J.W. von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers gilt heute als be-sonderes Literaturereignis, das auf vielfältigste Weise interpretiert wird und interpretiert worden ist. Doch schon zu seiner Zeit hat der Werther eine unge-heure Welle der Begeisterung, ja ein regelrechtes ‚Wertherfieber’, ausgelöst. Als erster deutschsprachiger Roman, der Weltliteratur geworden ist, ist er als literarische Revolution in die Literaturgeschichte eingegangen, und er gehört auch heute noch zu den wohl wichtigsten Werken des deutschen Literaturkanons.
Doch was macht die Besonderheit des Werthers aus? Warum hatte gerade der Werther so einen durchschlagenden Erfolg? Dies zu beantworten, muss man den Roman im Kontext seiner Zeit betrachten.
Der Werther entsteht als Briefroman in einer Zeit, in der sich sowohl in der Briefkultur, als auch in der Briefromankultur grundlegende Änderungen ein-stellen. Als eine besondere Form des modernen Briefromans bildet der Wer-ther selbst dabei einen entscheidenden Einschnitt.
Vorliegende Arbeit will den Werther im Kontext der Brief- und Briefro-mankultur des 18. Jahrhunderts darstellen und daraus seinen durchschlagen-den Erfolg begründen.
Dazu soll zunächst einmal die Briefkultur und ihre grundlegenden Entwick-lungen im 18. Jahrhundert dargestellt werden. In einem weiteren Kapitel wird der Briefroman des 18. Jahrhunderts, der sich unter Einfluss der Veränderun-gen in der Briefkultur entwickelt, vorgestellt, den Goethe sich zum Vorbild nimmt, um ihn dann umzuformen.
Das vierte Kapitel der Arbeit betrachtet Goethes Werther als Besonderheit und Weiterentwicklung im Kontext der dargestellten Brief- und Briefroman-kultur.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Briefkultur des 18. Jahrhunderts
3. Der Briefroman des 18. Jahrhunderts
4. J. W. von Goethes Werther als Radikalisierung des Briefromans des 18. Jahrhunderts
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
J.W. von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers gilt heute als be- sonderes Literaturereignis, das auf vielfaltigste Weise interpretiert wird und interpretiert worden ist. Doch schon zu seiner Zeit hat der Werther eine unge- heure Welle der Begeisterung, ja ein regelrechtes ,Wertherfieber’, ausgelost. Als erster deutschsprachiger Roman, der Weltliteratur geworden ist, ist er als literarische Revolution in die Literaturgeschichte eingegangen, und er gehort auch heute noch zu den wohl wichtigsten Werken des deutschen Literaturka- nons.
Doch was macht die Besonderheit des Werthers aus? Warum hatte gerade der Werther so einen durchschlagenden Erfolg? Dies zu beantworten, muss man den Roman im Kontext seiner Zeit betrachten.
Der Werther entsteht als Briefroman in einer Zeit, in der sich sowohl in der Briefkultur, als auch in der Briefromankultur grundlegende Anderungen ein- stellen. Als eine besondere Form des modernen Briefromans bildet der Werther selbst dabei einen entscheidenden Einschnitt.
Vorliegende Arbeit will den Werther im Kontext der Brief- und Briefromankultur des 18. Jahrhunderts darstellen und daraus seinen durchschlagenden Erfolg begrunden.
Dazu soll zunachst einmal die Briefkultur und ihre grundlegenden Entwick- lungen im 18. Jahrhundert dargestellt werden. In einem weiteren Kapitel wird der Briefroman des 18. Jahrhunderts, der sich unter Einfluss der Veranderun- gen in der Briefkultur entwickelt, vorgestellt, den Goethe sich zum Vorbild nimmt, um ihn dann umzuformen.
Das vierte Kapitel der Arbeit betrachtet Goethes Werther als Besonderheit und Weiterentwicklung im Kontext der dargestellten Brief- und Briefroman- kultur.
2. Die Briefkultur des 18. Jahrhunderts
Das 18. Jahrhundert ist fur die Briefkultur von ganz besonderer Bedeutsamkeit. Zum einen bringt dieses Jahrhundert bahnbrechende Veranderungen fur den Gat- tungscharakter des Briefes mit sich, zum anderen entsteht in diesem Jahrhundert insbesondere in der burgerlichen Schicht ein ubermaBiger Drang zum Briefschrei- ben. Begunstigt wird die aufkommende Mode des privaten Briefschreibens durch die Einrichtung eines regelmaBigen und fur jedermann zuganglichen Postdienstes gerade in diesem Jahrhundert.[1]
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist das Briefschreiben uberwiegend beschrankt auf eine diplomatische Korrespondenz Hochgestellter und Kaufleuten, weshalb der schriftliche Stil der Verwaltungssprache den Brief normgebend dominiert.[2] Unter diesem normierenden Einfluss ist auch der Privatbrief des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist stark formalisiert und hat nach Musterbuchern, sogenannten „Briefstellern“, verfasst zu werden. „Zahlreiche Briefsteller vermitteln seine Re- geln in einem fein verastelten System, den verschiedenen Anlassen entsprechend vom galanten bis zum geschaftlichen Brief.“[3] Selbst galante Briefe hatten also nach ganz bestimmten Regeln, quasi nach Rezept, verfasst zu werden. Der Brief des anfanglichen 18. Jahrhunderts enthalt demnach kaum individuelle Anteile und ist durch die Reglementierung stark entemotionalisiert. Er gilt in dieser Zeit als Bestandstuck der Rhetorik und rhetorischer Kunstubung.[4]
Im Verlauf der ersten Halfte des 18. Jahrhunderts lost sich jedoch diese Regel- haftigkeit zugunsten einer uneingeschrankten Subjektivierung des Briefes auf. Das neue Prinzip des Briefschreibens lautet nun >Schreibe, wie du redest<, wo- durch sich der Brief zu dem Ausdrucksmittel burgerlicher Subjektivitat, Emotio- nalitat und Intimitat schlechthin entwickeln kann.[5] Briefeschreiber streben nun- mehr nicht mehr nach rhetorischer Kunsthaftigkeit, sondern nach Originalitat und Individualitat, vor allem aber nach Unmittelbarkeit.
Die burgerliche Schicht, die im 18. Jahrhundert zunehmend an wirtschaftlicher Bedeutung gewinnt, entwickelt ein bisher unbekanntes Gefuhl fur den eigenen Wert und sucht nach Moglichkeiten, dem neu gewonnenen Selbstwertgefuhl Aus- druck zu verleihen und die eigenen Gedanken und Empfindungen mitzuteilen.[6] Diese Moglichkeiten findet sie in Form des personlichen Briefes.
Begleitet und begunstigt wird die Entwicklung des Briefes zu einem Medium personlicher Empfindung zusatzlich durch das Aufkommen des Pietismus. Ja, Reinhard Nickisch sieht sie sogar „am Anfang dieser Entfaltung des personlichen Briefes“[7].
Die vorrangig burgerliche, protestantische, die Innerlichkeit betonende From- migkeitsbewegung bringt im 18. Jahrhundert eine neue ,Sprache der Innerlichkeit’ hervor, die dem gebildeten und religios affektierten Burgertum eine vollig neuar- tige Ausdrucksmoglichkeit der eigenen Emotionalitat ermoglicht. (Dies gilt je- doch nicht in erster Linie fur das Medium des Briefes, auch der Ausdruck der Oden Kloppstocks ware ohne den Pietismus gar nicht denkbar.)
Im Zuge des Pietismus wird der Brief zum Medium des Austausches uber Frommigkeit, Gottes- und Glaubenserlebnisse. Obwohl sie Ausdruck emotionaler Innerlichkeit sind, sind diese Briefkorrespondenzen niemals als Privatbriefe ge- dacht worden. Das besondere am Brief des 18. Jahrhunderts ist, dass er offentlich ist: Man sammelt Briefwechsel, stellt sie zusammen und liest sie, mit dem Einver- standnis des Briefschreibers, in der Familie oder unter Gleichgesinnten vor. Dabei steht die Emotionalitat im Vordergrund: Man weint gemeinsam uber die Leidens- erfahrungen und die Gotteserfahrungen dieser Briefwechsel. Nichts ist so tranen- selig wie das 18. Jahrhundert, vor allem im Hinblick auf die Briefkultur.
Doch der Brief bleibt nicht allein an den Austausch in Glaubensdingen gebun- den. In Ermangelung einer geistig-kulturellen Metropole aufgrund der Vielstaate- rei in Deutschland wird der Brief zur einzigen Moglichkeit des kulturellen Aus- tausches.[8],,Mit Recht ist folglich festgestellt worden, dab »kaum je die Hohe einer geistigen Kultur in dem MaBe an die Hohe einer Briefkultur gebunden« war wie im 18. Jahrhundert“[9], so Nickisch.
Uber den neuen Innerlichkeitsausdruck und den kulturellen Austausch hinaus, ist die Briefkultur des 18. Jahrhunderts auch noch auf anderer Ebene von besonde- rer Bedeutung fur das Burgertum, und zwar in sozialhistorischer oder politischer Dimensionen: Briefe sind es, in dem das Burgertum seine Klassenidentitat zu formulieren beginnt.
Das Burgertum identifiziert sich uber die spezifische Modellierung von Inner- lichkeit und Emotionalitat, die sich in den Briefen ausdruckt. Die Briefe formulie- ren eine spezielle Tugendhaftigkeit, mit der sich das Burgertum vom Adel abzu- grenzen sucht, der als korrupt und vor allem als moralisch korrumpiert gilt. Der Brief wird damit zum Kommunikationsmedium uber Klassenidentitat. Der Brief wird zur ,,subversiv wirksamen Waffe [...], mit der es [das sich emanzipierende Burgertum] den sozialen Vorrang des Adels erfolgreich in Frage stellt“[10].
Daruber hinaus kann der burgerliche Brief des 18. Jahrhundert als eine Art ,,Er- satzparlament“ fur politisch nicht-privilegierte, gebildete burgerliche Schichten gesehen werden. Wahrend im 18. Jahrhundert keine Verfassung dem Burgertum zugesteht, seine Standesinteressen zu artikulieren, ermoglicht dies der Briefwech- sel, der sich der offentlichen Kontrolle weitgehend entzieht. Die Briefe stellen also den deutschen Beitrag zur politischen Emanzipation des Burgertums in Euro- pa dar.[11]
Alles in allem darf das 18. Jahrhundert also ohne Ubertreibung und vollig un- eingeschrankt als das Jahrhundert des Briefes bezeichnet werden.
3. Der Briefroman des 18. Jahrhunderts
Naturlich schlagen sich revolutionare Entwicklungen in einer (Brief-)Kultur, wie sie im 2. Kapitel dargestellt sind, auch in der Literatur eines Jahrhunderts nie- der. Die Literatur des 18. Jahrhunderts adaptiert die Entwicklung der Briefkultur im Briefroman als Formelement.
Allerdings kennt die Literatur eingelegte Einzelbriefe in Erzahlungen und Ro- manen bereits seit der Antike, und insbesondere die deutsche Literatur spatestens seit der Zeit der Schaferromane und der heroisch-galanten Romane des 16. und 17. Jahrhunderts.[12] Auch Beispiele fur Briefromane, die ganzlich auf verknupfen- des Erzahlen zwischen den Brieffolgen verzichten, sind aus dem 16. und 17. Jahr- hundert bereits bekannt[13]. Die Anfange des Briefromans sind demnach schwer zu bestimmen und lassen sich keinesfalls auf das 18. Jahrhundert festlegen.
Das 18. Jahrhundert entdeckt jedoch die Form des Briefes und des Briefromans neu, greift sie fur sich auf und macht sie sich zur Mode. Entsprechend dem regel- rechten ,Boom’ des Briefeschreibens im 18. Jahrhundert, ist naturlich auch das literarische Pendant, die neuartige Form des Briefromans, im 18. Jahrhundert von auBerstem Erfolg gekront. Wenig verwunderlich, muss doch einem brieffanati- schen Publikum, dessen Hauptinteresse in der Mitteilung subjektiver Innerlichkeit und Empfindung liegt, die literarische Form des Briefromans auBerst sympathisch erscheinen. Insbesondere, da die Grunddarbietungsform des Briefromans, wie Reinhard Nickisch es darlegt, die Gefuhlssprache ist.[14]
Daruber hinaus zeichnet sich der Briefroman besonders dadurch aus, dass er durch die Briefform besonders ,echt’ und glaubwurdig erscheint. Der Leser macht sich die Figuren zu Objekten der Identifikation und dadurch kann eine „Intimitat der Lekture [entstehen], wie sie keine andere Gattung hervorzubringen vermag“[15].
Die Briefform ist also wohl das Entscheidende fur den bahnbrechenden Erfolg des Briefromans gerade im 18. Jahrhundert, denn „sie empfiehlt sich [...] den Burgern als quasi Naturform der Kunst, gleicherweise geeignet fur moralische Reflexion und intime Selbstvergewisserung“[16]. Die Briefform fuhrt zu einer besonders groBen Authentizitat der Romane und damit zu einer besonderen ,Natur- lichkeit’, wie sie das aufstrebende Burgertum des 18. Jahrhunderts programma- tisch in einer „Kunst gegen das Kunstliche“ [17] fordert. Diese neue ,Kunstform ge- gen das Kunstliche’ fuhrt dabei nicht einfach die bestehenden Formtradition fort, sondern sie markiert eine Zasur in der Tradition des Briefromans.[18]
[...]
1 vgl. Nickisch, Reinhard M. G.: Brief. Stuttgart: 1991, S. 188.
2 vgl. Mattenklott, Gert: Briefroman. In: Glaser, Horst Albrecht: Zwischen Absolutismus und Auf- klarung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang (Deutsche Literatur Bd. 4) Hamburg: 1980. S. 186.
3 Mattenklott, 1980, S. 186.
4 vgl. Nickisch, S. 49.
5 vgl. Mattenklott, 1980, S. 50-51.
6 Vgl. Nickisch, S. 44.
7 Nickisch, S. 44.
8 vgl. Nickisch, S. 53 u. 54.
9 Nickisch, S. 54.
10 Nickisch, S. 48.
11 vgl. Nickisch, S. 46.
12 vgl. Nickisch, S. 187.
13 vgl. Mattenklott, 1980, S. 186.
14 vgl. Nickisch, S. 190.
15 Anton, Anette C.: Authentizitat als Fiktion: Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar: 1995. S. 66.
16 Mattenklott, 1980, S. 187.
17 Mattenklott, S. 185.
18 vgl. Mattenklott, 1980, S. 187.
- Quote paper
- Kristof Hoppen (Author), 2008, Johann Wolfgang von Goethes 'Die Leiden des jungen Werther' im Kontext der Brief(roman)kultur seiner Zeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91739
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