Die Arbeit beschäftigt sich anhand eines Fallbeispiels mit der Thematik einer begleitenden Psychotherapie während einer Krebserkrankung. Onkologische Patientinnen und Patienten sind vielfältig belastet. Komorbiditäten bestimmen ihren Krankheitsverlauf sowie ihr Krankheitserleben. Die Schwere ihrer Erkrankung, die sich über den Karnofsky-Index bestimmen lässt, chronische Schmerzsyndrome, tumorbedingte Anorexie, Übelkeit, Erbrechen und klinisch relevante Atembeschwerden tragen signifikant zu Angst, Depressivität, massiv reduzierter Lebensqualität und Demoralisierung bei. Daher stellt sich konkret die Frage, inwieweit eine begleitende Psychotherapie sinnvoll ist und in welchem Ausmaß sie stattfinden sollte, ob in Einzel- oder in Gruppentherapie.
Inhaltsverzeichnis
1 Fallbeispiel
1.1 Fall
1.2 Vulnerabilitäts-Stress-Modell
2 Aktueller Forschungsstand
3 Kritische Reflexion und Diskussion
Literaturverzeichnis
1 Fallbeispiel
1.1 Fall
Frau B. ist 52 Jahre alt und stellte sich vor einigen Monaten bei ihrem Hausarzt vor, um eine Verhärtung der linken Brust abklären zu lassen. Außerdem berichtete sie von vermehrter Müdigkeit, einer Leistungsminderung und einem Gewichtsverlust von drei Kilogramm in den letzten Monaten. Zudem litt sie unter vermehrtem Nachtschweiß. Bei der körperlichen Untersuchung war ein etwa eineinhalb Zentimeter großer verbackener, kaum verschieblicher und nichtschmerzhafter Tumor tastbar. Daraufhin erfolgte eine Mammografie sowie eine Biopsie. Im Rahmen der Untersuchungen wurde die Diagnose Mammakarzinom gestellt. Aufgrund des auffälligen Befundes wurde die Patientin zeitnah mittels Chemotherapie nach den gängigen Leitlinien behandelt und operiert, wobei die Brust entfernt werden musste. Die Biopsie ergab, dass die umgebenden Lymphknoten noch nicht betroffen waren. Bei der Untersuchung auf Metastasen ergab sich ebenfalls kein auffälliger Befund, eine Bestrahlung war nicht notwendig.
Die Patientin sprach gut auf die Therapie an, sodass sie vollständig remittierte. In der regelmäßigen Nachsorge gab es bis jetzt keinen Anhalt für ein erneutes Auftreten.
Frau B. ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder im Kleinkind- und Kindergartenalter. Sie ist Friseurin und in Teilzeit beschäftigt. Ihr Ehemann arbeitet als Bauarbeiter, kommt abends müde nach Hause und redet sehr wenig mit der Patientin über die Problematik ihrer Erkrankung. Das belaste sie sehr. Oft fühle sie sich alleine und missverstanden. Sie hat das Gefühl, weniger wert zu sein als vor der Erkrankung und als Frau für ihren Mann nicht mehr attraktiv zu sein, da ein „Stück von ihr“ fehle. Sie hat Angst davor, aufgrund ihrer Erkrankung stark leiden zu müssen und an der Erkrankung zu sterben.
Frau B. klagt vor allem über Müdigkeit, Abgeschlagenheit und über eine hohe Stressbelastung. Oft denke sie daran, dass ein Rezidiv auftreten könne, zudem hat sie die Freude am Leben verloren. Außerdem hadere sie mit ihrem Schicksal und fragt sich, warum das Leben so ungerecht ist, welchen Sinn das Leben habe, wenn sie bald sterben müsse. Diese Gedanken verfolgen sie, sodass sie die Zeit mit ihrer Familie nicht mehr genießen könne. Nach einem ausführlichen Gespräch mit ihrem Hausarzt riet ihr dieser zu einer Psychotherapie, damit sie ihre Ängste und ihre Traurigkeit verarbeiten kann. Außerdem verordnete er ihr Bewegung an der frischen Luft, da diese sich auf die Fitness der Patientin auswirke und das Ausführen alltäglicher Aktivitäten erleichtert und informierte sie über psychosoziale Hilfen. Frau B. vereinbarte vierteljährliche Nachsorgetermine in der Gynäkologie und stimmte der Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen zu.
1.2 Vulnerabilitäts-Stress-Modell
Nach dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell (Wittchen & Hoyer, 2011), welches den Komorbiditäten der Depression und den Angststörungen zugrunde liegt, lassen sich intraindividuelle und soziale Vulnerabilitäten feststellen. Im Falle der Frau B. sind die intraindividuellen Faktoren weiblich und 55 Jahre alt. Das soziale Umfeld von Frau B. umfasst einen sicheren sozioökonomischen Status, ein großes familiäres Netzwerk sowie ein gesichertes Familieneinkommen durch ihren Mann und ihre Berufstätigkeit in Teilzeitarbeit, wobei sie sich einen stärkeren Halt ihres Mannes wünscht. Zu den modifizierenden Variablen gehören psychologische Faktoren sowie entwicklungsbezogene. Psychologische Faktoren Frau B. betreffend sind vor allem die starke Angst vor der Erkrankung und vor dem Tod sowie mangelndes Selbstwertgefühl und Distress. Die entwicklungsbiologischen Faktoren umfassen Müdigkeit, Leistungsminderung sowie Schwäche aufgrund der Therapie.
Die Vulnerabilitäten und modifizierenden Variablen könnten sich bei Nichthandeln insbesondere akut in beruflichen Problemen wie Arbeitsunfähigkeit, eventuell resultierende Arbeitslosigkeit bei langer Krankheitsdauer, Hilflosigkeit und Existenzängsten sowie langfristig in sozialem Rückzug, Hoffnungslosigkeit, Verlust der Lebensfreude und Zunahme der Vulnerabilität niederschlagen.
2 Aktueller Forschungsstand
Die Diagnose einer Krebserkrankung wie die von Frau B. bedeutet einen tiefen Einschnitt in das Leben eines Menschen. In Abhängigkeit vom Lebensalter verändert sie den bisherigen Lebensweg radikal. Es stellen sich grundlegende existenzielle Fragen und diese konfrontieren die Patientinnen und Patienten mit der Endlichkeit des Lebens. Durch die Fortschritte in der Medizin überleben deutlich mehr Menschen als früher eine Krebserkrankung, jedoch ist dies häufig mit vermehrten psychischen Folgesymptomen einer chronischen Erkrankung vergesellschaftet (Kapfhammer, 2015). Im weiteren Krankheitsverlauf treten Symptome wie erhöhtes subjektives Leiden, eine stärker beeinträchtigte Lebensqualität, höhere psychosoziale Behinderungsgrade, geringere Adhärenz bei medizinischen Behandlungen und Rehabilitationen sowie eine intensivere, das heißt kostenintensivere Inanspruchnahme medizinischer und sozialer Institutionen auf. Auch auf körperlicher Ebene zeigen sich erhöhte Morbiditäts- und Mortalitätsraten (Kapfhammer, 2015). Ängste und Depressionen werden von Medizinern häufig nicht erkannt, es fehlt oft ein differenziertes Wissen über psychotherapeutische und/oder psychopharmakologische Therapien (Levin & Alici, 2010; Miller & Massie, 2010). Depressive und Angststörungen bei Krebserkrankungen deuten auf modellhafte Beziehungen zwischen somatischem Krankheitsprozess einerseits und psychopathologischer Manifestation hin.
Nachdem die Patientinnen und Patienten die Diagnose Krebs mitgeteilt bekommen haben, findet eine akute Auseinandersetzung mit der Erkrankung statt, diese sollte anschließend verarbeitet werden. Die Patientin oder der Patient durchläuft einen Trauerprozess mit Schock, Desorganisation, Verleugnung, Protest und Akzeptanz beziehungsweise Resignation, diesem gilt es, eine eigenständige psychodynamische Beachtung zu widmen. Ein Übergang zu depressiven und Angststörungen ist fließend (Kapfhammer, 2015). Depressive Störungen müssen differentialdiagnostisch abgeklärt werden und nach ICD-10 und DSM-V klassifiziert werden. Bei der Major Depression stellt sich die Frage, ob somatische Symptome wie zum Beispiel Schlafstörung, Müdigkeit, Energieverlust, Antriebsschwäche, Schmerz oder die Abnahme des Körpergewichts integraler Bestandteil einer depressiven Verstimmung oder aber Ausdruck der Tumorerkrankung bzw. aktuellen onkologischen Therapie sind. Dabei sollten kognitive und emotionale Aspekte exploriert werden, wie beispielsweise Schuldgefühle und Versagensgefühle, Interessensverlust, Anhedonie, Bestrafungsüberzeugung, Entscheidungsambivalenz, Selbstwertverlust, Hoffnungslosigkeit sowie Suizidgedanken (Kapfhammer, 2015). Zudem ist an die Möglichkeit eines hypoaktiven Delirs mit fluktuierenden Störungen des Bewusstseins, Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit, Konzentration, Kognition und Wahrnehmung zu denken. Die Therapie des Delirs ist klinisch bedeutsam.
Wichtig ist zudem, Schmerzzustände zu behandeln. Falls dies nicht gelingt, ist mit massiver Agitation, das bedeutet erregte Bewegung und Unruhe, depressiver Verzweiflung und Suizidalität zu rechnen. Dies erfordert ebenfalls eine differentielle schmerzmedizinische Intervention, bevor eine antidepressive Behandlung erwogen werden sollte. Durchgehende Müdigkeit ist ein bei Karzinomen häufig prävalentes Symptom, welches Auswirkungen auf Antriebsniveau Konzentration und Schlafverhalten hat. Sie kann sowohl mit einer depressiven Störung einhergehen oder aber auch eigenständig vorkommen. Dem psychoonkologischen Konzept der Demoralisierung wird vor allem in fortgeschrittenen Stadien einer Krebserkrankung eine eigenständige diagnostische Wertigkeit zugesprochen. Es umfasst existenzielle Verzweiflung, Hilf- und Hoffnungslosigkeit und Verlust von persönlichem Lebenssinn. Durch den häufig mit einhergehenden drängenden Wunsch nach rascher Beendigung des Leidens- und Sterbeprozesses besitzt es hohe klinische Relevanz (Tecuta, Tomba, Grandi & Fava, 2014; Robinson, Kissane, Brooker & Burney, 2015).
Auch komorbide Angststörungen orientieren sich an den diagnostischen Kategorien der etablierten Klassifikationssysteme (Traeger, Greer, Fernandez-Robles, Temel & Pirl, 2012). Die einzelnen Angstkategorien können im Kontext einer Krebserkrankung eine besondere Ausprägung annehmen und die Krankheitsverarbeitung und das Krankheitsverhalten negativ beeinflussen. Dabei können spezielle Phobien, die sich auf Krankenhäuser oder Arztpraxen beziehungsweise auf medizinische Prozeduren bezüglich Diagnostik oder Therapie ausweiten und Panikattacken auftreten, die ein Vermeidungsverhalten nach sich ziehen, auftreten. Die generalisierte Angststörung, charakterisiert durch ständige Besorgnis um die eigene Gesundheit, beinhaltet Ängste aufgrund eines Rezidivs oder der Progression der Krebserkrankung. Beschämung ist nach entstellenden Behandlungen ebenso anzutreffen. Die Erlebnisse während der Diagnostik, der Übermittlung der Diagnose und der Therapie können als bedrohlich oder sogar als traumatisch erlebt werden. Die akute Belastungsstörung oder die posttraumatische Belastungsstörung werden häufig im psychoonkologischen Kontext diagnostiziert (Kapfhammer, 2014).
Die intrusive Erinnerung, das bedeutet unter anderem das Wiedererinnern traumatischer Situationen, bei der akuten Belastungsstörung und der posttraumatischen Belastungsstörung bildet zudem die bei Krebspatientinnen und Krebspatienten meist auf aktuelle oder künftige Ereignisse bezogenen sorgenvollen Intrusionen oft nicht immer korrekt ab. Eine Differenzierung nach spezifischen oder generalisierten Angst- bzw. depressiven Störungen ist hier notwendig. Die Implementierung diagnostischer Screeninginstrumente wie zum Beispiel der Hospital Anxiety Depression Scale (HADS), des Distress-Thermometers oder des Profile of Mood States-Short Form (POMS-SF) kann die Erkennungsrate von depressiven und Angststörungen in onkologischen Behandlungskontexten erhöhen. Ohne eine klinischdiagnostische Validierung sowie vor allem ohne koordinierte Konsiliar-Liaisondienste im psychiatrischen und psychosomatischen Bereich profitieren Krebspatientinnen und Krebspatienten aber kaum (Andersen et al., 2014).
Eine persistierende Depression kann die Überlebenszeit verkürzen, wie mehrere metaanalytische Studien herausgefunden haben. Sie können zudem die krebsbezogene Mortalität erhöhen. Diese Ergebnisse wurden jedoch nicht durchgängig konsistent bewertet. Vorbestehende depressive Symptome scheinen die Krebsprogression statistisch nicht signifikant zu beschleunigen, aber einen empirisch gesicherten Anstieg der krebsassoziierten Mortalität zu bewirken (Satin, Linden & Phillips, 2009; Pinquart & Duberstein, 2010). Diagnostisch sollten andere Differentialdiagnosen abgegrenzt werden. Jeder zweite Krebspatient spürt Belastungen durch die diagnostizierte Krebserkrankung (Mehnert et al., 2018). Zur Behandlung der depressiven Symptomatik gibt es Psychopharmaka wie trizyklische Antidepressiva, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, selektive Serotonin- Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer und andere Antidepressiva, deren Anwendung Ärzten vorbehalten sind. Medikamenteninteraktionen und Nebenwirkungen sind dabei zu beachten. (Kapfhammer, 2015).
3 Kritische Reflexion und Diskussion
Onkologische Patientinnen und Patienten sind vielfältig belastet. Komorbiditäten bestimmen ihren Krankheitsverlauf sowie ihr Krankheitserleben. Die Schwere ihrer Erkrankung, die sich über den Karnofsky-Index bestimmen lässt, chronische Schmerzsyndrome, tumorbedingte Anorexie, Übelkeit, Erbrechen und klinisch relevante Atembeschwerden tragen signifikant zu Angst, Depressivität, massiv reduzierter Lebensqualität und Demoralisierung bei. Daher stellt sich die Frage inwieweit eine begleitende Psychotherapie sinnvoll ist und in welchem Ausmaß sie stattfinden sollte, ob in Einzel- oder in Gruppentherapie.
Die Belastungen der Patientinnen und Patienten sollten erkannt und diagnostiziert werden. Dies ist vor allem in Einzelgesprächen möglich.
Eine intensive Diagnostik, die vor allem in Einzelgesprächen stattfindet, hat ebenfalls sowohl Stärken als auch Schwächen. Folgende Stärken sind dabei hervorzuheben. Nur eine gute Diagnostik ermöglicht eine adäquate Therapie. Dabei geht der Therapeut spezifisch auf die Bedürfnisse des Patienten oder der Patientin ein und versucht die entsprechenden Probleme gemeinsam zu lösen. Neben erlebnisreaktiven Prozessen müssen dabei auch zugrunde liegende neurobiologische Zusammenhänge von Schmerz und Angst sowie Depression (Laird, Boyd, Colvin & Fallon, 2009), von krebsbezogener Müdigkeit und Depression (Brown & Kroenke, 2009), von Schlafstörung und Depressivität (Irwin, 2013) beachtet und in den Kontext einer chronischen Inflammation gestellt werden (Roxburgh & McMillan, 2014).
Bei Krebserkrankungen existieren komorbide depressive und Angststörungen mit nachteiligen Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf wie vermehrtes subjektives Leiden, reduzierte Lebensqualität, größere psychosoziale Behinderungsgrade, aber auch erhöhte somatische Morbidität einschließlich schnellerer Krankheitsprogression und höherer krebsbezogener Mortalität. Krebserkrankung und koexistente affektive Störungen sind vorteilhaft in einem komplexen biopsychosozialen Modell zu konzeptualisieren, wobei psychosomatische, somatopsychische und somatische Wirkungen zu berücksichtigen sind. Aus den oben beschriebenen Belastungen und Komorbiditäten lassen sich therapeutische Strategien ableiten. Zur Therapie sind psychosoziale und psychotherapeutische Ansätze im Therapieplan vorgesehen. Wichtig sind soziale Unterstützung gegen soziale Isolation, der emotionale Ausdruck starker negativer Affekte, eine kognitive Umstrukturierung dysfunktionaler Kognitionen in der Verarbeitung der Krebserkrankung und das Training von Copingstrategien.
[...]
- Quote paper
- Luca Cermak (Author), 2020, Psychotherapie in der Onkologie. Wann ist diese sinnvoll?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/915368
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.