In dieser Arbeit soll es um die Bürgerbeteiligung per Zufallsprinzip am Beispiel von Bürgerräten, oder auch Bürgerversammlung genannt, gehen. Im Bürgerrat erarbeiten durch das Losverfahren ermittelte Bürger einer Kommune, eines Landkreises oder eines Landes Empfehlungen und Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen. Bisher nutzen lediglich 6 % der deutschen Kommunen diese Art der Beteiligung. Daraus ergibt sich die Frage, ob es unter Abwägung behördlicher, politischer und gesellschaftlicher Blickwinkel richtig ist, diese Beteiligungsform vermehrt einzusetzen.
Diese Arbeit wird außerdem Antworten auf die folgenden Fragen geben: Welche Chancen und Risiken bietet ein solches Instrument der Bürgerbeteiligung? Warum hat die Gesellschaft, der Gemeinderat oder die Verwaltung Empfehlungen zu kommunalen und oder politischen Aufgaben einer zufällig ausgewählten Gruppe umzusetzen? Und welche Themen sind dafür geeignet?
Gender-Hinweis
In diesem Dokument wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit nur die männliche Form eines Begriffs verwendet. Selbstverständlich beziehen sich die jeweiligen Begriffe auch auf weibliche und diverse Personen.
ANLAGENVERZEICHNIS
Anlage 1 Detsch: Guter Rat/Allheilmittel gegen Demokratieverdruss oder Totengräber der Parlamente?
Anlage 2 Deutscher Bundestag: Neue Formen demokratischer Beteiligung von Bürgern
Anlage 3 Ebert: Demokratie-Experiment im Losverfahren/Irland - ein idyllischer Flecken Europas
Anlage 4 Ehlert: Bundesrepublik 3.0/Ein Beitrag zur Weiterentwicklung und Stärkung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch mehr Partizipation auf Bundesebene Abschlussbericht
Anlage 5 Gallagher: The Citizens‘ Assembly/About the members
Anlage 6 Global College Camp in Vancouver: Citizens' Reference Panel on Pharmacare in Canada
Anlage 7 Kaletsch: Bürgerbeteiligung aus kommunaler Sicht
Anlage 8 Klie: Zweiter Engagementbericht 2016
Anlage 9 Mehr Demokratie e.V.: Bürgerrat empfiehlt mehr Demokratie
Anlage 10 Mehr Demokratie e.V.: Phase 1 Regionalkonferenzen
Anlage 11 Staatsministerium Baden-Württemberg: So kann Bürgerbeteiligung gelingen. Erfahrungen der Stabsstelle der Staatsrätin
Anlage 12 Strele: BürgerInnen-Räte in Österreich
Anlage 13 Unzicker: Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien/ Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Anlage 14 Vergne: Bürgerbeteiligung mit Zufallsauswahl
Anmerkung der Redaktion: Der Anhang ist nicht Teil dieser Veröffentlichung
„So gilt es, wie ich sage, für demokratisch, dass die Besetzung der Ämter durch das Los geschieht, und für oligarchisch, dass sie durch Wahl erfolgt.“ ARISTOTELES 4. Jahrhundert vor Christus
Von Vertrauensverlust und Unzufriedenheit unserer Demokratie Das Misstrauen gegenüber den politischen Institutionen in Deutschland, das Gefühl der Ungerechtigkeit und der Vertrauensverlust in die Parteien Deutschlands wachsen. Mit der Demokratie als Prinzip und der Demokratiepraxis waren im Jahr 2018 lediglich 46 % der Befragten einer Bertelsmann-Studie zufrieden.1 Die Unzufriedenheit mit dem politischen System und das Unrechtsempfinden innerhalb der Gesellschaft tragen sowohl zum Erfolg populistischer Parteien als auch rechter und linker Protestbewegungen bei. Dennoch halten viele Menschen die Demokratie größtenteils für eine gute Staatsform und zweifeln nicht an ihrer Legitimität. Kritisiert wird eher die Effektivität unserer heutigen Demokratie.2
Wenig überraschend ist deshalb, dass der Wunsch nach Mitbestimmung, Gleichberechtigung und Selbstentfaltung größer ist denn je. Dementsprechend werden auch die Angebote für freiwilliges Engagement und informelle Beteiligungsformen immer zahlreicher und vielfältiger. Die Zunahme an bürgerlichem Engagement in Deutschland und Europa erfolgt aber nicht flächendeckend gleichmäßig stark.
Regionale und individuelle Faktoren wie die sozialen Beziehungen, das Vertrauen in die Mitmenschen und Institutionen, die Einkommenssituation, das Bildungsniveau und vieles mehr beeinflussen das jeweilige Niveau des Engagements.3 Auch im Rahmen von institutionellen Beteiligungsformen, wie beispielsweise bei der Wahlbeteiligung oder bei politischen Mandatsträgern, zeigt sich ein deutliches soziales Ungleichgewicht. Insbesondere Bürger mit höheren Bildungsabschlüssen und Einkommen beteiligen sich tendenziell häufiger, als Personen mit niedrigem Bildungsniveau und Einkommen. Dabei sollte das Ziel sein, alle Menschen, oder zumindest einen breiten Querschnitt durch die Gesellschaft, aktiv an der Gestaltung der lokalen Politik zu beteiligen.4 Bund, Länder, Landkreise und Kommunen sollten nicht allein von Eliten regiert werden (engl. top down). Die Bürger sollen durch freie Meinungsäußerung gemeinsam zu Ergebnissen kommen und diese umsetzen dürfen (engl. bottom up).
Ein Auswahlverfahren per Losprinzip würde die Wahrscheinlichkeit der Meinungsvielfalt und Expertise erhöhen und dafür sorgen, dass nicht nur die üblichen Interessensvertreter am Beteiligungsprozess teilnehmen. In Deutschland ist die Teilnehmerauswahl per Zufallsprinzip eine neue Komponente der Bürgerbeteiligung, die mehr und mehr Anwendung findet. Bekannte Instrumente der Bürgerbeteiligung, bei denen die Teilnehmer per Los ermittelt werden können, sind neben Bürgerräten auch Bürgerforen, Bürgergutachten, Bürgerwerkstätten, Open Space, Nachbarschaftsgespräche, Planungszellen, Zukunftskonferenzen, Bürgerpanels und Runde Tische.5
In dieser Arbeit soll es um die Bürgerbeteiligung per Zufallsprinzip am Beispiel von Bürgerräten, oder auch Bürgerversammlung genannt, gehen. Im Bürgerrat erarbeiten durch das Losverfahren ermittelte Bürger einer Kommune, eines Landkreises oder eines Landes Empfehlungen und Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen. Bisher nutzen lediglich 6 % der deutschen Kommunen diese Art der Beteiligung.6 Daraus ergibt sich die Frage, ob es unter Abwägung behördlicher, politischer und gesellschaftlicher Blickwinkel richtig ist, diese Beteiligungsform vermehrt einzusetzen. Dieser Essay wird außerdem Antworten auf die folgenden Fragen geben: Welche Chancen und Risiken bietet ein solches Instrument der Bürgerbeteiligung? Warum hat die Gesellschaft, der Gemeinderat oder die Verwaltung Empfehlungen zu kommunalen und oder politischen Aufgaben einer zufällig ausgewählten Gruppe umzusetzen? Und welche Themen sind dafür geeignet?
Status Quo: Der Anfang ist gemacht
Die Wahl der Volksvertreter war nicht immer so wie heute und die Auslosung von Bürgerräten ist kein neumodernes Entscheidungsinstrument. In der attischen Demokratie im 5. Jahrhundert vor Christus wurden jährlich 500 Bürger in den „Rat der 500“ in Athen per Zufallsprinzip gewählt. Aufgaben des Rates waren die Vorbereitung von Gesetzesvorschlägen, Aushandlung von Auslandsabkommen und die Bildung der Regierung mit 50 Männern. Der Regierungspräsident wurde täglich neu ausgelost.7
Heute gibt es in Europa und der Welt, im Gegensatz zu Deutschland, sehr viele, weiter fortgeschrittene Beispiele für Bürgerräte.8 Die folgenden internationalen Beispiele zeigen wie sich Bürgerräte in unterschiedlicher Art und Weise an der politischen Gestaltung einbringen.
Zwischen den Jahren 2012 und 2014 diskutierten 100 zufällig ausgewählte Teilnehmer einer Bürgerversammlung über mögliche Verfassungsänderungen in Irland. Im Jahr 2015 wurde durch ein Referendum die gleichgeschlechtliche Ehe beschlossen.9 Noch heute werden jährlich 100 irische Bürger ausgelost, um Empfehlungen für die Zukunft Irlands zusammenzustellen. Themen sind beispielsweise die Rente, Legalisierung der Abtreibung, Alterung der Bevölkerung oder der Klimawandel.10
Seit 2014 beteiligen sich in Frankreich die Conseils Citoyens an Diskussionen und Entscheidungsprozessen zur Stadtentwicklung. Bisher beteiligten sich Bürgerräte in 1.300 Wohnvierteln innerhalb der französischen Vororte. Im französischen Rahmengesetz ist das Verfahren durch Zufallsauswahl und die Dauer der Mitgliedschaft auf 5 Jahre vorgegeben. Über die konkrete Umsetzung wird lokal entschieden.11
In Kanada gibt es das sogenannte Citizens' Reference Panel. Darin beraten maximal 54 zufällig ausgewählte Bürger über ein strittiges öffentliches Thema. Zum Beispiel wurde im Oktober 2016 von 35 Zufallsbürgern Empfehlungen für die kanadische Gesundheitspolitik abgegeben. Eine der vielen Empfehlungen war die Einführung einer universellen, öffentlichen Versicherung für Medikamente. Grund dafür war, dass zwar alle Kanadier kostenfrei einen Arzt aufsuchen konnten, sie aber die Kosten für die vom Arzt verschriebenen, notwendigen Medikamente übernehmen mussten. Die teuren Medikamente konnten sich nicht alle Kanadier leisten.12
Der jüngste und größte nationale „Bürgerrat Demokratie“ in Deutschland wurde vom Verein „Mehr Demokratie e.V.“ und der „Schöpflin Stiftung“ in Lörrach Mitte 2019 initiiert. In Vorbereitung zum Bürgerrat wurden im Juni 2019 sechs Regionalkonferenzen mit jeweils 45 Bürgern sowie 15 Politikern durchgeführt. Für die Teilnahme an einer Regionalkonferenz konnten sich interessierte Bürger bewerben. Anschließend folgten Regionalkonferenzen, in denen die vorab fixen Themen der direkten Demokratie und Bürgerbeteiligung für den durch Los gezogenen Bürgerrat konkretisiert wurden.13
Im September 2019 fanden anschließend vier Beratungstage des Bürgerrates statt. Aus ganz Deutschland haben 163 Bürger teilgenommen. Ein digitales Losverfahren hat zuerst die Kommunen ermittelt. Über deren Einwohnermelderegister wurden zufällig ausgewählte Bürger zur Teilnahme am Bürgerrat eingeladen. Die Teilnahme war freiwillig. Bei einer Absage durch den Bürger wurde ein Ersatz ausgelost. Im Rahmen des von Moderatoren und Experten begleiteten Bürgerrats debattierten Kleingruppen aus maximal acht Personen. Täglich wurde die Zusammensetzung der Kleingruppen neu ausgelost. Ein Projekt-Beirat sorgte für Zielerreichung, Transparenz und Ergebnisoffenheit. Im Ergebnis konnten 22 Empfehlungen zusammen mit einem Bürgergutachten am 15. November 2019 an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble überreicht werden.14
Bedenken der Politik, der Parteien und des Gemeinderats
Die Durchführung und Beurteilung des nationalen Bürgerrates, aber auch der Bürgerräte anderer Länder, werfen neue und interessante Aspekte für die Politik im Bund und in den Kommunen auf. Durch die Diskussionen innerhalb eines Gremiums werden die wichtigsten Erwartungen und Vorstellungen der Bürger im Hinblick auf das Gemeinwohl, Einzel- und/oder Gruppeninteressen ausgetauscht. Der zufällig geloste Bürgerrat kann neben dem vom Volk gewählten Gemeinderat nach § 24 Gemeindeordnung Baden-Württemberg (GemO) und dem sachkundigen Bürger nach § 33 Absatz 3 GemO Empfehlungen für kommunale, regionale oder nationale Themen diskutieren und Empfehlungen abgeben. Politische Mandatsträger und Verwaltungsmitarbeiter werden gegenüber dem Bürgerrat verpflichtet, ihr bisheriges und zukünftiges Handeln zu erläutern und zu begründen. Ein sich daraus ergebender Konsens von Bürgern für Bürger kann von der Gesellschaft positiv wahrgenommen werden und legitimiert günstigstenfalls politische Entscheidungen.
Dabei haben Politik und Verwaltung die Argumente, Sorgen und Kritik der Bürger ernst zu nehmen und die Bürgerbeteiligung nicht nur als ein Alibi, eine Notwendigkeit oder eine Formalität anzusehen. In jedem Fall sollten Alibibeteiligungen vermieden werden. Grundsätzlich ist der Gemeinderat nicht verpflichtet, die Ergebnisse des Bürgerrats umzusetzen. Per Losverfahren ausgewählte Bürgerräte werden nicht vom Volk gewählt - im Gegensatz zu Gemeinderäten. Deshalb hat der Gemeinderat stets die Letztentscheidungskompetenz über kommunale, die Zukunft betreffende, Entscheidungen.15
Der Vorteil dieser Art der Bürgerbeteiligung für politische Gremien ist, dass die Einwohner über die Region Bescheid wissen. Sie kennen die regionalen Arbeitgeber, die Versorgungssituation, die Bildungsangebote, die Erholungsbereiche, die Mobilitätsangebote, die Wohnungssituation und vieles mehr. Die Attraktivität einer Region und die Zufriedenheit der Bevölkerung steigen, wenn über die kommunalen Weisungsaufgaben hinaus, die Pflichtaufgaben wirtschaftlich und die freiwilligen Aufgaben effektiv erfüllt werden. Dafür müssen Politiker und gewählte Mandatsträger wissen, was ihre Wähler wollen.
Bürger nehmen durch diese Art der Bürgerbeteiligung ihr Recht auf freie Meinungsäußerung intensiver wahr, als wenn sie lediglich nur bei Wahlen ihre Stimmzettel abgeben. Im Rahmen des Bürgerrats können sie ihren Ärger an der richtigen Stelle platzieren, sich verschiedene Sichtweisen anhören und optional direkt mit Politikern oder Verwaltungsmitarbeitern sprechen.
[...]
1 Vgl. Unzicker u.a., S. 7, https://www.bertelsmann- stiftung.de/fileadmin/files/Proiekte/Gesellschaftlicher Zusammenhalt/ST- LW Studie Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien 2019.pdf [13.01.2020].
2 Vgl. Unzicker u.a., S. 30, https://www.bertelsmann- stiftung.de/fileadmin/files/Proiekte/Gesellschaftlicher Zusammenhalt/ST- LW Studie Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien 2019.pdf [13.01.2020].
3 Vgl. Klie u.a., S. 35 ff, https://www.bmfsfj.de/blob/115588/53875422c913358b78f183996cb43eaf/zweiter- engagementbericht-2016—engagementmonitor-2016-data.pdf [13.01.2020].
4 Vgl. Klie u.a., S. 35 ff, https://www.bmfsfj.de/blob/115588/53875422c913358b78f183996cb43eaf/zweiter- engagementbericht-2016—engagementmonitor-2016-data.pdf [13.01.2020].
5 Vgl. Deutscher Bundestag, S. 6, https://www.bundestag.de/resource/blob/550340/1cfa9b21f88835679b09f0eec7bf60c0/W D-3-037-18-pdf-data.pdf [13.01.2020].
6 Vgl. Kaletsch u.a., S. 5, https://pollytix.de/wp- content/uploads/2018/05/pdf_studie_buergerbeteiligung.pdf [13.01.2020].
7 Vgl. Vergne u.a., S. 8, https://www.bertelsmann- stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/buergerbeteiigung-mit-zufallsauswahl/ [13.01.2020].
8 Vgl. Detsch, https://www.ipg-journal.de/interviews/artikel/guter-rat-3859/ [13.01.2020].
9 Vgl. Vergne u.a., S. 9, https://www.bertelsmann- stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/buergerbeteiigung-mit-zufallsauswahl/ [13.01.2020].
10 Vgl. Gallagher, https: //www.citizensassembly. ie/en/what-we -do/about-the -members/ [13.01.2020].
11 Vgl. Vergne u.a., S. 9, https://www.bertelsmann- stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/buergerbeteiigung-mit-zufallsauswahl/ [13.01.2020].
12 Vgl. Global College Camp, https://www.crppc-gccamp.ca/ [13.01.2020].
13 Vgl. Mehr Demokratie e.V.: Phase 1 Regionalkonferenzen, 2019, https://www.buergerrat.de/buergerrat/regionalkonferenzen/ [13.01.2020].
14 Vgl. Mehr Demokratie e.V., Bürgerrat empfiehlt mehr Demokratie, 2019, https://www.buergerrat.de/aktuelles/buergerrat-empfiehlt-mehr-demokratie/ [13.01.2020].
15 Staatsministerium Baden-Württemberg, S. 2, https://beteiligungsportal.baden- wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/beteiligungsportal/Dokumente/Regeln gute_Buerge rbeteiligung-2018_10_25.pdf [13.01.2020].
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