard Beer-Hofmann, Hermann Bahr oder auch Felix Salten bewegten.
„Was sie einander nahe brachte, war das Frühlingshafte dieser ganzen Zeit, die gemeinsame Empfindung neu anbrechender Lebendigkeiten, eines neuen Willens zur Wahrhaftigkeit und zu einer erlebnisstarken Einfachheit, war das Bedürfnis, sich Gleichgesinnten (oder solchen, die man dafür hielt) anzuschließen, an ihnen und durch sie zur Selbsterkenntnis und zur rechten Einstellung zu kommen, Anregungen zu empfangen, Probleme des Lebens und der Kunst zu sehen, die eigenen Fähigkeiten und Grenzen zu messen und zu behaupten und sich Wehleidigkeit abzugewöhnen.“[14] Die Gruppe junger Schriftsteller, die sich im Café Griensteidl traf, war für diese Autoren ergo eine Art Kunstschule, die ihr Augenmerk auf die Praxis legte und nicht nach strengen, aus der Theorie stammenden Normen vorging, wie es zu jener Zeit bei einem universitären Studium der Fall gewesen wäre. Sie schufen zusammen neue Werke und stellten sie zur Diskussion. Gerade weil alle Mitstreiter ebenfalls literarisch tätig waren, konnte man sich einer fachlichen Beurteilung gewiss sein, die durch diese besondere Gruppenkonstellation gewährleistet war. Besonders die künstlerische Freiheit und Offenheit für andere Kunstformen und die dadurch bedingte Experimentierfreude war kennzeichnend für die Schriftsteller dieser neuen Künstlervereinigung.
Die Autoren des Jungen Wien interessierten sich für völlig andere Dinge als noch ihre Vorgänger des Naturalismus. Es standen nicht mehr die äußeren Bedingungen, wie race, milieu, moment im Vordergrund, sondern „[...] man fing an, ‚Seelenzustände‘ zu beobachten und wollte der gemeinen Deutlichkeit der Dinge entfliehen.“[15] Das Interesse an inneren Vorgängen war, wie schon erwähnt, zu dieser Zeit ein beliebtes Thema. Schließlich war Hugo von Hofmannsthal unter anderem Zeitgenosse von Sigmund Freud, der mit seiner Psychoanalyse einen großen Beitrag zu der modernen Psychologie geleistet hat.
Der Kreis jener Schriftsteller, die sich regelmäßig im Café Griensteidl trafen, war nicht nur durch eine enge Freundschaft geprägt. Es war auch eine ideale Gelegenheit die eigenen, neuen Texte vorzustellen. Somit hatte das Junge Wien auch die Funktion einer internen Literaturkritik inne. „Es scheint, daß kein Werk der Öffentlichkeit übergeben wurde, bevor es nicht im Freundeskreis vorgelesen, diskutiert und kritisiert war.“[16]
Was diese Gruppe darüber hinaus besonders machte, ist die neue Auffassung ihrer Arbeitsweise. Der Künstler möchte nun nicht mehr als mystifizierte Figur verstanden werden, sondern als Handwerker.[17] Literatur wurde als ein Rohmaterial angesehen, das es von dem Schriftsteller zu formen galt. Letztlich war das Erzählte längst nicht so wichtig wie die Form der Darstellung selbst. Der Prozess des Schreibens war dem Künstler von weit größerer Bedeutung als das fertige Produkt. „Hand in Hand mit dieser nüchternen Einschätzung ging die Verachtung der Dilettanten, die sich einbilden, man könne nur arbeiten, wenn man dazu in der Stimmung sei.“[18] Das Künstlersein wurde nicht mehr als eine Frage des Talents begriffen, sondern war an harte Arbeit gebunden. Jeder konnte diesen Status erreichen, sofern er sich auf seine Arbeit und den damit verbundenen Schöpfungsprozess konzentrierte. Eine weitere Annahme war, dass man, wie es bei fast jedem Handwerk ist, mit der Zeit und der zunehmenden Praxis immer besser wurde.
Hermann Bahr, ein Schriftsteller, der oft als Wortführer der Wiener Moderne angesehen wurde, hat sich in diversen Aufsätzen zu dieser Gruppe geäußert. In einem heißt es zum Beispiel: „Eines haben sie alle gemein: den starken Trieb aus dem flachen und rohen Naturalismus weg nach der Tiefe verfeinerter Ideale. Sie suchen die Kunst nicht draußen. Sie wollen keine Abschrift der äußeren Natur. Sie wollen modeler notre univers intérieur.“[19] Die Perspektive verschiebt sich gleichsam von einer äußeren, oberflächlichen Betrachtungsweise auf die inneren, seelischen Vorgänge des Menschen.
Auch zu der neuen Sehnsucht nach künstlichen Objekten hat sich Hermann Bahr geäußert, als er die Charakteristika der Literatur der Wiener Moderne aufzeigte: „Ein anderes Merkmal ist der Hang nach dem Künstlichen. In der Entfernung vom Natürlichen sehen sie die eigentliche Würde des Menschen und um jeden Preis wollen sie die Natur vermeiden.“[20] Die Verachtung der Darstellung der tatsächlichen Natur gegenüber der Favorisierung des Künstlichen lässt die Protagonisten der ästhetizistischen Literatur als exklusive Einzelgänger erscheinen. Sie verdeutlichen durch dieses Leben die Abgrenzung zu den durchschnittlichen Menschen, die ihre Erfüllung nicht in der Kunst suchen.
Doch trotz ihres gemeinsamen Engagements wollten die Autoren des Jungen Wien sich nicht als fest organisierte Gruppe verstanden sehen. Sie sahen sich schlichtweg als Dichter, die sich hin und wieder trafen, um sich über Literatur und Kunst auszutauschen „Eines der Kennzeichen der Wiener literarischen Moderne besteht darin, kaum Manifeste und Gemeinschaftsprogramme aufzuweisen. [...] Die Autoren wollen lieber ihre Einzigartigkeit betonen, ihr besonderes Genie und ihre Unabhängigkeit; oder aber in die private Sphäre entfliehen.“[21] Diese Flucht in die vermeintliche Privatheit und der Rückzug in sich selbst ist unter anderem auch der Grund, warum es gerade in dieser Epoche so viele dokumentierte private Tagebuchaufzeichnungen und Briefkorrespondenzen mit gleichgesinnten Schriftstellern gibt, die heute genauen Aufschluss über die zeitgenössische Rezeption verschiedener Literaturtheorien gibt.
3. Hugo von Hofmannsthal und der Ästhetizismus
3.1. Die Vorbilder Hugo von Hofmannsthals: Oscar Wilde und die
französischen Symbolisten
Neben den Einflüssen, die Hugo von Hofmannsthal aus seinem literarischen Umfeld in Wien schöpfte, spielten bei seiner künstlerischen Orientierung und Ideenfindung auch viele andere Schriftsteller aus dem fremdsprachigen Ausland eine äußerst bedeutende Rolle.
So waren ihm zum Beispiel die englischen Ästhetizisten literarischer Hinsicht ein Vorbild. Stellevertretend für die verschiedenen Autoren, die Hofmannsthal beeinflusst haben, wird an dieser Stelle näher auf Oscar Wilde eingegangen, den wohl bekanntesten englischsprachigen Vertreter des Ästhetizismus. Hugo von Hofmannsthal lernte die Literatur Oscar Wildes 1892 durch Hermann Bahr schätzen, der ihm aus dem Kreis des Jungen Wien bekannt war. Die frühen Hofmannsthalschen Stücke zeugen von der intensiven Vorbildfunktion Wildes. Die Auffassung dieses Schriftstellers war: „Vom Künstler und von der Kunst verlange man nicht eine treue Wiedergabe und Abbildung der Wirklichkeit, sondern man erwartet „distinction, charm, beauty and imaginative powers.“ Nicht die Kunst ahme die Natur nach, sondern umgekehrt, die Natur folge der Kunst.“[22] Dieser programmatische Ansatz klingt schon in dem frühen lyrischen Drama Der Tod des Tizian an. Doch in einem Punkt konnte Hofmannsthal nicht mit ihm übereinstimmen. Oscar Wilde merkte in dem Vorwort zu Dorian Gray an: „No artist has ethical sympathies. An ethical sympathy in an artist is an unpardonable mannerism of style.“[23] Hofmannsthal jedoch sah diesen Zusammenhang kritisch, da in „[...] eben diese[m] Mangel am Ethischen [...] die Schwäche und die Gefahr des Ästhetizismus“[24] lauere. Der Künstler sollte nicht als gefühlskalte Person angesehen werden, wie Wilde es propagierte. Für Hofmannsthal müssen sich auch die Künstler einem ethischen Verantwortungsgefühl bewusst sein und nicht nur nach ihren eigenen Launen leben, wie es bei den englischen Ästheten sehr oft zu beobachten ist.
Hugo von Hofmannsthal lag sehr viel an Oscar Wildes Arbeitsweise. das zeigt sich darin, „[...] dass seine Sympathie für Oscar Wilde weniger mit seiner Bewunderung für England zu tun hat, als mit seinem tiefen Verständnis für Wildes menschliche und künstlerische Problematik. Dieses Verständnis [...] hat sich dann in Hofmannsthals Werk abermals als Kunst niedergeschlagen.“[25] Wildes Einfluss auf Hofmannsthal ist also nicht zu leugnen. Durch die Werke des englischen Schriftstellers hat Hugo von Hofmannsthal seine Meinung zum Ästhetizismus bilden und die ihm eigene Ambivalenz herausstellen können.
Die Wertschätzung von künstlerischer Darstellung kam auch in der großen Verehrung der französischen Symbolisten zum Vorschein. Das literarische Ziel dieser Künstler, zu denen unter anderem Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé gehörten, war den ästhetischen Grundsätzen Hugo von Hofmannsthals recht ähnlich. „Sie wollten einen Gegenstand [...] nicht mehr „benennen“, sondern ihn „suggerieren“, um „einen Seelenzustand zu zeigen.“[26] Dieser Leitgedanke prägte ebenfalls das Frühwerk des jungen Hugo von Hofmannsthal. Die häufig verwendeten Ornamente, wie sie zum Beispiel in der Erzählung Das Märchen der 672. Nacht oder in Andreas Haus in dem lyrischen Drama Gestern zum Vorschein kommen, stehen alle nicht für sich selbst, sondern haben einen Verweischarakter. Sie charakterisieren implizit den jeweiligen Protagonisten und deuten darüber hinaus oft schon Geschehnisse der Zukunft an.
Desweiteren hat sich durch die französischen Symbolisten die Art der Bearbeitung des Vanitas-Themas gewandelt. Dieser Umbruch hinterließ auch Spuren im Werk Hofmannsthals. „Die symbolistischen Texte wiederholen nicht einfach die althergebrachte, topische Vergänglichkeitsklage, nur um sie zu reinszenieren, sie zielen vielmehr auf einen subtileren Umgang mit dem vertrauten Gegenstand des Vergehens von Zeit und Dauer.“[27] So wird, wie später noch genauer analysiert wird, der Tod des Claudio in Der Tor und der Tod nicht als üblicher Vanitas–Topos behandelt, sondern ihm kommt eine regelrechte Inszenierung zu, die nicht das Thema der unüberwindlichen Sterblichkeit beinhaltet, sondern die Ästhetisierung der Todeserfahrung darstellt.
Ein weiterer Aspekt, der Hugo von Hofmannsthal an den französischen Autoren interessiert hat, ist die Handhabung ihres Materials. „Dichtung ist für ihn [den symbolistischen Dichter] vor allem das Dichten. Den Text selbst entläßt er nach getaner Arbeit aus seinen Händen als etwas gleichsam Fremdes. Im Bewußtsein der Leser kann das Produkt dann beliebige Vorstellungen hervorrufen: Das Gedicht hat, nach symbolistischer Auffassung, jene Bedeutung, die ihm der Leser gibt.“[28] Der Text ist stets offen für sämtliche Interpretationsmöglichkeiten. Es gibt keine dogmatischen Leitfäden. Der Leser sieht in dem Text immer etwas Subjektives. Das ist auch der Grund dafür, dass die Werke Hugo von Hofmannsthals auf so viele verschiedene Arten interpretiert werden können. Die Verwendung von mehreren Bedeutungsebenen und den diversen impliziten Querverweisen geben jedem seiner Texte unendlich viele Bedeutungen, die den Gedichten zum Beispiel eines Charles Baudelaires in ihrer angelegten Struktur durchaus ähnlich sind.
Angeregt durch den Dichter Stefan George[29] rezipierte Hugo von Hofmannsthal schon recht früh die ausdrucksstarken Gedichte der französischen Symbolisten. „Unter dem Einfluß Georges verwandelte sich Hofmannsthal mit überraschender Virtuosität den symbolistischen Ton an. Durch George lernte er Mallarmés L’Après – midi d’un faune kennen [...]“[30] Zu der Lektüre der Gedichte Stéphane Mallarmés kamen unter anderem auch jene Charles Baudelaires und Paul Verlaines. Hugo von Hofmannsthal nahm sie sich als stilistisches Vorbild, da sie durch den neuen Ansatz des l’art pour l’art einen anderen Umgang mit der lyrischen Form pflegten. Das Besondere an ihnen war die streng durchdachte Wirkung von Klang, Rhythmus und Schönheit der verwendeten Sprache. Das Augenmerk lag auf der Kunst und ihrer Verwendung und nicht auf einer willkürlich angestrebten Wirkung. Dieses Prinzip schlug sich auch im Werk von Hugo von Hofmannsthal nieder. Vor allem für sein dichterisches Werk war die ausgiebige Beschäftigung mit den französischen Symbolisten äußerst ertragreich[31]. Bei ihm genießt die Formseite und der Akt des Schaffens von Kunst einen höheren Stellenwert als die explizite Inhaltsseite, die eher etwas in der Gedankenwelt des Lesers evozieren soll als eine strenge Wirkungsvorgabe erfüllt[32].
3.2. Das Ästhetizismusverständnis Hugo von Hofmannsthals
Das Verhältnis Hugo von Hofmannsthals zum Ästhetizismus birgt einige Ambivalenzen, denn wie Corinna Jäger-Trees bemerkt, gibt er sich dieser Stilrichtung „[...] aber nicht hin und macht sie nicht zum Hauptgegenstand seiner Dichtung wie Wilde, Baudelaire und andere, sondern begreift sie als ein Zwischenstadium, das es letztlich zu überwinden gilt.“[33] Wie in diesem Zitat wird der Ästhetizismus bei Hugo von Hofmannsthal oft als eine weniger künstlerische Strömung angesehen, die es unbedingt zu überwinden gilt. Er wir oft negativ konnotiert. Doch Hofmannsthals Jugendwerk ist trotzdem durchaus repräsentativ für sein damaliges Umfeld in der Wiener Moderne und ein Ausdruck des zeitgenössischen Geistes. Der Dichter war jemand, der sich in höchstem Maße für Literatur und ihr Handwerk interessierte, da ist es natürlich nur verständlich, dass er sich auch an den neuesten Strömungen ausprobierte. Der Ästhetizismus ist, wie wahrscheinlich jede andere Literaturströmung in seinem Repertoire limitiert, und doch war es für den jungen Hugo von Hofmannsthal mehr als nur die notwendige Überwindung eines Übels. Es reizte ihn wohl eher die praktische Arbeit an etwas Neuem, im deutschsprachigen Raum vorher nicht Existentem.
„Aus der geistigen und psychischen dekadenten [und ästhetischen] Lebenshaltung ergeben sich zwei Möglichkeiten der künstlerischen Gestaltung: entweder man stellt sie mit ihren Folgeerscheinungen dar, d.h. die Sehnsucht nach dem Leben und die Angst vor der Lebensversäumnis, oder man kreiert eine traumhafte, phantastische Ersatzwelt. Erstere Gestaltungsweise bedingt eine kritische Haltung des Künstlers gegenüber der dekadenten Lebenshaltung, während letztere aus der Hingabe an dieselbe ihre gestalterischen Kräfte schöpft.“[34] Hugo von Hofmannsthal ist den Ästhetizismus von dem ersten Aspekt, also der analytischen Seite angegangen. Er hat sich in seinem privaten Sein dem ästhetischen Leben nicht in so hohem Maße verschrieben, dass ihm sein Urteilsvermögen abhanden hätte kommen können. Seine Werke verraten eine kritische Distanz, die immer gewahrt blieb. Er stand jenen Autoren, die den Ästhetizismus auch in ihren privaten Kreis verfolgten mit skeptischen Blick gegenüber. Bezogen auf die englischen Ästheten hat Hofmannsthal sich in einem Essay über den Präraffaeliten Walter Pater folgendermaßen geäußert: „„Das ist Ästhetizismus, in England ein übernährtes und überwachsenes Element unserer Kultur und gefährlich wie Opium.“ Gerade die Ambivalenz seiner Äußerung: die Verliebtheit und die Abwehr bestätigt, daß solche Kunstkritik eine Synthese von Kunstgegenstand und Genußgegenstand anstrebt, die im traditionellen Begriff – zumal der literarischen Kunst nicht zu vereinen sind.“[35] Der Abstand zu der geschaffenen, künstlerischen Welt ist also in den Augen Hofmannsthals unbedingt notwendig. Ohne eine unabdingbare Distanz zur Kunst ist ihr Schöpfer nicht mehr fähig, objektiv zu arbeiten.
In einem Brief schrieb Hugo von Hofmannsthal über den Ästhetizismus: „[...] gerade jene theoretische Disposition, die man Aestheticismus nennen kann, hatte für mich nicht nur etwas unvollkommenes, beengendes, sondern geradezu etwas schaudervolles an sich. Ich fühlte hier ein Verarmen, ein Erstarren, ohne mir über den Zusammenhang klar zu werden.“[36] Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass der Ästhetizismus nicht lange existieren kann, da er den Künstler in eine vorgegebene Richtung zwingt, die den Verlust der Objektivität bedeutet. Der Künstler wird praktisch in ein anderes Sein transportiert. Er ist nicht mehr er selbst. Sehr deutlich wird diese Aufspaltung des Ich in Ein Brief. Hugo von Hofmannsthal hat die Gefahr der Selbstverdoppelung, wie er es genannt hat, recht schnell erkannt und sich in seinem weiteren Schaffen anderen Schwerpunkten zugewandt und den Ästhetizismus als eine literarische Station unter anderen angesehen.
Ein weiteres Problem des Ästhetizismus hat Wolfgang Nehring herausgestellt. „Der Mensch, der außerhalb der Wirklichkeit steht und sich dem Künstlichen zuwendet, verliert vollends die Fähigkeit zu leben. Der Schönheitskult ist bei Hofmannsthal zugleich Ursache und Folge der Weltfremdheit. Wer keinen festen Halt in der Realität hat, verliert sich leicht in eine Scheinwelt. Wer nur nach dem schönen Schein fragt, kann kein echtes Verhältnis zur Wirklichkeit gewinnen.“[37] Dies ist in fast allen Texten des Jugendwerks Hofmannsthals ersichtlich. Die Ästheten, die sich in der Kunst verlieren, finden so niemals die wahre Erfüllung ihres Lebens. Sie sind ständig auf der Suche. Diese endet jedoch durch die irrationalen Ansprüche der Ästheten nie an dem gewünschten Ziel. Sie bleiben bis zu ihrem Tod in einem Teufelskreis gefangen. Der einzige Ausweg wäre die Anerkennung der Tatsache, dass sie selbst ihr eigenes Leben vom Passiven ins Aktive verlagern müssen und so aus ihrer unreflektierten Willenlosigkeit heraustreten.
Im Ästhetizismus sieht der Schriftsteller die Möglichkeit der Darstellung neuer Aspekte des Menschen. Die Entwicklung und psychologischen Hintergründe werden nicht mehr explizit erläutert, vielmehr steht nun der Mensch als Stimmungsträger im Mittelpunkt. „Hofmannsthal sieht den Menschen ungoethisch, nicht im Hinblick auf die Möglichkeiten seines Werdens oder Erreichthabens, sondern in seinem biologisch-vitalen, nervösen Sosein.“[38] Nicht mehr der Prozess des Werdens wird gezeigt, denn das hat der Naturalismus zur Genüge getan. Der Mensch ist nun eine empfindende Instanz. Alle psychologischen Hintergründe, die in der Vergangenheit eine Rolle spielen werden außen vor gelassen. Die Person ist nur in dem jeweiligen Augenblick mit seiner jeweiligen Stimmung von Bedeutung.
Ein sehr auffälliges Merkmal des Ästhetizismus des Hugo von Hofmannsthal ist zudem auch die bis ins Exzessive gehende Verwendung von Ornamenten. „[...] die Dekorationen und Metaphern erinnern nicht bloß an Naturformen, sondern weisen vielmehr auf die Naturzusammenhänge hin, auf die integrale Ganzheit des Lebens, welche die individuellen Ausformungen einschließt.“[39] Dieser Verweischarakter von den Dingen, die die Ästheten umgeben, wird besonders deutlich in der Erzählung Das Märchen von der 672. Nacht. Die Dinge stehen nicht für sich selbst, sondern sind immer Teil eines Ganzen. Das ist für das Werk Hofmannsthals kennzeichnend. Dieses stilistische Mittel, das durch die französischen Symbolisten erstmals in der Literatur Verwendung fand, hat er mit seinen kontinuierlichen Querverweisen noch verfeinert.
Aber wie schon erwähnt, war Hugo von Hofmannsthal sich stets bewusst darüber, dass der Ästhetizismus nicht ohne Kritik verstanden werden soll. „Schon der junge Hofmannsthal hat zwar nicht abgelassen, die Köstlichkeit dieses Gnadenstandes zu preisen, aber er hat auch nicht versäumt, vor seiner Zweideutigkeit zu warnen. Er hat früher und schärfer als andere die Schwäche seiner Generation erkannt und die Unzulänglichkeit des schönen Lebens. Er hat in seinen Studien und Kritiken zur europäischen Literatur seiner Zeit unerbittlich den Finger auf die Blöße des ästhetischen Menschen gelegt. Er hat in seinem dichterischen Werk unter vielen Masken die Fragwürdigkeit der Vollkommenheit entlarvt.“[40] Seine Texte sind demnach gleichzeitig Bearbeitung des ästhetizistischen Themas und auch Kritik daran. Der Hofmannsthalsche dilettantisch geprägte Ästhet erfährt am Ende immer einen Rückschlag in seinem auf die Kunst ausgerichtetem Leben. Er wird nie als strahlender Held glorifiziert, sondern ist häufig dem Tode geweiht. Einem Tod, der meist nicht den ästhetischen Vorstellungen des Protagonisten entspricht. Man denke dabei nur an den Kaufmannssohn im Märchen der 672. Nacht. Er hat sich sein Lebensende in den schillerndsten Farben ausgemalt und muss letztendlich feststellen, dass der Tod sich nicht mit einem ästhetischen Wunschbild vereinbaren lässt.
Mit seiner steten Kritik „[...] ist Hugo von Hofmannsthal aus der Sackgasse des Ästhetizismus ausgebrochen. Er hat seine seelische Gefahr bemerkt, die Gefahr mitten im Leben zu verarmen oder zu verfaulen oder zu versteinern.“[41] Denn das ist, wie die meisten seiner frühen Werke zeigen, eben das Schicksal des unbelehrbaren Ästheten. Indem Hugo von Hofmannsthal dieses Hauptproblem anerkennt, ist er dem Ästhetizismus schon einen Schritt voraus gewesen. Und genau das ist auch die Besonderheit an seinem literarischen Wirken. Er hat seine Texte zwar ästhetizistisch angelegt, war dabei aber doch so kritisch, dass sie sich genau durch diese explizite Ambivalenz von anderen Schriften des Ästhetizismus abheben.
4. Die Rose und der Schreibtisch – Die Gegenüberstellung von Kunst und Natur
Diese recht kurze Prosaskizze beinhaltet eine für Hofmannsthals Ästhetizismus schon programmatisch zu nennende Darstellung des Verhältnisses zwischen Kunst beziehungsweise Künstlichkeit und Natur. Ihr kommt daher eine besondere Stellung im Werk Hugo von Hofmannsthals zu.
Der Inhalt ist schnell erzählt. Ein Mann findet eine Rose auf der Straße und nimmt sie mit nach Hause. Schließlich wacht er nachts durch ein Geräusch auf und hört, wie sich seine Porzellanrose auf dem Schreibtisch negativ über die echte Rose äußert, da sie die natürliche Blume als beleidigend empfindet.
Bei der Darstellung dieser fantastischen Begebenheit spielt die Realität eine untergeordnete Rolle. Sogar der Erzähler gibt am Anfang zu, dass seine Geschichte irreale Züge aufweist und nicht unbedingt der Erklärbarkeit und Logik folgt. Zu Beginn sagt der Erzähler: „Ich weiß, daß Blumen nie von selbst aus offnen Fenstern fallen. Namentlich nicht bei Nacht.“[42] Schon daran wird offensichtlich, dass in der zeitgenössischen Literatur, wie schon erwähnt, nicht mehr konsequent auf die Mimesis hingearbeitet, sie sogar abgelehnt wird und unwirkliche Elemente, die nicht die tatsächliche Natur abbilden, durchaus intendiert sind.
Ein weiteres Zeichen für den Ästhetizismus sind die stark sensuell geprägten Beschreibungen. In diesem kurzen Text wird mit großer Sorgfalt auf verschiedene Sinneseindrücke wie zum Beispiel Farben eingegangen. Besonders zu nennen wäre dabei folgender Auszug: „Kurz, die rote Rose lag plötzlich vor meinen schwarzen Lackschuhen auf dem weißen Schnee der Straße. Sie war sehr dunkel, wie Samt, noch schlank, nicht aufgeblättert, und vor Kälte ganz ohne Duft.“[43] Der Rose werden Attribute zugeteilt, die im traditionellen Sinn mit Jungfräulichkeit konnotiert sind. Die Pflanze hat also noch nicht ihr volles Potential erreicht. Daher wird sie in Verbindung mit der Farbe weiß verwendet und mit einer geschlossenen Blüte dargestellt. Nur die rote Farbe, die in diesem Fall unter anderem für Sinnlichkeit und Schönheit steht, lässt das spätere Wesen der Rose erahnen. Schon in ihrem noch unschuldigen Dasein scheint die natürliche Rose infolge dessen alle Schönheit in sich zu vereinen und auf diese Weise der Künstlichkeit einen Schritt voraus zu sein.
[...]
[1] Simonis, Annette: Literarischer Ästhetizismus, Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000, Seite 153
[2] Hofmannsthal, Hugo von: Aufzeichnungen, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/Main 1959,Seite 123
[3] Jost Dominik: Literarischer Jugendstil, J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart 1969, Seite 3
[4] vgl. Simonis, Annette, Seite 147
[5] vgl. Rieckmann, Jens: Aufbruch in die Moderne, Die Anfänge des Jungen Wien, Österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siècle, 2. Auflage, Athenäum Verlag GmbH, Königstein/Ts. 1986,Seite 99
[6] vgl. Curtius, Ernst Robert: Zu Hofmannsthals Gedächtnis, in: ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur, A. Francke AG, Bern 1950, Seite 158
[7] a.a.O.
[8] Weinhold, Ulrike: Künstlichkeit und Kunst in der deutschsprachigen Dekadenz-Literatur, Verlag Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 1977, Seite 162
[9] Müller, Karl Johann: Das Dekadenzproblem in der österreichischen Literatur um die Jahrhundertwende, dargelegt an Texten von Hermann Bahr, Richard von Schaukal, Hugo von Hofmannsthal und Leopold von Andrian, Verlag Hans-Dieter Heinz, Stuttgart 1977, Seite 7
[10] vgl. Wunberg, Gotthart (Hrsg.): Die Wiener Moderne, Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Philipp Reclam jun. , Stuttgart1981, Seite 33
[11] Simonis, Annette, Seite 10
[12] Kafitz, Dieter: Décadence in Deutschland, Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, Universitätsverlag Winter GmbH, Heidelberg 2004, Seite 139
[13] vgl. ebd., Seite137
[14] Wunberg, Gotthart Gotthart (Hrsg.): Die Wiener Moderne, Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Seite 18
[15] Rieckmann, Jens, Seite 67
[16] ebd., Seite 95
[17] vgl. ebd., Seite 101
[18] a.a.O.
[19] Wunberg, Gotthart (Hrsg.): Die Wiener Moderne, Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Seite 226
[20] ebd., Seite 227 f.
[21] Le Rider, Jacques: Das Ende der Illusion, Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Österreichischer Bundesverlag GmbH, Wien 1990, Seite 48
[22] Weber, Eugene: Hofmannsthal und Oscar Wilde, in: Hofmannsthal-Forschungen I, Referate der zweiten Tagung der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft, Basel 1971, Seite 99
[23] ebd., Seite 103
[24] ebd., Seite 104
[25] ebd., Seite 106
[26] Balzer, Bernd/ Mertens, Volker: Deutsche Literatur in Schlaglichtern, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim 1990, Seite 352
[27] Simonis, Annette, Seite 344
[28] ¦mega¹ Viktor (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur, vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3. Auflage, Athenäum Verlag GmbH, Königstein/Ts. 1980 &1985, Seite 306
[29] vgl. Mayer, Mathias: Nachwort, in: Hofmannsthal, Hugo von: Gedichte, Mayer, Mathias (Hrsg.), Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2000, Seite 107 f.
[30] a.a.O.
[31] vgl. Sondrup, Steven P.: Hofmannsthal and the French Symbolist Tradition, Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 1976
[32] vgl. ebd., Seite 48
[33] Jäger–Trees, Corinna: Aspekte der Dekadenz in Hofmannsthals Dramen und Erzählungen des Frühwerks, Verlag Paul Haupt, Bern und Stuttgart 1988, Seite 5
[34] ebd., Seite 15
[35] Campe, Rüdiger: Ästhetische Utopie – Jugendstil in lyrischen Verfahrensweisen der Jahrhundert-wende, in: ¦mega¹, Victor (Hrsg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Verlag Anton Hain Meisenheim GmbH, Königsstein/Ts. 1981, Seite 217
[36] ¦mega¹, Viktor, Seite 283 f.
[37] Nehring, Wolfgang: Die Tat bei Hofmannsthal, Eine Untersuchung zu Hofmannsthals großen Dramen, J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart 1966, Seite 23
[38] Mauser, Wolfram: Daseinsunmittelbare Sprache und Gebärdensprache, in: Bauer, Sibylle (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal, Wege der Forschung Band CLXXXIII, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1968, Seite 37
[39] Jost Dominik: Literarischer Jugendstil, Seite 26
[40] Alewyn, Richard: Über Hugo von Hofmannsthal, 4. Auflage, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1967, Seite 180
[41] ebd., Seite 184
[42] Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Band 7, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1979, Seite 443
[43] a.a.O.
- Quote paper
- Jana Beutel (Author), 2007, Hugo von Hofmannsthals Auseinandersetzung mit dem Ästhetizismus in den 90er Jahren, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92725
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