Wie kann die Grundrechtecharta der europäischen Union bewertet werden? Welche Errungenschaften sind hervorzuheben und wie sind die Schwächen zu bewerten? Ist es von entscheidender Bedeutung, dass dem Grundrechtekatalog kein verbindlicher Charakter zuerkannt wurde? Sollte die Charta zu verbindlichem Recht gemacht werden? An welcher Stelle sollte die Charta in die bestehenden Verträge eingefügt werden? Oder sollte die Charta Sockel einer europäischen Verfassung werden? Im Folgenden geht es darum, diese Fragen zu klären, wobei ein rechtswissenschaftlicher Zugang zum Problem gewählt wird. Zunächst wird ein Beitrag von Martin Nettesheim näher analysiert, der diese Fragen, die vor allem im Lichte der in Nizza verabschiedeten Erklärung über die Zukunft der Union an Bedeutung gewonnen haben, näher beleuchtet. In dem Aufsatz von Martin Nettesheim kommt eine funktionale Einschätzung der Grundrechte zum Ausdruck, wobei die Hoffnungen der Befürworter der Grundrechtecharta der Europäischen Union ebenso angesprochen werden wie die Befürchtungen, die von Skeptikern und Gegnern eines Grundrechtekatalogs in den Vordergrund gestellt werden. Anschließend wird ein Beitrag von Waldemar Hummer analysiert. Im Zentrum der Studie Hummers steht vor allem die Frage nach der Verbindlichkeit der Grundrechtecharta. Ist sie nur eine politische Erklärung oder kann sie den Kern einer europäischen Verfassung bilden? Abschließend wird die Frage gestellt, inwieweit die oben gestellten Fragen in die Verfassungsdebatte 2005/2006 aufgenommen werden. Kann man aus der Diskussion um die Grundrechtecharta lernen und die gewonnenen Erkenntnisse in die aktuelle Verfassungsdebatte einfließen lassen? Lassen sich Muster innerhalb der Debatte erkennen, die sich stetig wiederholen? Diese abschließende Diskussion, die wohl in Zukunft nicht oft genug geführt werden kann, versteht sich als Überleitung in die aktuelle Debatte über den politischen Umgang mit den gescheiterten Verfassungsreferenden und dem unsicheren „Projekt EU“.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Fragestellung
2. Analysen zur europäischen Verfassungsdebatte im Jahr 2000
2.1 Martin Nettesheim: Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union: Eine verfassungstheoretische Kritik
2.1.1 Zum Inhalt
2.1.2 Bilanz
2.2 Waldemar Hummer: Der Status der EU-Grundrechtecharta Politische Erklärung oder Kern einer europäischen Verfassung?
2.2.1 Zum Inhalt
2.2.2 Bilanz
3. Schlussbetrachtungen
Bibliographie
1. Einleitung und Fragestellung
In Zeiten der Gestaltwerdung der Europäischen Union werden Reichweite und Auswirkungen der europäischen Integration immer umfassender und damit schwieriger nachzuvollziehen. Große Erfolge stehen gleichzeitig neben Themen, die häufig mit Sorge betrachtet werden. Neben vielen großen und kleinen Herausforderungen gibt der europäische Verfassungsprozess ein weiteres großes Thema vor. Dreht sich die gegenwärtige Verfassungsdebatte nach den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden eher um die Bedeutung einer Verfassung für Europa und um mögliche Wege aus der „Verfassungskrise“, so spielte noch vor zwei bis drei Jahren die Entwicklung eines umfassenden EU-Grundrechteschutzes eine entscheidende Rolle. Als 50 Jahre nach dem Beginn der europäischen Integration erstmals im Jahre 2000 ein systematischer Katalog von Grundrechten erstellt wurde, erschienen damals vor allem die Frage nach dem Status der Grundrechtecharta und damit die gegenwärtige und künftige Verbindlichkeit von hoher Bedeutung. Wie kann die Grundrechtecharta der europäischen Union bewertet werden? Welche Errungenschaften sind hervorzuheben und wie sind die Schwächen zu bewerten? Ist es von entscheidender Bedeutung, dass dem Grundrechtekatalog kein verbindlicher Charakter zuerkannt wurde? Sollte die Charta zu verbindlichem Recht gemacht werden? An welcher Stelle sollte die Charta in die bestehenden Verträge eingefügt werden? Oder sollte die Charta Sockel einer europäischen Verfassung werden? Im Folgenden geht es darum, diese Fragen zu klären, wobei ein rechtswissenschaftlicher Zugang zum Problem gewählt wird. Zunächst wird ein Beitrag von Martin Nettesheim näher analysiert, der diese Fragen, die vor allem im Lichte der in Nizza verabschiedeten Erklärung über die Zukunft der Union an Bedeutung gewonnen haben, näher beleuchtet. In dem Aufsatz von Martin Nettesheim kommt eine funktionale Einschätzung der Grundrechte zum Ausdruck, wobei die Hoffnungen der Befürworter der Grundrechtecharta der Europäischen Union ebenso angesprochen werden wie die Befürchtungen, die von Skeptikern und Gegnern eines Grundrechtekatalogs in den Vordergrund gestellt werden. Anschließend wird ein Beitrag von Waldemar Hummer analysiert. Im Zentrum der Studie Hummers steht vor allem die Frage nach der Verbindlichkeit der Grundrechtecharta. Ist sie nur eine politische Erklärung oder kann sie den Kern einer europäischen Verfassung bilden? Abschließend wird die Frage gestellt, inwieweit die oben gestellten Fragen in die Verfassungsdebatte 2005/2006 aufgenommen werden. Kann man aus der Diskussion um die Grundrechtecharta lernen und die gewonnenen Erkenntnisse in die aktuelle Verfassungsdebatte einfließen lassen? Lassen sich Muster innerhalb der Debatte erkennen, die sich stetig wiederholen? Diese abschließende Diskussion, die wohl in Zukunft nicht oft genug geführt werden kann, versteht sich als Überleitung in die aktuelle Debatte über den politischen Umgang mit den gescheiterten Verfassungsreferenden und dem unsicheren „Projekt EU“.
2. Analysen zur europäischen Verfassungsdebatte im Jahr 2000
2.1 Martin Nettesheim: Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union: Eine verfassungstheoretische Kritik
2.1.1 Zum Inhalt
In dem vorliegenden Beitrag „Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union: Eine verfassungstheoretische Kritik“ bewertet der Autor Martin Nettesheim den Status der Grundrechtecharta, indem er die Umsetzung der fünf Funktionen, die ein Grundrechtekatalog üblicherweise zu erfüllen hat, untersucht und kommentiert. Die Grundrechtecharta der EU ist für ihn nicht nur von zentraler Bedeutung, weil durch die Proklamation ein weiterer Schritt im offenen und gestuften Prozess der Konstitutionalisierung unternommen wurde, sondern auch, weil die Grundrechtecharta die folgenden fünf Funktionen – von einigen Kritikpunkten abgesehen – gut erfüllt:[1]
Zunächst einmal bindet und mäßigt die Grundrechtecharta die europäische und öffentliche Gewalt. Dies ist – laut Martin Nettesheim – notwendig, denn die Europäische Union ist zwar kein Staat im eigentlichen Sinne und sie übt somit auch keine direkte Staatsgewalt aus, jedoch entspricht sie „im Zeitalter der Überwindung geschlossener Nationalstaaten“ einem „erwachsende(n) Substitut“[2], dessen Hoheitsgewalt - ähnlich der Hoheitsgewalt eines Staates – beachtsame Wirkmächtigkeit, Durchschlagskraft und Gestaltungskraft besitzt. Die Europäische Union beeinflusst das Leben der Unionsbürger auf nachhaltige Weise und der direkte Zugriff auf die Bürger wurde in den letzten Jahren noch mehr verstärkt. Umso wichtiger erscheint es, einen geschlossenen Text mit Grundrechten zu haben, auf den sich der einzelne Bürger bzw. die Organe der Europäischen Union berufen kann und der sich durch „Klarheit“, „Transparenz“, „Rechtssicherheit“[3] und Stabilität auszeichnet. Weiterhin lobt Nettesheim das Bekenntnis zu liberal-menschenrechtlichen Grundwerten „als Grundlage der politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Ordnung in Europa“ 3. Aus diesen positiven Eigenschaften der Charta ergibt sich ein unmittelbarer Kodifizierungsbedarf, auch wenn der Grundrechtekatalog einen „konservierenden Charakter“3 hat, d.h. nicht auf einen relativ raschen Wandel mit Änderungen angelegt ist und möglicherweise kompetenzverstärkend wirkt. Durch die systematische Erfassung aller Grundrechte werden sich neue Zuständigkeitsbereiche auftun, die mit einer Kompetenzausweitung der zuständigen Organe einhergehen. Es entstehen beispielsweise neue Schutz- und Förderungspflichten, denen die Gemeinschaftsorgane nachkommen müssen, auch wenn eine Kompetenzausweitung ursprünglich nicht vorgesehen war (Artikel 51, Absatz 1). Dies ist – laut Nettesheim- nicht weiter tragisch, denn die möglichen Kompetenzverschiebungen vollziehen sich wahrscheinlich eher „punktuell“, „schrittweise“ und „wohlmeinend“[4]. Zu kritisieren sind allerdings inhaltliche Defizite. So werden zum Beispiel manche Rechte nur im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften gewährleistet[5]. Ein weiteres Defizit ist nach Nettesheim das Fehlen von Regelungen für anderen Freiheiten: so bleibt bspw. ungeklärt, ob die Außenwirtschaftsfreiheit garantiert ist oder nicht. Auffallend ist weiterhin, dass manche Schutzgarantien unterentwickelt bleiben. So fehlen bspw. Schutzvorschriften zugunsten der Staaten, Regionen, Kulturen, Gruppen- oder Minderheiten. Ein weiterer Kritikpunkt von Nettesheim ist die Unausgewogenheit bestimmter Vorschriften. Während manche Rechte extra erwähnt werden und trotzdem kaum wörtlich genommen werden können[6], so werden andere Rechte nur marginal erwähnt, obwohl diese eine Antwort auf die wirklichen Herausforderungen hätten liefern müssen, so z.B. Regelungen zum Schutz der Gesundheit oder der Umwelt. Auch wurden bestimmte Regelungen aufgenommen, die nicht wirklich gefährdet zu sein schienen, wie z.B. der Zugang zur Arbeitsvermittlung. Weiterhin brisant ist eine fehlende Schrankensystematik: so ist die Charta an mancher Stelle um Detailgenauigkeit und Präzision bemüht, enthält dann aber bei der Festlegung der Grenzen der Eingriffsbefugnisse nicht mehr als eine „vage und unbestimmte Generalklausel“[7]. Somit wird die europäische Hoheitsgewalt an mancher Stelle zu gering eingeschränkt. All diese Kritikpunkte sollen nicht darüber hinweg täuschen, dass die Grundrechtecharta manch andere Funktion, so z.B. die funktionale Verschränkung von politischer Macht und judikativer Gewalt, fast vorbildlich erfüllt. Der Grundrechtekatalog hat insofern eine funktionale Funktion, als dass er politische Macht und judizielle Kontrolle in ein Gleichgewicht bringt. Diese innere Kontrolle ist nicht mit der äußeren Kontrolle durch z.B. den Straßburger Gerichtshof zu vergleichen, da die Charta eine „eigenständige Programmatik und ein besonderes Schutzniveau“[8] aufweist. Wie stark diese innere Kontrolle ist, hängt von der Geltungskraft der Grundrechte ab; hier zeichnet sich bei der Charta ein bemerkenswertes Bild ab: obwohl die Grundrechtecharta nicht rechtlich verbindlich ist[9], fließt sie in die Rechtssprechung des EuGHs und in die der anderen Organe der europäischen Judikativen mit ein. Insofern würde sich – für Nettesheim – die Notwenigkeit einer rechtlichen Verankerung der Charta in den Verträgen erübrigen. Brisant ist die Charta auch insofern, als dass sie zu der Reichweite ihrer Bestimmungen nicht viel sagt. In jedem Fall entscheidet der EuGH, ob und wann man sich auf bestimmte europäische Grundrechte berufen kann. Somit vollzieht sich ein Wandel hin zur Gerichtsbarkeit, denn der EuGH entscheidet, was gerichtlich entschieden wird und der politischen Diskussion entzogen wird. Dies ist nach Nettesheim insofern nicht gravierend, als das sich der EuGH seit jeher in Zurückhaltung übt:
Zu unterschiedlich sind die mitgliedstaatlichen Traditionen, als dass sich auf europäischer Ebene ein Grundrechtsverständnis durchsetzen könnte, wie es das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat.[10]
[...]
[1] Nettesheim, Martin: Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union: Eine verfassungstheoretische Kritik, in: Institut für europäische Politik: Integration, Baden-Baden, 25.Jg., 1/2002.
[2] ebd., S. 36.
[3] ebd., S. 37.
[4] ebd., S. 38.
[5] Vgl. Artikel 9: Das Recht eine Ehe einzugehen, und das Recht eine Familie zu gründen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen gewährleistet, welche die Ausübung dieser Rechte regeln.
[6] Vgl. Artikel 14: Das Recht auf Bildung: die Europäische Union wird kaum in der Lage sein, jedem einzelnen Unionsbürger eine Bildung zu verschaffen.
[7] ebd., S. 40.
[8] ebd., S 41.
[9] Es handelt sich um eine politische Erklärung von EP, Rat und Kommission.
[10] ebd., S.42.
- Quote paper
- Nadine Buschhaus (Author), 2006, Der Status der EU-Grundrechtecharta: Eine Analyse der Verfassungsdiskussion im Jahre 2000 unter besonderer Berücksichtigung der Beiträge von Waldemar Hummer und Martin Nettesheim, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92242
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