Am 31.03.2006 waren 21,74 % der in deutschen Gefängnissen zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe oder zur Sicherungsverwahrung inhaftierten Personen Ausländer. Im Dezember des gleichen Jahres lebten 7.255.949 Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik und entsprachen damit einem Bevölkerungsanteil von 8,8 %. Angesichts der somit hohen Quote ausländischer Gefangener stehen im Mittelpunkt der Arbeit die Fragen, ob Strafvollzug nach deutschen Vorstellungen mit nichtdeutschen Gefangenen grundsätzlich funktionieren kann, welche Schwierigkeiten deutscher Strafvollzug und ausländische Insassen miteinander haben und wie deutscher Strafvollzug ausgestaltet sein muss, damit er auch nichtdeutschen Inhaftierten gerecht wird. Den Rahmen für die Beantwortung dieser Fragen bilden widerstreitende Vorgaben in Strafvollzugs- und Aufenthaltsrecht.
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung
B. Definition des Ausländerbegriffs
C. Ausländer und Straffälligkeit
I. Aktuelle Daten
II. Verzerrungsfaktoren
III. Ausweisung als Reaktionsmöglichkeit – die aufenthaltsrechtliche Lage
1. Die zwingende Ausweisung gemäß § 53 AufenthG
2. Die Ausweisung im Regelfall gemäß § 54 AufenthG
3. Die Ermessensausweisung gemäß § 55 AufenthG
4. Besonderer Ausweisungsschutz
IV. Zusammenfassung und Ausblick
D. Der Strafvollzug nach dem StVollzG
I. Eingrenzung des Vollzugsziels (§ 2 StVollzG)
Resozialisierung als alleiniges Vollzugsziel / Schutz der Allgemeinheit als
Vollzugsaufgabe
II. Herleitung des Vollzugsziels aus der Verfassung
1. Herleitung aus dem Sozialstaatsprinzip
2. Herleitung aus der Menschenwürde und den ihren Schutz gewährleistenden Grundrechten
III. Resozialisierung als verfassungsrechtlicher Anspruch des Straffälligen
IV. „Vollzugsziel für alle?“ – Anspruch auf Resozialisierung auch für ausländische Gefangene?
V. Die Konsequenz aus dem Anspruch auf Resozialisierung: Der Behandlungsvollzug
1. (Nicht-)Definition des Behandlungsbegriffs
2. Die Stellung des Gefangenen im Behandlungsprozess
a) Angebotsbetonung
b. Rechtsbeschränkungen
VI. Zwischenergebnis
E. Auseinandersetzung mit den Problemen eines Behandlungsvollzugs bei nichtdeutschen Gefangenen
I. Die Ausgangslage
II. Sprachprobleme als Kommunikationshindernis
III. Kulturelle Unterschiede als Hemmnis im Hinblick auf die Vollzugszielerreichung
IV. Besonderheiten im Rahmen der religiösen Betreuung und Religionsausübung
1. Essen und Trinken – die religiösen Speisegebote
2. Arbeitsfreistellung an Feiertagen / Beten am Arbeitsplatz
V. Offener Vollzug, Vollzugslockerungen und Hafturlaub
1. Bedeutung der Maßnahmen für den Behandlungsvollzug
2. Die Voraussetzungen für die Gewährung vollzugslockernder Maßnahmen
3. Prognoseerfordernis
4. Offener Vollzug, Vollzugslockerungen und Hafturlaub für ausländische Inhaftierte
a) Einordnung der für Ausländer relevanten VV StVollzG
b) Kritische Würdigung
c) Die statistische Wirklichkeit – zur Lockerungspraxis der Vollzugsanstalten
VI. Arbeit, Aus- und Weiterbildung
VII. Entlassungsphase und Entlassung / vorzeitige Haftbeendigung
VIII. Zusammenfassung
F. Vorschläge zur Verbesserung der Behandlung von Ausländern im Strafvollzug
I. Entwicklung eines theoretischen Resozialisierungskonzepts für ausländische
Gefangene
1. Festlegung des Vollzugsziels
2. Klassifizierung der ausländischen Gefangenen
a) Klassifizierung der ausländischen Gefangenen anhand ihrer
ausweisungsrechtlichen Situation
b) Klassifizierung der ausländischen Gefangenen anhand ihres Integrationsgrads
aa) Nichtdeutsche Inländer
bb) Ausländer mit nur kurzer Aufenthaltszeit in Deutschland
cc) Ausländer ohne soziale Bindungen nach Deutschland
c) Zusammenfassung
3. Erarbeitung differenzierter Behandlungsmodelle
a) Nichtdeutsche Inländer
aa) Ausrichtung der Behandlung
bb) Lösung des Konflikts mit dem Aufenthaltsrecht – Ausweisungsverzicht
b) Ausländer mit nur kurzer Aufenthaltszeit in Deutschland
aa) Ausrichtung der Behandlung
bb) Lösung des Konflikts mit dem Aufenthaltsrecht –
Ermessensentscheidung über die Ausweisung zum Halbstrafenzeitpunkt
c) Ausländer ohne soziale Bindungen nach Deutschland
aa) Ausrichtung der Behandlung
bb) Kein Konflikt mit dem Aufenthaltsrecht –
Übertragung der Strafvollstreckung auf das Heimatland als Ideallösung
d. Zusammenfassung
4. Überlegungen zur Umsetzung der vorgeschlagenen Behandlungsmodelle
a) Anstaltsdifferenzierung
b) Änderung des Zuweisungsverfahrens
II. Zusammenfassung
G. „Bleibt alles anders?“ – Ausländer im Strafvollzug nach der Föderalismusreform
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A. Einleitung
Ausländer, die in Deutschland straffällig werden, rufen mit auffälliger Regelmäßigkeit sowohl die Stammtische als auch die Politik der Republik auf den Plan. Auf betroffenes Kopfschütteln folgen Schuldzuweisungen, auf Schuldzuweisungen folgen mehr oder minder sachlich geführte Debatten, mehr oder minder sachlich geführte Debatten führen zu mehr oder minder brauchbaren Ergebnissen. Ein Ergebnis jedoch wird gerne – und auch dies geschieht mit auffälliger Regelmäßigkeit – zur Königin unter den Ergebnissen erkoren: die schnelle Ausweisung straffälliger Ausländer.
Ein Blick hinter die deutschen Gefängnismauern zeigt jedoch, dass ausländische Straftäter allen Stammtischforderungen zum Trotz bisher nicht überhastet und unreflektiert ausgewiesen werden, denn bevor nach dem Aufenthaltsrecht eine Entscheidung über die Ausweisung ergeht, begegnet der deutsche Staat ausländischen Straftätern mit den Mitteln des Strafrechts. Im Falle einer Verurteilung zur Freiheitsstrafe werden sie, ebenso wie deutsche Rechtsbrecher, den hiesigen Vollzugsanstalten zugewiesen. Am 31.03.2006 waren 21,74 % der in deutschen Gefängnissen zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe oder zur Sicherungsverwahrung inhaftierten Personen Ausländer.
Gerade auch diese Zahl bietet Raum für Schuldzuweisungen und regt verstärkt eher minder sachlich geführte Debatten an. Gemeinplätze sollen hier jedoch außen vor bleiben. Angesichts der hohen Quote ausländischer Gefangener sollen im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen vielmehr die Fragen stehen, ob Strafvollzug nach deutschen Vorstellungen mit nichtdeutschen Gefangenen grundsätzlich funktionieren kann, welche Schwierigkeiten deutscher Strafvollzug und ausländische Insassen miteinander haben und wie deutscher Strafvollzug ausgestaltet sein muss, damit er auch nichtdeutschen Inhaftierten gerecht wird.
Nach einer einführenden Vorstellung der zu untersuchenden Personengruppe soll zunächst die Straffälligkeit von Ausländern anhand einiger Daten und Fakten aufgezeigt und dann konkretisiert werden, welche ausweisungsrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten dem deutschen Staat zur Verfügung stehen. Anschließend wird herausgestellt, dass das StVollzG dem Strafvollzug das Ziel setzt, den Gefangenen zu resozialisieren. In diesem Zusammenhang wird die Frage beantwortet, ob das Resozialisierungsziel generell auch für ausländische Strafgefangene gelten kann. Der Frage nach dem „ob“ schließt sich die Frage nach dem „wie“ an. Als Schlüssel zur Resozialisierung wird die Behandlung des Gefangenen erkannt. Nach dieser allgemeinen Feststellung werden im Folgenden Problemfelder beleuchtet, die der Behandlung speziell ausländischer Gefangener Steine in den Weg legen können. Da sich eine Benachteiligung ausländischer Gefangener im deutschen Strafvollzug schließlich nicht leugnen lässt, werden abschließend theoretische Behandlungskonzepte entwickelt, die den Bedürfnissen und Fähigkeiten ausländischer Häftlinge entsprechen können.
B. Definition des Ausländerbegriffs
Befasst man sich mit Themenstellungen, die die Gruppe der Ausländer betreffen, sieht man sich bald mit einer Vielzahl teilweise synonym benutzter Begriffe wie „Migrant“, „Zuwanderer“, „Nichtdeutscher“ oder „Einwanderer“ konfrontiert. Um den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit möglichst genau festzulegen, gilt es zunächst, diese Begriffe voneinander abzugrenzen.
Ausländer sind nach dem ursprünglichen Sinn des Wortes Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt außerhalb des Landes haben, in dem sie sich gerade aufhalten, die sich somit nur für einen gewissen (kurzen) Zeitraum in diesem Land aufhalten und daher nicht in die Gesellschaft integriert sind.[1] In Abgrenzung dazu sind Migranten Menschen, die sich zur Veränderung ihres Lebensmittelpunktes über sozial bedeutsame Entfernungen hinwegbewegen.[2] Im Rahmen der internationalen Migration meint das die Verlagerung des Lebensmittelpunktes über die Grenzen eines Nationalstaates.[3] Da Migranten sowohl Zu- als auch Abwanderer sind[4], können auch deutsche Staatsangehörige zu dieser Gruppe gehören. Während also Zuwanderer ihren Lebensmittelpunkt im betreffenden Land zu bilden gedenken oder gebildet haben, trifft dies auf Ausländer nicht zu. Mit dem Begriff des Einwanderers geht schließlich das Ziel der dauerhaften Niederlassung oder Ansiedlung in dem fremden Staat einher, mag die Zuwanderung auch zunächst nicht mit diesem Ziel erfolgt sein.[5]
Wenn hingegen § 2 I AufenthG bestimmt, dass Ausländer jeder ist, der nicht Deutscher im Sinne des Art. 116 I GG ist, stellt er nicht auf den Lebensmittelpunkt der betreffenden Person ab, sondern knüpft allein an ihre Staatsangehörigkeit. Ausländer ist dann – positiv definiert – jeder, der entweder eine fremde Staatsangehörigkeit besitzt, ohne zugleich Deutscher zu sein, oder der von Rechts wegen von keinem völkerrechtlich existenten Staat als Staatsangehöriger anerkannt wird, also als staatenlos gilt.[6]
Gemäß § 4 BVFG sind Spätaussiedler deutsche Volkszugehörige, die unter einem sog. Kriegsfolgenschicksal gelitten haben und die im BVFG benannten Aussiedlungsgebiete nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen und innerhalb von sechs Monaten einen ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet begründet haben. Die Frage der Volkszugehörigkeit richtet sich nach § 6 I bzw. II BVFG. Nach § 4 III 1 BVFG sind Spätaussiedler Deutsche im Sinne von Art. 116 I GG. Somit gehören sie nicht zu den Ausländern nach § 2 I AufenthG. Gleiches gilt für ihre Ehegatten mit ihrer Aufnahme im Geltungsbereich des Gesetzes, wenn sie nach § 27 I 2 BVFG in den Aufnahmebescheid einbezogen worden sind (§ 4 III 2 BVFG).
Unter die Ausländer-Definition des AufenthG fallen schließlich Einwanderer, Migranten im Sinne von „Zuwanderer nichtdeutscher Staatsangehörigkeit“, also auch die Staatenlosen, nicht jedoch die Spätaussiedler.
Zwar muss sich diese Definition vorwerfen lassen, dass sie ausklammert, ob der Betreffende schon lange seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland hat, also im Grunde „Inländer mit fremder Staatsangehörigkeit“[7] ist, oder ob er sich nur kurzzeitig, eventuell sogar nur zur Verbrechensbegehung, in Deutschland aufhält[8]. Sie zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie Spätaussiedler, die de facto Deutsche sind, nicht erfasst und somit die Zusammenfassung einer, wie sich bereits gezeigt hat, äußerst heterogenen Gruppe von Menschen unter dem Gesichtspunkt der Anwendbarkeit des Aufenthaltsrechts erlaubt.[9] Dies ist im Folgenden von Bedeutung, denn zahlreiche Problematiken des Strafvollzugs mit Nichtdeutschen beruhen gerade auf der Möglichkeit von Ausweisung und Abschiebung. Ist von nun an also von „Ausländer“ oder „Nichtdeutscher“ die Rede, ist die Definition des § 2 I AufenthG zugrunde gelegt.
C. Ausländer und Straffälligkeit
I. Aktuelle Daten
Am 31.12.2006 lebten insgesamt 7.255.949 Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik und entsprachen damit einem Bevölkerungsanteil von 8,8 %.[10] Diese Zahlen geben jedoch nicht die ganze Wahrheit wieder, denn sie beziehen sich nur auf melderechtlich registrierte, d.h. vom Ausländerzentralregister erfasste Personen[11], und lassen somit Ausländer, die sich illegal in Deutschland aufhalten, unbeachtet.[12] Die Anzahl der Ausländer, die sich tatsächlich in Deutschland befinden, dürfte somit deutlich höher sein.[13]
An diese Feststellungen schließt sich nahtlos die Frage nach der Kriminalitätsbelastung der in Deutschland lebenden Nichtdeutschen an. Der PKS ist zu entnehmen, dass im Jahr 2006 im gesamten Bundesgebiet 503.037 nichtdeutsche Tatverdächtige ermittelt wurden. Bei einer Gesamttatverdächtigenzahl von 2.283.127 bedeutet dies einen Anteil von 22,0 %. Selbst wenn man aus Vergleichbarkeitsgründen die Straftaten gegen das AufenthG, das AsylVfG und das FreizügG/EU ausklammert, die nur in Ausnahmefällen in Form der Anstiftung und Beihilfe von Deutschen begangen werden können[14] und somit de facto ein ausländerspezifisches Sonderstrafrecht darstellen[15], liegt der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen mit 19,4 %[16] weit über dem Anteil Nichtdeutscher an der Bevölkerung der Bundesrepublik. Diese Relation stellt sich für bestimmte Deliktsgruppen sogar noch verschärft dar. So ergaben sich für das Jahr 2006 Tatverdächtigenanteile von 28,0 % für Mord und Totschlag, 28,9 % für gefährliche und schwere Körperverletzung und 29,6 % für Vergewaltigung und sexuelle Nötigung.[17]
II. Verzerrungsfaktoren
Zu Recht wird jedoch darauf hingewiesen, dass der Anteil ausländischer Tatverdächtiger weder mit dem Anteil Nichtdeutscher an der Wohnbevölkerung, noch mit der Quote deutscher Tatverdächtiger ohne Weiteres verglichen werden kann.[18] Die Bevölkerungsstatistik erfasst nur Ausländer, die melderechtlich registriert sind und lässt solche unbeachtet, die sich illegal oder nur vorübergehend als Touristen oder Durchreisende in der Bundesrepublik aufhalten[19], während die PKS diese Gruppen, wenn sie straffällig werden, als Ausländer zählt. Somit verschieben sich die Vergleichsgrößen zu Ungunsten der Ausländer.
Auf Verfälschungen, die darauf beruhen, dass gewisse ausländerspezifische Straftatbestände von Deutschen kaum verwirklicht werden können, wurde bereits hingewiesen.
Die erhöhte Tatverdächtigenquote bei Nichtdeutschen ergibt sich ferner daraus, dass die besonders kriminogene Gruppe der männlichen Jugendlichen, Heranwachsenden und Jungerwachsenen bei ihnen permanent Zuwachs erfährt, während die Vergleichsgruppe bei den Deutschen, bedingt durch den Geburtenrückgang, eher schwindet.[20] Darüber hinaus übersieht ein Vergleich, dass sich die schichtspezifische Benachteiligung der Nichtdeutschen gegenüber den Deutschen regelmäßig negativ auf die Belastungszahlen der Nichtdeutschen auswirken wird. „Die Wahrnehmung einer sozialen Realität, die subjektiv als Bedrohung auch der eigenen Identität und des Selbstbildes empfunden wird, kann zu krimineller Aggressivität und Militanz führen, insbesondere dann, wenn sich die Nichtdeutschen marginalisiert und diskreditiert fühlen.“[21]
Schließlich bleibt darauf hinzuweisen, dass die Ausländer in der Bundesrepublik überwiegend in den großstädtischen Ballungsgebieten leben, in denen auch die deutsche Bevölkerung, schon wegen des Kriminalitätsangebotes, wesentlich mehr Straftaten begeht als auf dem Land.[22] Die Landbevölkerung nivelliert daher eher bei den Deutschen als bei den Ausländern die Durchschnittswerte.[23]
Zwar können diese Verzerrungseffekte nicht über eine überproportionale Kriminalitätsbelastung der in Deutschland lebenden Ausländer hinwegtäuschen. Sie können aber durchaus dazu auffordern, die Ergebnisse der PKS kritisch und mit dem nötigen Realitätssinn zu betrachten.
III. Ausweisung als Reaktionsmöglichkeit – die aufenthaltsrechtliche Lage
Die Begehung einer strafbaren Handlung durch einen Nichtdeutschen löst unterschiedliche Reaktionen des deutschen Staates aus. Neben die strafrechtliche Reaktion treten, anders als bei Straffälligkeit eines Deutschen, Maßnahmen des Aufenthaltsrechts.[24] Das AufenthG sieht als Konsequenz für strafbares Verhalten eines Ausländers die Möglichkeit der Beendigung des Aufenthaltes und somit die Ausreisepflicht des Betreffenden vor.[25]
Gemäß § 50 I AufenthG ist ein Ausländer zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt. Neben dem Widerruf (§ 52 AufenthG) kann gemäß §51 I Nr. 5 AufenthG unter anderem die Ausweisung des Ausländers den Aufenthaltstitel zum Erlöschen bringen. In diesem Fall hat der Ausländer das Bundesgebiet nach Maßgabe des § 50 II AufenthG zu verlassen.
Betrachtet man die §§ 53, 54, 55 AufenthG, ist Ausweisungsgrund primär die Straffälligkeit eines Ausländers.[26] Dies gilt für die zwingende Ausweisung iS des § 53 AufenthG ebenso, wie für die Ausweisung im Regelfall nach § 54 AufenthG. Auch im Rahmen von § 55 AufenthG verwirklicht der Ausländer schon mit Erfüllung der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen eines Straftatbestands einen Ausweisungsgrund.
Da die Ausweisungsfrage bei der überwiegenden Zahl ausländischer Straftäter von Relevanz ist[27] und in zentrale Bereiche des Strafvollzugs hineinwirkt, bedarf es einer vorgelagerten Darstellung der Systematik der ausweisungsrechtlichen Regeln.
1. Die zwingende Ausweisung gemäß § 53 AufenthG
Die zwingende Ausweisung[28] ist vorgesehen für Fälle schwerwiegender strafrechtlicher Verurteilungen. So setzt § 53 Nr. 1 Alt. 1 AufenthG eine Verurteilung wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren voraus. Alt. 2 verlangt mehrere Verurteilungen zu Freiheits- und Jugendstrafen von insgesamt drei Jahren wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren oder die Anordnung von Sicherungsverwahrung bei der letzten Verurteilung. Gemäß § 53 Nr. 2 AufenthG führt die rechtskräftige Verurteilung wegen einer Vorsatztat im Bereich des Rauschmittel- oder Versammlungsrechts zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder einer Freiheitsstrafe ebenfalls zwingend zur Ausweisung. Die Strafen müssen nach dem BtmG oder §§ 125, 125a StGB rechtskräftig verhängt und dürfen nicht zur Bewährung ausgesetzt sein.[29] Nach § 53 Nr. 3 AufenthG genügt schließlich auch eine Verurteilung zur Freiheitsstrafe wegen Einschleusens von Ausländern gemäß §§ 96, 97 AufenthG.[30] Eine Mindeststrafzeit ist nicht bestimmt, die Strafe darf jedoch auch hier nicht zur Bewährung ausgesetzt sein.
Verwirklicht ein Ausländer den Tatbestand des § 53 AufenthG, erfolgt seine Ausweisung aufgrund einer gebundenen Entscheidung der Ausländerbehörde.[31] Für eine Gefahrenprognose bzw. für Ermessenserwägungen, insbesondere für eine Güter- und Interessenabwägung, lässt die Vorschrift keinen Raum.[32] Die Ausweisung erfolgt also selbst, wenn wahrscheinlich künftig keine Gefahr von dem Ausländer ausgeht und somit kein überwiegendes öffentliches Interesse an der Beendigung seines Aufenthalts besteht.[33] Der Vorwurf, die Vorschrift verstoße wegen dieses Ausschlusses jeglicher Ausnahme- und Härtefallentscheidung gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, wurde vom BVerwG ausgeräumt.[34]
2. Die Ausweisung im Regelfall gemäß § 54 AufenthG
Eine Ausweisung im Regelfall kommt bei den in § 54 AufenthG[35] näher bestimmten strafrechtlichen Verfehlungen bzw. bei einem Verdacht terroristischer Bestrebungen in Betracht.[36] Sie setzt nach § 54 Nr. 1 AufenthG tatbestandlich voraus, dass eine Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten verhängt wurde. Hat sich ein Ausländer gemäß §§ 96, 97 AufenthG strafbar gemacht und wird er daraufhin rechtskräftig zu einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt, greift § 53 Nr. 3 AufenthG. Für die Regelausweisung nach § 54 Nr. 2 AufenthG genügt jede andere Strafbarkeit aus §§ 96, 97 AufenthG, denn das Einschleusen von Ausländern gilt als besonders gemeinschädlich und schlecht zu bekämpfen.[37] § 54 Nr. 3 AufenthG knüpft die Regelausweisung an einen vorsätzlichen bzw. fahrlässigen und schuldhaften[38] Verstoß gegen das BtmG. Im Gegensatz zu § 53 Nr. 2 AufenthG braucht hier gerade keine Verurteilung erfolgt zu sein. Deshalb hat die Ausländerbehörde eigene Feststellungen über den Sachverhalt zu treffen. Darüber hinaus zwingen die in § 54 Nr. 4 AufenthG beschriebenen Gewalttätigkeiten in der Regel zur Ausweisung. Da auch hier eine Verurteilung entbehrlich ist, gilt für die Ausländerbehörde Gleiches wie eben.[39] Der Tatbestand des § 54 Nr. 5 AufenthG verlangt kein strafbares Verhalten des Ausländers. Die Vorschrift betrifft gewaltbereite Extremisten, Terroristen und deren Unterstützer und greift schon, wenn nur Tatsachen vorliegen, die die Schlussfolgerung rechtfertigen, der betreffende Ausländer gehöre einer terroristischen Vereinigung an oder unterstütze sie.[40] Sie macht aber eine aktuelle Gefährlichkeitsprognose des Ausländers nicht hinfällig.[41] § 54 Nr. 5a AufenthG schützt die freiheitliche demokratische Grundordnung und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland.[42] Die Vorschrift bedroht denjenigen mit Ausweisung, welcher diese Grundwerte gefährdet, politisch motiviert gewalttätig wird oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit ihr droht. Nach § 54 Nr. 6 AufenthG wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn er unvollständige oder unzutreffende Angaben in dem sicherheitsrelevanten Zusammenhang macht, den die Vorschrift nennt.[43] Schließlich sollen nach § 54 Nr. 7 AufenthG die Leiter unanfechtbar verbotener Vereine ausgewiesen werden, wenn ihnen andere Ausweisungsgründe nicht nachgewiesen werden können. In diesem Fall soll die Stellung als Vereinsleiter genügen.[44]
Verwirklicht ein Ausländer einen Ausweisungsgrund nach dieser Vorschrift, erfolgt die Ausweisung fast ebenso zwingend wie bei der zwingenden Ausweisung[45], denn sie darf nur und muss dann unterbleiben, wenn sich ein Sachverhalt so erheblich von der vorausgesetzten Normalsituation unterscheidet, dass die regelmäßige Ausweisung ungerecht und insbesondere unverhältnismäßig erscheint.[46] Somit hält die Regelausweisung zwei mögliche Rechtsfolgen bereit. Liegt ein Regelfall des § 54 AufenthG vor, trifft die Ausländerbehörde ohne Ermessensausübung die gebundene Entscheidung, dass der Ausländer ausgewiesen wird.[47] Stellt die Behörde allerdings eine atypische Fallgestaltung fest, die sich durch besondere Umstände von der Menge gleich gelagerter Fälle unterscheidet, so kann die Behörde die Ausweisung sozusagen hilfsweise auf Ermessen stützen.[48] Dann muss der Ausnahmefall aber so bedeutend sein, dass er das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt[49] und die Ausweisung als unangemessene Härte erscheinen lässt[50].
3. Die Ermessensausweisung gemäß § 55 AufenthG
Nach § 55 I AufenthG kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. „Öffentliche Sicherheit und Ordnung“ ist iS des Polizei- und Ordnungsrechts zu verstehen. Sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland sind nur Belange von erheblichem Gewicht, die wegen ihrer Bedeutung besonders schutzwürdig sind.[51] § 55 II AufenthG nennt Regelbeispiele für eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die auch als Richtschnur für das Maß an Schutzwürdigkeit gelten, das ein Interesse iS von § 5 I Nr. 3 AufenthG zu einem „sonstigen erheblichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland“ macht.[52] Ist keines dieser Regelbeispiele erfüllt, ist ein Rückgriff auf § 55 I AufenthG nicht ohne weiteres möglich.[53] So würde z.B. die Regelung des § 55 II Nr. 2 AufenthG ersichtlich ausgehöhlt, würde man eine nur geringfügige Straftat als Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung iS des Abs. 1 deuten und so den Ausländer der Gefahr der Ausweisung aussetzen.[54] Dies deutet, ebenso wie die Begriffe „Regelbeispiel“ und „Richtschnur“, bereits darauf hin, dass im Rahmen des § 55 AufenthG stets eine Gefahrenprognose stattzufinden hat. Das fordert auch, und nicht zuletzt, der ordnungsrechtliche Charakter der Ausweisung.[55] Eine Beeinträchtigung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung stellt der Ausländer dann nur dar, wenn sein Verbleib im Bundesgebiet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu zukünftigen Gefahren für diese Rechtsgüter führt. Im Rahmen der Prognose dürfen aber frühere Beeinträchtigungen und Gefährdungen berücksichtigt werden.[56]
Anders als bei der zwingenden und der Regelausweisung wird der Ausländer im Rahmen der Ermessensausweisung nicht zwangsläufig ausgewiesen. Vielmehr liegt die Entscheidung über die Ausweisung im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörde. Sie hat mittels Abwägung der Umstände, die für und gegen die Maßnahme sprechen, zu prüfen, ob die Ausweisung geboten ist.[57] Diese ist belastender Verwaltungsakt[58] und muss somit ganz im Sinne des Ordnungsrechts zur Erreichung des Ziels, einer vom Ausländer ausgehenden Gefahr durch seine Entfernung aus der Bundesrepublik zu begegnen und ihm eine Wiedereinreise zu verwehren, geeignet, erforderlich und angemessen sein[59].
[...]
[1] Wegner, DÖV 1993, 1031 (1031).
[2] Migrationsbericht 2006, 3.
[3] Migrationsbericht 2006, 3.
[4] Migrationsbericht 2006, 3.
[5] Wegner, DÖV 1993, 1031 (1031).
[6] Rebmann, 10.
[7] Wegner, DÖV 1993, 1031 (1031).
[8] Boese, 28 f.
[9] Boese, 29.
[10] www.statistik-portal.de/Statistik-Portal/de_jb01_jahrtab2.asp.
[11] Die Speicherung von Daten eines Ausländers gem. § 2 I AZRG ist zulässig, wenn er sich nicht nur vorübergehend im Bundesgebiet aufhält.
[12] Boese, 34.
[13] Boese, 34.
[14] Im Jahr 2006 lag der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen bei diesen Straftaten bei 95 %; PKS, 108, Tabelle 67.
[15] von Pollern, ZAR 1996, 175 (175).
[16] PKS, 105.
[17] PKS, 108, Tabelle 67.
[18] So Schwind, FS für Böhm, 1999, 323 (329); Steffen, FS für Kaiser, 1998, 663 (667); PKS, 105.
[19] Boese, 61.
[20] Ahlf, ZAR 1993, 132 (133 f.).
[21] Ahlf, ZAR 1993, 132 (134).
[22] Boese, 61.
[23] Schwind, FS für Böhm, 1999, 323 (330).
[24] Boese, 79.
[25] Boese, 79.
[26] Boese, 79.
[27] Laubenthal, FS für Böhm, 1999, 307 (316).
[28] Auch „Ist-Ausweisung“ oder „Muss-Ausweisung“; Renner, Rn. 3 zu § 53.
[29] Renner, Rn. 9 zu § 53.
[30] § 96 AufenthG stellt einen Straftatbestand im AufenthG dar, § 97 AufenthG qualifiziert § 96 AufenthG.
[31] Boese, 87, in Bezug auf § 47 I AuslG a.F., dem § 53 AufenthG im hier Wesentlichen entspricht.
[32] Renner, Rn. 2 zu § 53.
[33] Renner, Rn. 3 zu § 53.
[34] BVerwG, NVwZ 1994, 505 (506), in Bezug auf § 47 I AuslG a.F., dem § 53 AufenthG im hier Wesentlichen entspricht.
[35] Die Vorschrift ist aus § 47 II AuslG a.F. hervorgegangen, wurde allerdings um einige Tatbestandsmerkmale erweitert.
[36] Huber, NVwZ 2005, 1 (5).
[37] Renner, Rn. 9 zu § 54.
[38] Renner, Rn. 10 zu § 54.
[39] Renner, Rn. 11 zu § 54.
[40] Renner, Rn. 13 zu § 54; Angehörigkeit und Unterstützung reichen deshalb bereits aus, weil terroristische Vereinigungen per se als gefährlich gelten.
[41] Renner, Rn. 13 zu § 54.
[42] Renner, Rn. 15 zu § 54.
[43] Renner, Rn. 20 zu § 54.
[44] Renner, Rn. 21 zu § 54.
[45] Boese, 90, in Bezug auf § 47 II AuslG a.F., dem § 54 AufenthG im hier Wesentlichen entspricht.
[46] Renner, Rn. 2 zu § 54.
[47] Boese, 91, in Bezug auf § 47 II AuslG a.F., dem § 54 AufenthG im hier Wesentlichen entspricht.
[48] Renner, Rn. 4 zu § 54.
[49] Renner, Rn. 3 zu § 54.
[50] BT-Drs. 11/6321, 73, in Bezug auf § 47 II AuslG a.F., dem § 54 AufenthG im hier Wesentlichen entspricht.
[51] Renner, Rn. 12 zu § 55; bloße Belästigungen reichen nicht aus.
[52] Renner, Rn. 12 zu § 55.
[53] BayVGH, Beschluss vom 04.09.1998 – 10 CS 98.2114, EZAR 035 Nr. 24, 3, in Bezug auf §§ 45 I, 46 Nr.2 AuslG a.F., denen § 55 I, II im hier Wesentlichen entspricht.
[54] Renner, Rn. 9 zu § 55.
[55] Renner, Rn. 10 zu § 55.
[56] Renner, Rn. 10 zu § 55.
[57] BVerwG 48, 299 (301).
[58] Welte, Rn. 403.
[59] Boese, 96.
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