Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Thematik der singulären Identität und Vorurteile und inwiefern die Zuschreibung von singulären Identitäten als Gewalt bezeichnet werden kann.
Jeder Mensch ist ein vielschichtiges Wesen. Jede Person zeichnet sich durch eigene Prägungen, individuelle Neigungen und Vorlieben aus. All diese Entwicklungen spielen sich zudem stets in einem gewissen Rahmen durch gesellschaftliche Strukturen ab. Schwarze Menschen sind in Nordamerika mit anderen Faktoren konfrontiert als schwarze Menschen im Afrika südlich der Sahara. Eine Frau zu sein, bedeutet mitnichten, die gesamte Vielfältigkeit der Ungleichheiten aller Frauen erkennen zu können: was es, sozial betrachtet, bedeutet, weiblich zu sein oder sich als weiblich zu identifizieren, stellt sich je nach Schichtzugehörigkeit, Herkunftsregion, gesellschaftspolitischen Ausrichtungen sowie weiteren Faktoren völlig unterschiedlich dar.
Singuläre Identitäten und Vorurteile: inwiefern ist die Zuschreibung singulärer Identitäten Gewalt?
Jeder Mensch ist ein vielschichtiges Wesen. Jede Person zeichnet sich aus durch ganz eigene Prägungen, individuelle Neigungen und Vorlieben. All diese Entwicklungen spielen sich zudem stets in einem gewissen Rahmen durch gesellschaftliche Strukturen ab. Schwarze Menschen sind in Nordamerika mit anderen Faktoren konfrontiert als schwarze Menschen im Afrika südlich der Sahara. Eine Frau zu sein, bedeutet mitnichten, die gesamte Vielfältigkeit der Ungleichheiten aller Frauen erkennen zu können: was es, sozial betrachtet, bedeutet, weiblich zu sein oder sich als weiblich zu identifizieren, stellt sich je nach Schichtzugehörigkeit, Herkunftsregion, gesellschaftspolitischen Ausrichtungen sowie weiteren Faktoren völlig unterschiedlich dar.1
Und doch, alle Menschen kennen es: wir gleichen Wahrgenommenes und Erlebtes stets mit unserem eigenen Erfahrungswissen ab, mit bereits Bekanntem, Vermutetem oder mit dem, was wir aufgrund unserer sozial geprägten und persönlichen Denkweise für logisch oder möglich halten. Diese Prozesse des ständigen Einordnens, der Unterteilung aller Eindrücke, Objekte und Personen in Kategorien, gehören zu den Menschen wie ihr impliziter Wunsch, zu einer sozialen Gemeinschaft zu gehören und sich innerhalb dieser erfolgreich zu verorten. Es sind Strategien, die es jeder einzelnen Person ermöglichen, der Welt ihre schier endlose Komplexität zumindest vorerst zu nehmen und die eigene Wahrnehmung zu entlasten. Leben in Gesellschaft wird so erst möglich, da wir uns ohne Kategorisierungen und in der Natürlich sind dies nur Beispiele. Ähnlich verhält es sich bei Menschen, die sich nicht mit offiziell anerkannten Geschlechterbezeichnungen identifizieren, Menschen mit einer nicht die Mehrheit darstellenden sexuellen Orientierung, Menschen mit körperlichen und psychischen Einschränkungen, und Menschen, die an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit nicht dem entsprechen, was mehrheitlich als normal betrachtet wird.
Konsequenz Zuschreibungen gar nicht erst in unserem gesellschaftlichen Dasein zurechtfinden könnten.2
Zugleich wachsen so alle Menschen in eine bestimmte Gesellschaft hinein. Sie werden geboren in ein bestehendes System mit vorhandenen, mehr oder weniger beweglichen Strukturen. In der persönlichen Entwicklung eignen wir uns kollektiv angelegte Schemata sowie individuelle und flexiblere Stereotypen an, die unsere Sozialisierung und die Aller unserer Mitmenschen strukturieren und sich an Entwicklungsprozesse unserer Psyche anpassen können. Solche Strukturen sind beruhigend und wirken zunächst entlastend - sie haben primär keinen normativen Charakter.
Das Problem sind also nicht die Werkzeuge an sich, die alle Menschen benötigen und anwenden, um sich zu orientieren, um sich ein Netz aus Überzeugungen und Werten zurechtzulegen und in der Lage zu sein, sich innerhalb eines gewissen gesellschaftlichen Erwartungsrahmens angemessen, also zumindest zu einem Mindestmaß sozial verträglich, zu verhalten. Auch, wenn dies über weite Strecken hinweg unbewusst oder mindestens unbedacht geschieht, so ist es doch möglich, dass durch Erfahrungswerte und Reflexion eine Verschiebung oder Erweiterung dieses Netzes stattfinden kann. So findet idealerweise ein Dialog zwischen Einzelperson und Wahrnehmungen aus dem Außen statt, der einerseits weder dauerhaft überfordert noch andererseits die soziale Wirklichkeit zu Gunsten eigener festgefahrener Denkstrukturen verkennt.
Und doch hantieren wir stets mit einem zweischneidigen Schwert. Didier Eribon schreibt, dass die „soziale Wirklichkeit [...] überall ihre Urteile spricht und ihre Markierungen hinterlässt.“3 Der Gesellschaft wohne eine Gewalt inne, durch die die soziale Welt darüber hinaus definiert werde.4
Die Gefahr besteht also, anders gesagt, in demjenigen Bereich, der „vor kritischer Reflexion abgeschirmt“ ist und wo Werte und Überzeugungen fixiert werden, über akute Situationen oder Veränderungen hinweg, und zwar genauer in seiner negativen und, noch mehr, kollektiven Ausprägung.4 Doch woher kommt die Motivation für eine solche Art der Interpretation, die, genau genommen, gar keine mehr ist? Eine der in der Theorie der sozialen Identität angenommenen Voraussetzungen für das Herausbilden einer Gruppe, die es aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung vermag, sich selbst permanent an die Spitze der Hierarchie zu erheben und somit Urteile zu fällen, einer sogenannten In-Group, ist das Streben von Individuen nach dem Erlangen oder Aufrechterhalten eines positiv geprägten Selbstbildes und das ihrer sozialen Identität.5 Da sich die meisten Vorhaben in der Gruppe einfacher umsetzen lassen und sich Menschen dazu zusammenfinden, gemeinsame Ziele zu verfolgen, ist es nur nachvollziehbar, dass dies auch bei der Herausbildung oder Aufrechterhaltung eines bestimmten Selbstbildes erfolgt. Mit Hinblick auf destruktive kulturelle Gruppenbildungen erklärt Didier Eribon allerdings:
„Das Licht, das die Kultur für alle darstellt, die einen Zugang zu ihr und in ihr die Mittel zu einer Emanzipation finden, hat allerdings eine dunkle Kehrseite: die Gewalt einer Trennung, durch die so viele Menschen von dem ausgeschlossen werden, was die Gesellschaft in den allgemeinsten Diskursen über sich selbst [...] als die edelsten Errungenschaften bezeichnet, als das Erstrebenswerte schlechthin.“6 7
Eine gesellschaftliche Gruppe, die sich über ihre vermeintliche Kultur zu definieren versucht, ist unweigerlich auf eine Out-Group angewiesen, welcher die Außenseiter, die NichtZugehörigen zugerechnet werden. Wenn es diejenigen gibt, die ausgeschlossen sind, führt dies zu einer Erhöhung derjenigen, die Zugang haben, der Kultivierten und Zugehörigen. Aleida Assmann erklärt die Funktion und Zielsetzung, die sich hinter Stereotypen, Vorurteilen und folglich am Ursprung kollektiver Zuschreibungen singulärer Identität befinden: es gehe um die Aufrechterhaltung einer Position, die nur durch eine Mitkonstruktion des Anderen gelinge.8 Inwieweit genau diese Tatsache ihren Schatten auf die augenscheinlich Bessergestellten zurückwirft, wird im weiteren Verlauf noch deutlich werden.
Auch Regina Ammicht-Quinn nennt die singuläre Festlegung, die eine Person oder Gruppe auf der Basis einer einzigen Eigenschaft identifiziert und in der Folge ausschließlich aus diesem Blickwinkel betrachtet und abwertet, eine klare Gewalthandlung.9
Ihre Gefahr lauert in ihrem Mangel an expliziter (Be-)Greifbarkeit: man wird geboren mit bestimmten Eigenschaften oder entwickelt diese im Laufe des Lebens. Die negativen Aspekte, die das Innehaben dieser Eigenschaften auf gesellschaftlicher Ebene mit sich bringen könnte, werden zwar erlernt, halten die Persönlichkeit jedoch zumeist nicht davon ab, sie zu tragen, zumal Vieles unter höchsten Anstrengungen verborgen werden kann. Die Notwendigkeit, oftmals die sexuelle Orientierung oder die soziale Herkunft verstecken zu müssen, um keinen gesellschaftlichen Sanktionen ausgesetzt zu sein, stellt für die betreffende Person einen klaren Akt der Gewalt gegen ihre komplette Person dar. Dieser Aspekt wird bei Menschen, die das vermeintlich unerwünschte oder dominante Attribut nicht verbergen können, um eine erdrückende sichtbare Komponente erweitert.10 Alles wird von diesem einen Aspekt bestimmt. Niemand soll ihn entdecken, und wenn doch, stellt das Individuum sich bereits widerstandslos darauf ein, durch den Filter der Einseitigkeit beurteilt zu werden.
Doch auch im Falle von religiösen Minderheiten, in Einwanderungskontexten oder wenn die betreffende Eigenschaft schlicht nicht unbedingt versteckt werden muss, weil zumindest keine direkte und offene Unterdrückung zu befürchten ist, müssen die betreffenden Menschen ihr gesamtes Sein darauf ausrichten oder werden dies früher oder später auch ohne Zwang von außen tun; alles wird von genau dieser einen Komponente ihres Selbst definiert werden, denn, so Eribon: die bloße Bewusstwerdung über die durch die Gesellschaft wirkende Gewalt ermögliche es noch nicht, sich als ihr unterworfenes Individuum zu befreien. Vielmehr gingen die Erfahrungen im Umgang mit den Wahrnehmungen durch Verinnerlichung in Form von psychologischen Mechanismen in die innere Welt über.11 Prozesse der Zuschreibung von Identität beschränken sich darüber hinaus nicht auf bloße Wahrnehmung, sondern rahmen auch Interaktion maßgeblich. Wenn Zuschreibungen durch ausreichend relevante Personen wie Familienangehörige, hierarchisch Höhergestellte oder gar die breite öffentliche Meinung lange genug wirken, findet eine Verschiebung der Selbstwahrnehmung statt, die diese Verkennung der vielschichtigen eigenen Person in eine tiefere Ebene einschreibt. Die Fallstricke, die interreligiöses Lernen oder interkulturelle Bildungsansätze so mit sich bringen, sind vor diesem Hintergrund hochaktuell und nicht zu unterschätzen. Statt gegenseitiges und Selbst-Verständnis zu fördern können leicht Überzeichnungen der Unterschiede erfolgen und so ein verzerrter und verzerrender Blick auf individuelle Identitäten gelegt werden.
Auch oder gerade in sozialen Räumen, in denen die Wertschätzung von Unterschieden und die Akzeptanz unterschiedlicher Prägungen und Identitätsentwürfen gesteigert werden soll zugunsten eines friedlichen und verständnisvollen Miteinanders, besteht also die Gefahr, genau Gegenteiliges zu erreichen und Differenzauffassungen zu verfestigen.
Doch auch sich selbst tun diejenigen, die die Zuschreibung verursachen, Gewalt an: Sie „verbau[en] sich [...] den Weg zu neuen Wahlmöglichkeiten, Erfahrungen, Vorlieben und Entdeckungen. Ein vorurteilsbehafteter Mensch lebt in einer engen, eingezäunten Welt [...]." Selbst, wenn man den verheerenden Effekt auf ihre Zuschreibungssubjekte ausblenden würde, so kann dies eigentlich nicht das Ziel des Daseins sein. Die wenigsten Menschen nehmen sich gezielt vor, ihre Mitmenschen bewusst auf eine Komponente deren Identität zu reduzieren, um sie sich zu geistigen Untertanen zu machen. Offen und zum Selbstzweck gelebte Xenophobie, Homophobie, Misogynie sowie verweigerte Anerkennung für vermeintliche Abweichungen des Normalen generell sind zwar von hoher Aktualität und noch immer stark verbreitet. Trotzdem stellt jeder dieser Missstände für sich eine extreme Ausprägung dessen dar, was geschieht, wenn der oben angesprochene bewegliche Austausch zwischen eigenem Kategoriensystem (einer Person oder einer Gruppe) und Wahrgenommenem zum Erliegen kommt. Othering erfüllt keinen anderen Zweck als den der vermeintlichen Rückbestätigung des Selbst der überlegenen Seite: erst durch das Definieren dessen, was anders ist, was auf eine unerwünschte Art abweicht, wird ein fragiles Gebilde errichtet, um eine positive Aussage über das Selbst, das Eigene, das beruhigend Richtige 13 Vgl. Meyer-Magister 2012, 177f. Assmann 2012, 13. 14 Oder sollte man besser schreiben: Zuschreibungsobjekte? Im Duden lautet die philosophische Definition von Subjekt: „mit Bewusstsein ausgestattetes, denkendes, erkennendes, handelndes Wesen" - es ist wahrscheinlich, dass ein Mensch, der Zuschreibungen singulärer Identitäten vornimmt und diese nicht zu hinterfragen gewillt ist, bei näherem Betrachten der durch ihn definierten Person neben ihrer Vielschichtigkeit zwar ihre Vollwertigkeit als Mensch nicht abspricht, sie aber ebenso wenig bewusst wahrzunehmen bereit ist.
[...]
1 Natürlich sind dies nur Beispiele. Ähnlich verhält es sich bei Menschen, die sich nicht mit offiziell anerkannten Geschlechterbezeichnungen identifizieren, Menschen mit einer nicht die Mehrheit darstellenden sexuellen Orientierung, Menschen mit körperlichen und psychischen Einschränkungen, und Menschen, die an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit nicht dem entsprechen, was mehrheitlich als normal betrachtet wird.
2 Vgl. auch Tajfel/Turner, 15 f.
3 Eribon 2017, 10.
4 Assmann 2012, 4.
5 Vgl. Tajfel/Turner 1986, 16.
6 Vgl. Eribon 2017, 116.
7 Dieses Gefüge lässt sich über einen Kulturbegriff hinaus mit einer Vielzahl weiterer Kategorien fortführen.
8 Vgl. Assmann 2012, 14f.
9 Vgl. Ammicht-Quinn 2008, 2.
10 Dazu können das Geschlecht, die Hautfarbe oder sichtbare Einschränkungen gehören.
11 Vgl. Eribon 2017, 38 sowie auch Assmann 2012.
- Arbeit zitieren
- Louisa Fischer (Autor:in), 2017, Singuläre Identitäten und Vorurteile. Ist die Zuschreibung singulärer Identitäten Gewalt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/919323
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