Die doppelte Staatlichkeit im Föderalismus provoziert Konflikte und erfordert Verhandlungen. In Bundesstaaten besteht eine ständige Diskussion darüber, wie die föderale Ordnung ausgestaltet werden solle. Ein Ziel der Arbeit ist es zu untersuchen, wodurch Reformbedarf ausgelöst wird, welche Lösungen diskutiert werden und warum womöglich unterschiedliche Ergebnisse zustande kommen.
Der Vergleich Deutschland-Schweiz-USA bedeutet, drei Fälle zu untersuchen, die sich in Grundzügen ähneln (Demokratie, Föderalismus, hoch entwickelte Marktwirtschaft). Durch Industrialisierung, Tertiärisierung, technologischen Wandel und internationale Zusammenarbeit stehen sie vor vergleichbaren Herausforderungen. So entstehen staatenübergreifend institutionenpolitische Trends, die jeweils zeitgemäße Lösungen für Strukturprobleme versprechen (z.B. die Planungseuphorie in den 1960er Jahren und die Rückkehr des Wettbewerbsgedankens seit den 1980er Jahren). Es gilt zu zeigen, dass derartige Leitideen auch die Diskussion über die Reformbedürftigkeit der jeweiligen föderalen Ordnung etwa gleichzeitig in dieselbe Richtung lenken.
Trotz dieser übergeordneten Einflüsse betreiben die drei Föderalstaaten jedoch unterschiedliche Reformpolitik. Dass sie hinsichtlich ihrer spezifischen Entwicklungspfade, nationaler institutioneller Arrangements und Akteurkonstellationen große Unterschiede aufweisen, deutet darauf hin, dass nicht der international induzierte Reformbedarf, sondern endogene Faktoren darüber entscheiden, ob und wie Reformen stattfinden.
Die vergleichende Untersuchung dieser Gemeinsamkeiten und Unterschiede verspricht, Regelmäßigkeiten aufzudecken, die der Einzelfallstudie verborgen blieben und soll die angesprochene Diskrepanz zwischen Reformbedarf und Reformpolitik
erklären. Daraus ergibt sich folgende Forschungsfrage:
Warum kommt es in den drei Föderalstaaten trotz ähnlich wahrgenommenen Reformbedarfs zu unterschiedlicher Reformpolitik?
Die Untersuchung dieser Fragestellung setzt voraus, dass die Hypothesen „Der Reformbedarf ist ähnlich“ und „Die Reformpolitik ist unterschiedlich“ empirisch
bewiesen werden. Wenn der Reformbedarf tatsächlich durch gemeinsame institutionelle Trends beeinflusst wird, muss auch dies empirisch gezeigt werden. Schließlich gilt es, und darin besteht das Hauptziel der Arbeit, die spezifischen endogenen Faktoren zu ermitteln, die in den jeweiligen Staaten zu unterschiedlichen Reformen führen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Gegenstand der Untersuchung und Fragestellung
1.2. Forschungsstand
1.3. Aufbau der Arbeit
2. Methode
2.1. Definition des Begriffs Föderalstaat
2.2. Forschungsstrategie, Variablen und Fallauswahl
2.3. Untersuchungszeitraum und verwendete Daten
3. Analyserahmen
3.1. Bedingungen für Wandel des wahrgenommenen Reformbedarfs
3.2. Bedingungen für tatsächliche Reformpolitik
4. Die Bundesrepublik Deutschland
4.1. Institutioneller Entwicklungspfad: Exekutivföderalismus mit ausgeprägtem Hang zur Verflechtung
4.2. Die föderale Ordnung der Bundesrepublik Deutschland 1955: Ein unitarischer Bundesstaat
4.3. Reformabschnitte
4.3.1. 1955 – 76: Verflechtungseuphorie und Fortschritt auf dem Pfad der Unitarisierung
4.3.2. 1980 – dato: Langwieriges Loslösen vom Pfad der Verflechtung mit heftigen Rückfällen
4.4. Fazit
5. Die Schweizerische Eidgenossenschaft,
5.1. Institutioneller Entwicklungspfad: Von der Konföderation souveräner Kantone zum mäßig verflochtenen Bundesstaat
5.2. Die föderale Ordnung der schweizerischen Eidgenossenschaft 1964: Funktionale Aufgabenteilung unter Beibehaltung dualer Strukturen
5.3. Reformabschnitte
5.3.1. 1964 – 1978: Keine Chance für institutionalisierte Verflechtung
5.3.2. 1978 – 2004: Zähe Dezentralisierungs-Debatte führt zu ambivalenter Reform
5.4. Fazit
6. Die Vereinigten Staaten von Amerika
6.1. Institutioneller Entwicklungspfad: Gleichzeitiges Entstehen der bundesstaatlichen Ebenen und flexibler Föderalismus
6.2. Die föderale Ordnung der USA 1963: Nominell duales System mit informeller Aufgaben- und Ressourcenverflechtung
6.3. Reformabschnitte
6.3.1. 1963 – 1981: Johnsons „Creative Federalism“ und Nixons „New Federalism“ – ambivalente Reformpolitik und zunehmende Verflechtung
6.3.2. 1981 – 2001: Reagan, Bush, Clinton: Zwei Jahrzehnte bescheidener Dezentralisierung
6.4. Fazit
7. Reformbedarf und Reformpolitik im Vergleich: Die Dominanz endogener Faktoren über internationale Trends und die Bedeutung von Entwicklungspfaden, Institutionen und Akteuren
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Gegenstand der Untersuchung und Fragestellung
„Der Föderalismus unserer Zeit kann [...] nur ein kooperativer Föderalismus sein“ (Kommission für die Finanzreform, 1966, S. 20)
„Die Schweiz wird föderalistisch sein, oder sie wird nicht sein“ (Werner Kägi, 1944, S. 44 )
„Most people have little interest in abstract debates that argue which level of government should be responsible for a given task. What people care about is getting the policies they want“ (David Nice, 1987, S. 24)
Die Zitate stammen aus drei klassischen Bundesstaaten und widerspiegeln doch ganz unterschiedliche Ziele, die mit dem Föderalismus erreicht werden sollen. Bundesstaat ist also nicht gleich Bundesstaat, und die Entscheidung für die föderale Ordnung kann offenbar verschiedene Gründe haben. Es wird noch genauer darauf zurückzukommen sein, was überhaupt Föderalismus ist und wodurch genau föderale Staatsorganisation sich kennzeichnet. Bei aller Diskussion ist sämtlichen Definitionsversuchen jedoch eines gemeinsam: Als föderal gelten nur Staaten, die mindestens zwei Regierungsebenen kennen, welche jeweils über ein gewisses Maß an Unabhängigkeit verfügen (z.B. Reagan 1972: 3; Schultze 1991: 157; Wheare 1951: 11). Diese doppelte Staatlichkeit provoziert zwangsläufig mehr Konflikte und erfordert häufiger Verhandlungen, als dies in zentralistischen Staaten der Fall ist. In den meisten Föderalstaaten besteht also eine ständige Diskussion darüber, wie genau die bundesstaatliche Ordnung ausgestaltet werden solle (vgl. Renzsch 2005: 91). Diese Debatte findet nicht nur zwischen Vertretern der Gliedstaaten und Repräsentanten der Bundesebene statt, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur. Die Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften sind in besonderem Maße daran beteiligt, Reformbedarf aufzuzeigen und Lösungen zu diskutieren. Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist es zu untersuchen, wodurch in konkreten Fällen Reformbedarf ausgelöst wird, welche Lösungen diskutiert werden und warum womöglich unterschiedliche Ergebnisse zustande kommen.[1]
Nicht Ziel der vorliegenden Arbeit ist dagegen, durch den Vergleich des Reformbedarfs in verschiedenen Staaten eine Art perfekten Föderalismus herauszuarbeiten und so einen normativen oder effizienztheoretischen Beitrag zur Bundesstaatsforschung zu leisten. Vielmehr sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, ob der wahrgenommene Reformbedarf tatsächlich zu entsprechender Reformpolitik führt, ob und unter welchen Bedingungen also eine föderale polity in der Lage ist, sich neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Dabei soll vermieden werden, mit einer Einzelfallstudie womöglich interessante, jedoch nicht verallgemeinerungsfähige Ergebnisse zu erzielen.
Der vorliegende Vergleich Deutschlands, der Schweiz und der USA bedeutet hingegen, drei Fälle zu untersuchen, die sich in Grundzügen ähneln (Demokratie, Föderalismus, hoch entwickelte Marktwirtschaft). Durch Industrialisierung, Tertiärisierung, technologischen Wandel und internationale Zusammenarbeit sehen sich ihre Gesellschaften und Volkswirtschaften vergleichbaren Herausforderungen gegenüber. So entstehen staatenübergreifend institutionenpolitische Trends, die jeweils zeitgemäße Lösungen für Strukturprobleme versprechen (z.B. die Planungseuphorie in den 1960er Jahren und die Rückkehr des Wettbewerbsgedankens seit den 1980er Jahren, s. dazu J.J.Hesse/Benz 1990: 41ff, 72f; Grotz 2007: 38f). Es gilt zu zeigen, dass derartige Leitideen auch die Diskussion über die Reformbedürftigkeit der jeweiligen föderalen Ordnung etwa gleichzeitig in dieselbe Richtung lenken. Dies muss im Übrigen nicht bedeuten, dass die konkreten Reformvorschläge über die gemeinsame Ausrichtung hinaus völlig identisch wären.
Trotz dieser übergeordneten Einflüsse betreiben die drei Föderalstaaten jedoch höchst unterschiedliche Reformpolitik. Dass sie hinsichtlich ihrer spezifischen Entwicklungspfade, nationaler institutioneller Arrangements und Akteurkonstellationen große Unterschiede aufweisen, deutet darauf hin, dass nicht der international induzierte Reformbedarf, sondern endogene Faktoren darüber entscheiden, ob und wie Reformen stattfinden (s. Grotz 2007: 39).
Die vergleichende Untersuchung dieser Gemeinsamkeiten und Unterschiede verspricht, Regelmäßigkeiten aufzudecken, die der Einzelfallstudie verborgen blieben und soll die angesprochene Diskrepanz zwischen Reformbedarf und Reformpolitik erklären (vgl. Schmidt 2003: 261f). Daraus ergibt sich folgende Forschungsfrage:
Warum kommt es in den drei Föderalstaaten trotz ähnlich wahrgenommenen Reformbedarfs zu unterschiedlicher Reformpolitik?
Die Untersuchung dieser Fragestellung setzt voraus, dass die Hypothesen „Der Reformbedarf ist ähnlich“ und „Die Reformpolitik ist unterschiedlich“ empirisch bewiesen werden. Wenn der Reformbedarf tatsächlich durch gemeinsame institutionelle Trends beeinflusst wird, muss auch dies empirisch gezeigt werden. Schließlich gilt es, und hierin besteht das hauptsächliche Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit, die spezifischen endogenen Faktoren zu ermitteln, die in den jeweiligen Staaten zu unterschiedlicher Reformen führen. In den folgenden Kapiteln werden jedoch zunächst die theoretischen und methodischen Grundlagen dargestellt, die eine systematische empirische Untersuchung ermöglichen.
1.2. Forschungsstand
Ein Beitrag der vorliegenden Arbeit zur Föderalismusforschung besteht darin, den Einfluss internationaler institutioneller Leitideen auf die Wahrnehmung der Reformbedürftigkeit der bundesstaatlichen Ordnung aufzuzeigen. Vor allem aber soll bewiesen werden, dass nicht der so wahrgenommene Reformbedarf, sondern endogene Faktoren ausschlaggebend für tatsächliche Reformen sind. Diese Diskrepanz von Wahrnehmung und Ergebnissen ist bislang nicht untersucht worden, es können also keine theoretischen oder empirischen Erkenntnisse dokumentiert werden. Zwar bestehen zahlreiche Veröffentlichungen, die sich mit Politikdiffusion oder dem Einfluss supranationaler Organisationen auf Nationalstaaten beschäftigen, die methodischen Konzepte dieser Ansätze haben jedoch wenig mit jenem der vorliegenden Arbeit gemeinsam. Die Auswahl an theoretischer Literatur über endogene Ursachen von Wandel in Föderalstaaten ist dagegen üppig, zudem bestehen zahlreiche ausführliche Fallstudien zu Deutschland und den USA. Für die Schweiz ist die politikwissenschaftliche Literatur etwas weniger ergiebig.
Die meisten Autoren sind sich einig, dass internationale Einflüsse das nationale Institutionengefüge beeinflussen, auch wenn die vorliegende Frage nach der Bedeutung gemeinsamer institutioneller Leitideen für Reformbedarf und Reformpolitik so nicht diskutiert wird. Meist beschränken sich die einschlägigen Untersuchungen auf jüngere „Tendenzen der Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung nationalstaatlicher Politik“ (Braun 2002: 99; s.a. Fallend 2001, Knill/Lehmkuhl 2000). Vor allem zum Einfluss der Europäisierung bestehen zahlreiche Studien, die sich oft jedoch nur unter anderem mit Bundesstaaten beschäftigen (z.B. Anderson 2002; Börzel 2002, Sciarini et al. 2004). Diese Varianten der „Mehrebenenanalyse“ (Sturm 2000: 29) sind für die vorliegende Arbeit nur beschränkt relevant, da sie nicht allgemeine Rahmenbedingungen, sondern den speziellen Einfluss der supranationalen Einrichtung EU auf deren Mitglieder behandeln. Die Erforschung der EU-unabhängigen „Politikdiffusion“ dagegen beschränkt sich bislang noch auf die Verbreitung von policies und hat weder zur Staatsorganisation im Allgemeinen, noch zur Föderalismusreform im Besonderen theoretische Konzepte hervorgebracht, die hier von Bedeutung sein könnten (vgl. Haas 1992; Holzinger/Knill 2005)
Die Literatur zur Diskussion über die endogenen Bedingungen, welche die Entwicklung föderaler Systeme beeinflussen, ist hingegen breiter gefächert und vor allem von zwei Ansätzen geprägt (Sturm 2000: 29). Der historische Institutionalismus betont die Pfadabhängigkeit institutionellen Wandels: „Aus dem Zusammenwirken eigentümlicher institutioneller Ausgangsbedingungen und kultureller Orientierungen [resultieren] institutionelle Weichenstellungen (oder »critical junctures«)“, die den weiteren Entwicklungspfad eines Staates bestimmen (Lehmbruch 2002: 5). Diese Definition ist auf den deutschen Bundesstaat bezogen, das Konzept der Pfadabhängigkeit ist jedoch über dessen Grenzen hinaus verbreitet (z.B. Abromeit 1992: 33ff; Benz 2001: 19ff; Elazar 1976: 19; Neidhart 2001: 123f; Schultze/Zinterer 2001: 273; Weaver/Rockman 1993: 36). Dabei ist keineswegs nur die traditionelle Ausgestaltung des Verhältnisses der föderalen Ebenen relevant; ebenso können Regimetyp, Verfassungsgerichtsbarkeit oder Parteiensystem den Entwicklungspfad der bundesstaatlichen Ordnung beeinflussen, einengen und verstetigen (s. Lehmbruch 1998: 9; Weaver/Rockman: 7ff).
Nicht auf Institutionen im engeren Sinne bezogen sind Ansätze, die Gestalt und Wandel der föderalen Staatsorganisation mit Rahmenbedingungen erklären, die nicht unmittelbar dem politischen System und seiner Verfassungsordnung entstammen, seinen Entwicklungspfad jedoch entscheidend prägen.[2] Derartige Kontextbedingungen können die Größe des Landes und der einzelnen Gliedstaaten, gesellschaftliche Konfliktlinien und vorherrschende Wertvorstellungen sein (Benz 2001: 20ff); andere Autoren nennen räumliche, historische, ökonomische, soziokulturelle sowie politisch-kulturelle Einflüsse (Schultze/Zinterer 2001: 254f, s.a. Neidhart 2001: 114f; Reagan 1972: 4).
Der zweite prägende Ansatz stammt aus der Wirtschaftswissenschaft und beruht auf dem Rational-Choice- Modell (Sturm 2000: 29). Die Vertreter dieses akteurzentrierten Institutionalismus gehen davon aus, dass politische Prozesse „von den Interaktionen individueller und korporativer Akteure mit spezifischen Fähigkeiten und spezifischen kognitiven und normativen Orientierungen bestimmt werden und [...] in einem gegebenen institutionellen Kontext und unter gegebenen Bedingungen stattfinden“ (Scharpf 2000: 75). Der Ansatz beruht also auf der Annahme, Akteure seien die entscheidende Quelle von Veränderungen. Historischen Pfaden wird dabei geringere Bedeutung beigemessen (Braun 2002: 106, Pierson 2000: 476ff; Sturm 2000: 34). Beide Ansätze sind grundsätzlich dem Institutionalismus verpflichtet, sie schließen einander keineswegs aus, sondern setzen lediglich unterschiedliche Akzente (Pierson 2000: 490ff; Scharpf 2000: 76). Die vorliegende Untersuchung der jeweiligen endogenen Bedingungen, die zu unterschiedlichen Reformen führen, soll Erkenntnisse über die Bedeutung von Entwicklungspfaden und Akteurshandeln erbringen.
Unabhängig von diesen Größen sehen zahlreiche Autoren eine „Entwicklungsdynamik, die in allen föderativen Systemen tendenziell mehr Verflechtung zwischen den Ebenen herbeiführt“ (Benz 2001: 27; s.a. Abromeit 1992: 19; Braun 2002: 99f; Elazar 1987: 154f). Dieser Beobachtung folgt jedoch in der Regel keine systematische Erklärung oder Untersuchung; sie wird vielmehr nebenbei getätigt. Die vorliegende Arbeit soll auch einen Beitrag zur Präzisierung dieses Allgemeinplatzes leisten.
Zur Entwicklung der bundesstaatlichen Ordnung aller drei Staaten gibt es schließlich mehr oder weniger ausführliche Fallstudien. Es seien hier exemplarisch einige einflussreiche Studien genannt. Die Entwicklung des bundesdeutschen Föderalismus behandelt aus verfassungsrechtlicher Perspektive Der Unitarische Bundesstaat (K.Hesse 1962), aus historisch-institutionalistischer Perspektive Parteienwettbewerb im Bundesstaat (Lehmbruch 1976) sowie aus der akteurzentrierten Perspektive Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik (Scharpf et al. 1976). Eine Verbindung beider Ansätze leistet Die Modernisierung der Staatsorganisation, das Institutionenreformen in vier Staaten vergleicht (J.J.Hesse/Benz 1990). Ebenfalls eine vergleichende Studie ist Europäisierung und nationale Staatsorganisation, das unter anderem die Entwicklung des deutschen Föderalismus seit 1945 nachzeichnet und analysiert (Grotz 2007).
Für die Schweiz ist die Auswahl etwas dünner; einen verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt kann Der kooperative Föderalismus in der Schweiz bieten (Häfelin 1969). Monographien zum schweizerischen Bundesstaat sind bis heute spärlich gesät; Föderalismus in der Schweiz. Konzepte, Indikatoren, Daten (Nüssli 1985) kommt dem wohl am nächsten, wenn auch aus einer eher wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive. Zu Beginn des neuen Jahrtausends sind zahlreiche Aufsätze erschienen, die den aktuellen Zustand des schweizerischen Föderalismus beschreiben (Freiburghaus 2000, 2001, 2002, 2003; Freiburghaus/Buchli 2003; Neidhart 2001). Eine umfassende politikwissenschaftliche, theoretisch fundierte Analyse der Entwicklung des schweizerischen Bundesstaates besteht bis heute nicht.
Zu den USA gibt es wiederum üppige theoretische und empirische Literatur; bereits in den 1960er Jahren erschienen zahlreiche wissenschaftliche Analysen von Geschichte und status quo des amerikanischen Föderalismus. Exemplarisch zitiert sei American Federalism: A View from the States, dessen Autor– typisch für die US-amerikanische Föderalismusforschung – das Verhältnis zwischen Bund und Gliedstaaten aus einer pragmatischen, effizienzorientierten Perspektive betrachtet und die Kooperation zwischen Bund und Staaten befürwortet (Elazar 1966; s.a. Riker 1964; Grodzins 1966). Bereits erwähnt wurde Die Modernisierung der Staatsorganisation, das für die USA der 1980er Jahre eine flexible Anpassung an neue Rahmenbedingungen diagnostiziert (J.J.Hesse/Benz 1990). Eine recht aktuelle Bestandsaufnahme bietet schließlich From New Federalism to Devolution – Twenty-Five Years of Intergovernmental Reform (Conlan 1998), das akribisch die Reformen der 1970er, -80er und -90er Jahre aus einer akteurzentrierten Perspektive nachzeichnet.
1.3. Aufbau der Arbeit
Im folgenden Kapitel 2 wird erläutert und begründet, welche Methodik der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Zunächst wird der Begriff „Föderalstaat“ definiert, denn auf diese Staatsform bezieht sich die vorliegende Arbeit (2.1.). Es wird dabei ein dynamisches, politikwissenschaftliches Konzept gewählt, das nicht auf staatsrechtliche Bestimmungen beschränkt ist. Sodann wird diskutiert, nach welchen Kriterien die Fälle ausgewählt werden (2.2.). Dabei wird die Differenzmethode als Leitstrategie gewählt. Für die Diskussion der Methode ist auch die Identifizierung der operativen Variablen und der Kontextvariablen nötig. Schließlich wird erläutert, warum sich gerade die drei gewählten Fälle anbieten. Der folgende Abschnitt (2.3.) ist der Eingrenzung des Untersuchungszeitraums gewidmet: Es werden für jeden Staat zwei Schlüsselperioden aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gewählt. Zudem wird dargelegt, auf welchen Daten die Arbeit beruht.
Nachdem die empirische Grundlage konkretisiert ist, gilt es in Kapitel 3, einen geeigneten Analyserahmen zu erarbeiten. Dieser soll der Verknüpfung von Forschungsfrage und Empirie dienen. Dazu wird ein Vorgehen in zwei Schritten gewählt; zunächst muss jedoch der Begriff Reform mit seinen denkbaren Ausprägungen definiert werden. In einem ersten Schritt wird dann festgelegt, was unter institutionenpolitischen Leitideen zu verstehen ist, welche Ausprägungen diese während des Untersuchungszeitraums annahmen und welcher Reformbedarf durch ihren Einfluss jeweils zu erwarten ist (3.2.); im zweiten Schritt gilt es zu definieren, unter welchen Umständen Reformpolitik vorliegt und wodurch diese ausgelöst werden kann (3.3.).
Im empirischen Teil werden schließlich die drei Fälle Deutschland (4.), die Schweiz (5.) und die USA (6.) mithilfe dieses Analyserahmens untersucht. Dabei wird jeweils zunächst ein Überblick der historischen Entwicklung und der typischen Pfade des jeweiligen Systems gegeben (4.1.). Sodann werden die vertikale Staatsorganisation und ihre zentralen Akteure zu Beginn der jeweils ersten untersuchten Schlüsselperiode dargestellt (4.2.). Es folgt die empirische Analyse der beiden untersuchten Abschnitte (4.3.1. und 4.3.2.). Dabei liegt besonderes Augenmerk auf den im Analyserahmen erarbeiteten Faktoren. In einem Fazit werden die Erkenntnisse für beide Abschnitte mit Bezug auf den Analyserahmen und die Fragestellung zusammengefasst (4.4.). Den systematischen Vergleich der drei Fälle, die daraus resultierenden Erkenntnisse und die Beantwortung der Forschungsfrage, mithin das Ergebnis der Arbeit, enthält das Fazit in Kapitel 7.
2. Methode
2.1. Definition des Begriffs Föderalstaat
Um vergleichbare, verallgemeinerungsfähige und objektive Ergebnisse zu erzielen, sollte die empirische Untersuchung auf einem Analyserahmen beruhen, der grundsätzlich auf eine unbestimmte Zahl von Fällen angewandt werden kann (vgl. Wagschal 1999: 43). Daher muss hier zunächst der Begriff Föderalstaat allgemein definiert werden.[3] Seit Johannes Althusius’ erstem Definitionsversuch[4] sind beinahe 400 Jahre vergangen; es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sämtliche denkbaren Auffassungen des Begriffs nachzuzeichnen oder zu diskutieren, seien sie demokratietheoretischen, effizienzorientierten oder soziologischen Ursprungs (für umfassendere Dokumentationen s. Annaheim 1992: 53ff; Benz 2001: 13ff).
Zwei Definitionen von Föderalismus – eine ältere, staats- oder verfassungsrechtliche sowie eine jüngere, politikwissenschaftliche – sollen hier jedoch eingehend besprochen werden, da sie für die vergleichende Bundesstaatsforschung von besonderer Bedeutung sind (vgl. Grotz 2007: 26ff). Die traditionelle, eher an formellen Kriterien orientierte deutschen Staatsrechtslehre geht von einer Dichotomie Bundesstaat – Einheitsstaat aus: Die „spezifische Staatsqualität unterscheidet die Länder von hochpotenzierten Selbstverwaltungsträgern“ (Ossenbühl 1990: 126). Das eine schließt das andere aus, beide sind statische Kategorien:
„Unter einem verfassungsrechtlich-institutionellen Blickwinkel kann man von Föderalismus also dann sprechen, wenn in einem politischen System die entscheidenden Strukturelemente des Staates (Exekutive, Legislative, Gerichtsbarkeit, Bürokratie, Polizei etc.) auf beiden Regierungsebenen vorhanden sind, ihre Existenz verfassungsrechtlich geschützt ist und durch Eingriffe der jeweils anderen Ebene nicht beseitigt werden kann“ (Schultze 1991: 157, s.a. Kilper/Lhotta 1996: 23f).
Die US-amerikanischen Verfassungsrechtslehre versteht federalism vor allem normativ-institutionell als Instrument zur Beschränkung von Macht, als „the method of dividing powers so that the general and regional governments are each, within a sphere, coordinate and independent“ (Wheare 1951: 11; s.a. Annaheim 1992: 59f). Auch hier wird also die zweifache Staatlichkeit und somit die zweifache Ausprägung sämtlicher Gewalten betont. Beide Sphären sind autonom und beeinflussen einander nicht:
„Old style federalism is a legal concept, emphasizing a constitutional division between a national government and state governments, with both levels having received their powers independently of each other from a third source – the people” (Reagan 1972: 3).
Derartige Definitionen sehen keine Abstufungen vor; entweder ist ein Staat föderal, oder er ist es nicht. Etwa seit den 1960er Jahren hat sich jedoch vor allem in der Politikwissenschaft die Meinung durchgesetzt, dass die Ebenen im Bundesstaat interagieren und kooperieren, ihr Verhältnis mithin ständigem Wandel unterliegt, gerade weil beide Ebenen jeweils Staatsqualität sui generis besitzen (K.Hesse 1962: 12ff; Häfelin 1969: 572ff; Neidhart 1970: 95; Riker 1964: 11ff). Reagan legt für die USA dar:
„New Style federalism is a political and pragmatic concept, stressing the actual interdependence and sharing of functions between Washington and the states, and focusing on the mutual leverage that each level is able to exert on the other“ (Reagan 1972: 3).
Die vorliegende Arbeit bezieht Elemente aus beiden Definitionsversuchen mit ein: Dem verfassungsrechtlichen Ansatz entspringt die Voraussetzung, dass mindestens zwei staatliche Ebenen existieren, die jeweils über legislative, exekutive und judikative Kompetenzen verfügen. Da die vorliegende Arbeit der Politikwissenschaft verpflichtet ist und der Wandel von Reformbedarf und Reformpolitik untersucht werden soll, richtet sich der Fokus aber nicht primär auf diese zweifache Staatlichkeit, sondern auf die Wechselwirkungen der Bundesebene mit den Gliedstaaten. Es soll die Verfassungswirklichkeit, das „Spannungsverhältnis zwischen Einheit und Vielfalt“ (Schultze 1991: 157) berücksichtigt, der „Staat als agierendes, in Bewegung begriffenes System“ (J.J.Hesse/Benz 1990: 55, s.a. Braun 2002: 101f) erfasst werden. Daher bietet es sich an, die Fälle nicht auf die bloße Existenz zweier Ebenen oder die Ausprägung der drei Gewalten hin zu untersuchen, sondern andere Kategorien zu verwenden, die diesen wechselseitigen Einfluss in der vertikalen Staatsorganisation besser abbilden. In der Föderalismusforschung herrscht Einigkeit darüber, dass sich die Interaktion zwischen Bundesebene und Gliedstaaten in den drei Dimensionen Aufgabenverteilung, finanzielle Ressourcen und Mitwirkungsrechte abspielt (J.J.Hesse/Benz 1990: 56f; s.a. Braun 2002: 108ff; Neidhart 2001: 112; Thorlakson 2003: 4). Ein Staat soll als föderal im Sinne dieser Arbeit gelten, wenn diese Interaktion in allen drei Dimensionen möglich ist.[5] In Anlehnung an zwei schlichte, aber erschöpfende Definitionen föderaler Systeme (Gonzáles Encinar 1992: 227; Thorlakson 2003: 4) sei dies der Fall, wenn
a) Bundesebene und Gliedstaaten vorhanden sind und jeweils über eigene Exekutiven, Legislativen und Judikativen verfügen,
b) Bundesebene und Gliedstaaten jeweils über wenigstens eine uneingeschränkte Kompetenz verfügen,
c) Bundesebene und Gliedstaaten über jeweils eigene Einnahmequellen verfügen, also nicht ausschließlich von der jeweils anderen Ebene abhängig sind, und
d) die Gliedstaaten formell in den Entscheidungsprozess auf Bundesebene eingebunden sind.
Ein stärker an der Verfassungswirklichkeit und ihrer Dynamik orientierter Föderalismusbegriff dient nicht nur der Annäherung an das tatsächliche Verhältnis zwischen Bund und Gliedstaaten. Vielmehr ermöglicht er überhaupt erst die Analyse von Wandel in diesem Verhältnis. Zugleich wird durch eine offene, flexible Definition auch das der vergleichenden Politikwissenschaft eigene Problem der beschränkten Fallzahl gelindert (Braun 2002: 102f; s.a. Aarebrot/Bakka 2002: 60f; Lijphart 1971: 685ff; Kaiser 2002: 24f). Wenn es für die Einordnung als „Föderalstaat“ nicht nötig ist, dass Bundesebene und Gliedstaaten jeweils durch eigene Verfassungen legitimiert sind, können auch nominelle Einheitsstaaten, die jedoch de facto Regionalisierungs- oder Föderalisierungsprozesse erfahren haben, oder gar ein Staatenbund wie die EU in die Untersuchung einbezogen werden. Diese Erweiterung der Fallzahl wird bevorzugt gegenüber der Sicherheit, dass nicht in einem vermeintlichen Bundesstaat eine föderale Ebene plötzlich die andere auflöst.
Auch die anderen drei Kriterien sind dem Streben nach einer möglichst flexiblen Auffassung von „Bundesstaat“ geschuldet und erleichtern die Untersuchung von formell nicht föderal organisierten Staaten. Vor allem in Europa ist es in den letzten Jahrzehnten nicht nur zu Regionalisierungsprozessen in zuvor stark zentral organisierten Staaten wie Großbritannien, Frankreich oder Italien gekommen (Conceição-Heldt 1998: 103f; J.J.Hesse/Benz 1990: 11ff; Hoffmann-Martinot 1999: 372ff). In manchen nominellen Einheitsstaaten wie Spanien verfügen die Gliedstaaten (comunidades autónomas) inzwischen über so weit reichende Autonomie, dass dem Land bereits „föderaler Charakter“ zugesprochen wird (González Encinar 1992: 227).[6]
2.2. Forschungsstrategie, Variablen und Fallauswahl
Damit eine vergleichende Studie gültige Ergebnisse erzeugen kann, ist eine systematische Forschungsstrategie nötig (Aarebrot/Bakka 2003: 59ff). Grundsätzlich kann dabei zwischen zwei Vorgehensweisen unterschieden werden. Die Konkordanzmethode erfordert Ähnlichkeit in den operativen Variablen und Heterogenität der Rahmenbedingungen. Die Differenzmethode beruht auf umgekehrten Voraussetzungen: Die operativen Variablen sollen möglichst unterschiedlich ausgeprägt sein, die Rahmenbedingungen hingegen ähnlich (Lijphart 1971: 687f; Nohlen 2004: 1084).
Abhängige Variable ist hier die tatsächlich umgesetzte Reformpolitik. Da diese in den untersuchten Staaten sehr unterschiedlich ausfällt, muss die Differenzmethode angewandt werden. Gesucht werden eine oder mehrere unabhängige Variablen, die – wenn die zugrunde liegenden Hypothesen zutreffen – auf spezifischen endogenen Bedingungen beruhen und entsprechend unterschiedlich ausgeprägt sind. In der Erarbeitung des Analyserahmens werden aus dem oben dargestellten Forschungsstand, namentlich dem historischen sowie dem akteurzentrierten Institutionalismus, verschiedene potentielle Faktoren abgeleitet, welche die Reformpolitik beeinflussen könnten. Die hier relevante Rahmenbedingung sind gemeinsame institutionelle Leitideen und der durch sie induzierte, ähnlich wahrgenommene Reformbedarf.[7] Da es sich bei dieser Arbeit um eine qualitative sozialwissenschaftliche Untersuchung handelt, kann jedoch nicht angenommen werden, dass zwischen den beobachteten Phänomenen univariate Beziehungen bestehen oder die Abgrenzung der operativen Variablen von den Kontextvariablen vollständig und präzise möglich ist (s. Alemann/Tönnesmann 1995: 56ff).
Die drei Fälle – die Bundesrepublik Deutschland, die schweizerische Eidgenossenschaft und die Vereinigten Staaten von Amerika – sind föderal organisierte OECD-Staaten und können somit im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden. In allen drei Staaten wurde während des Untersuchungszeitraums ähnlicher Reformbedarf wahrgenommen, es kam jedoch zu höchst unterschiedlichen Reaktionen, wie im folgenden Abschnitt kurz aufgezeigt wird. Die ebenfalls sehr unterschiedliche interne Struktur – historische Entwicklung und Legitimation des Föderalismus sowie die Rolle der Akteure in der bundesstaatlichen Ordnung – dürfte also Aufschluss darüber geben, welche Größe(n) als unabhängige Variable(n) betrachtet werden können.
2.3. Untersuchungszeitraum und verwendete Daten
Ob ein politisches System als reformbedürftig wahrgenommen wird und ob es schließlich reformiert wird, hängt von zahlreichen Einflüssen ab. Besonders kräftige Reformschübe können beispielsweise durch Schocks wie Kriege oder soziale Konflikte ausgelöst werden (s. Cortell/Peterson 1999: 184f; Keeler 1993: 436f). So unterschieden sich beispielsweise in den drei untersuchten Bundesstaaten die Reaktionen auf das Ende des Zweiten Weltkriegs erheblich; während in der neutralen Schweiz und den siegreichen USA eine diskussionsarme Zeit begann, in der die bestehende politische Ordnung mit ihrer jeweils bewährten Verfassung nicht angetastet wurden, war im zusammengebrochenen Deutschland 1949 mit dem Grundgesetz ein neues politisches System eingeführt worden, das sogleich diskutiert und modifiziert wurde (s. für Deutschland Grotz 2007: 89f; für die Schweiz Freiburghaus/Buchli 2003: 47; für die USA Cho/Wright 2006: 107). Ein weiteres Beispiel ist der Übergang Frankreichs von der Vierten zur Fünften Republik 1958, der ausschließlich von situativen endogenen Faktoren bestimmt wurde (Loth 1999: 81).[8]
In Zeiten relativer Stabilität lassen sich jedoch institutionelle Leitideen ausmachen, welche die Politik der OECD-Staaten in ähnlichem Maße beeinflussen (Czada 1995; 531ff; Grotz 2007: 38f; Schiller 1995: 360ff). Wenn derartige globale Trends den Reformbedarf bestimmen, wandelt sich die Diskussion in Politik und Wissenschaft nur allmählich. Sie wird durch neue Erkenntnisse langfristig beeinflusst und beschränkt sich somit nicht auf ein konkretes Datum (vgl. Cortell/Peterson 1999: 183; J.J.Hesse/Benz 1990: 40ff). Zudem können zwischen einer veränderten Wahrnehmung dessen, was reformiert werden soll und dem tatsächlichen materiellen Wandel Jahre oder Jahrzehnte liegen. Schließlich ist es auch möglich, dass auf eine jahrelange Reformdiskussion am Ende überhaupt keine Reform folgt. Um derartige Prozesse zu untersuchen, müssen sowohl die Entwicklung des wahrgenommenen Reformbedarfs als auch der Fortgang geplanter Reformen langfristig verfolgt werden.
Daher umfasst der Untersuchungszeitraum für diese Arbeit die etwa 60 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es wäre zweifellos aufschlussreich, auch frühere Entwicklungen mit einzubeziehen; während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert oder der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren beispielsweise könnten die Staaten ähnlichen gemeinsamen Einflüssen ausgesetzt gewesen sein. Die einschneidende Zäsur des Zweiten Weltkrieges eignet sich jedoch für alle drei Fälle als Ausgangspunkt: In die Zeit danach fallen mit Vollendung der Industrialisierung und dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates sowie mit der Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft und der Globalisierung jene sozioökonomischen Entwicklungen, die auch heute noch die Föderalismusdiskussion bestimmen (vgl. Schultze/Zinterer 2001: 256).
Da die vorliegende Arbeit Veränderungen in der Wahrnehmung des Reformbedarfs als Ausgangspunkt für die Untersuchung tatsächlich erfolgter Politik nimmt, bietet es sich an, den Untersuchungszeitraum in Abschnitte zu unterteilen, die jeweils mit der Wahrnehmung neuen Reformbedarfs beginnen. Wenn diese Wahrnehmung in allen drei Fällen von gemeinsamen internationalen Trends abhängt, müssten die Perioden etwa zur gleichen Zeit beginnen. Dabei kann sich eine Veränderung der Leitideen durchaus in einem Land etwas früher niederschlagen als in einem anderen. Zwei Perioden der Nachkriegszeit waren für die OECD-Welt und somit für die untersuchten Staaten besonders prägend. (J.J.Hesse/Benz 1990: 41ff, 72f; Grotz 2007: 38f): Die Zeit der Planungseuphorie und des Glaubens an die Leistungsfähigkeit keynesianischer Steuerung in den 1960er und frühen 1970er Jahren sowie die Rückkehr des Wettbewerbsgedankens und der Trend zur Dezentralisierung seit Beginn der 1980er Jahre.[9] Zugleich gab es in allen drei Staaten Phasen, in denen Reformdiskussionen nicht stattfanden, abebbten oder von anderen Themen überlagert wurden. Daher konzentriert sich die empirische Darstellung für jeden Fall auf zwei jeweils etwa 15 bis 25 Jahre lange Perioden, in denen Planungseuphorie bzw. der Dezentralisierungstrend die Reformdebatte bestimmten.[10]
In Deutschland war die unmittelbare Nachkriegszeit vom Wiederaufbau und der Konsolidierung des neuen Systems geprägt. Die Untersuchung der ersten Phase beginnt daher erst nach der so genannten „Kleinen Steuerreform“ von 1955. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Grundgesetz etabliert, die von den Siegermächten oktroyierten, dem deutschen Entwicklungspfad jedoch fremden Systemmerkmale waren weitgehend beseitigt. So ist gewährleistet, dass die begonnenen Reformen als Reaktion auf internationale Trends betrachtet werden können und nicht als unvermeidliche Rückkehr zum überkommenen Entwicklungspfad gelten müssen. Der erste Untersuchungsabschnitt endet 1976, als mit der Finanzreform von 1969 ein erheblicher Verflechtungsschub erfolgt, die Welle der Reformkommissionen abgeebbt war und Zweifel an der Effizienz der Politikverflechtung laut wurden. Die letzten Jahre der sozialliberalen Koalition waren von Reformmüdigkeit geprägt. Dennoch erfolgte 1980 noch unter Bundeskanzler Schmidt ein erster Versuch, die Politikverflechtung zu reduzieren. Mit dem Regierungswechsel 1982 setzte sich der Dezentralisierungsgedanke dann endgültig durch. Nach einem Jahrzehnt eher punktueller Anpassung begann schließlich 1990 mit der Wiedervereinigung eine intensive Reformdiskussion, die aber erst 2006 mit der Föderalismusreform der Großen Koalition zu einem Ergebnis kam.
In der Schweiz begann nach dem zweiten Weltkrieg eine an Diskussionen arme Periode, die bis 1964 andauerte. Dann setzte unter dem Schlagwort der „Helvetischen Malaise“ eine allgemeine Debatte über den Zustand des schweizerischen Staatswesens ein, die schließlich auch die Diskussion über die föderale Staatsorganisation erfasste. Anders als in Deutschland führte diese Debatte trotz lautstarken Rufen nach Verflechtung nicht zu Ergebnissen und schlug etwa 1978 ins Gegenteil um. Unter nun umgekehrten Vorzeichen kam es zwar zunächst nicht zu einer grundlegenden Neuordnung, die Diskussion brach aber nicht mehr ab. In den 1990er Jahren gewann die Debatte neuen Schwung und führte schließlich 2004 zu einer umfassenden Reform der Aufgaben- und Ressourcenverteilung.
In den USA begann 1963 mit der Amtszeit Präsident Johnsons eine Phase des cooperative federalism, in der die verflochtenen Interaktionsformen der 1930er Jahre wieder aufgegriffen wurden. Diese Phase überdauerte die Amtszeiten der Präsidenten Johnson, Nixon, Ford und Carter, wobei sich Reformpolitik in den USA fast nie in umfassenden Verfassungsänderungen, sondern in zahlreichen einfachen Gesetzen äußert. Erst 1981 schlug der Kooperationstrend in das Gegenteil um; Präsident Reagan war einer der frühesten Protagonisten des Neokonservativismus und betrieb in seinen ersten Amtsjahren Dezentralisierungspolitik durch zahlreiche einzelne Maßnahmen. Reagans Nachfolger George H.W. Bush verfolgte diese Politik mit etwas weniger Elan weiter. Der Demokrat Clinton hatte zwar keine föderalismuspolitische Agenda, wurde jedoch durch einen republikanisch dominierten Kongress zu weiteren staatenfreundlichen Reformen gezwungen. Diese relative Dominanz dezentraler Leitideen endet erst 2001, als mit dem Amtsantritt George W. Bushs und den Anschlägen vom 11. September Reformpläne weitgehend der Terrorismusbekämpfung untergeordnet wurden.
Es ist typisch für die sozialwissenschaftliche Untersuchung komplexer Phänomene, dass bei zahlreichen Variablen nur wenige Fälle zur Verfügung stehen (Lijphart 1971: 685ff). Für die vorliegende Arbeit ist dieses Problem noch verstärkt, da lediglich föderal organisierte Staaten für die Analyse geeignet sind. Es wäre daher nicht sinnvoll, quantitative statistische Methoden anzuwenden (s. Braun 2002: 102). Vielmehr bietet sich die qualitative Methode an, also die „realitätsgerechte[...]“ und möglichst „dichte Beschreibung der sozialen Wirklichkeit“ (Alemann/Tönnesmann 1995: 58ff). Da die Literatur für Deutschland und die USA hervorragend, für die Schweiz mindestens ausreichend ist, bilden qualitative politologische, gelegentlich auch rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten die Hauptquelle für die Dokumentation des Reformbedarfs und die Untersuchung der tatsächlich erfolgten Politik. Zusätzlich werden die vier relevanten Verfassungen[11] sowie vereinzelt Kommissionsberichte und andere öffentliche Dokumente herangezogen. Meist sind diese jedoch kompakter, verständlicher und objektiver in der Fachliteratur wiedergegeben.
3. Analyserahmen
In der vorliegenden Arbeit werden zwei Phänomene untersucht. Das erste – der wahrgenommene Reformbedarf – wird dabei als Funktion internationaler institutioneller Trends betrachtet, es stellt eine Kontextvariable für das zweite Phänomen dar – die tatsächlich umgesetzte Reformpolitik. Die Ermittlung der Ursachen unterschiedlicher Reformpolitik ist das eigentliche Ziel der Arbeit. Es bietet sich ein zweistufiger Analyserahmen an, wobei der durch institutionelle Leitideen ausgelöste Reformbedarf rein deskriptiv behandelt wird, es ist nicht Ziel dieser Arbeit, die genauen Mechanismen zu untersuchen, die zur synchronen Ausbreitung von Reformbedarf führen. Vielmehr soll im empirischen Teil die Hypothese bewiesen werden, dass internationale Trends in den drei Staaten ähnlichen Reformbedarf auslösen. Für die tatsächliche Reformpolitik müssen hingegen aus der theoretischen Literatur potentielle unabhängige Variablen abgeleitet werden, deren tatsächliche Bedeutung es in den drei Fallstudien zu untersuchen gilt.
Im empirischen Teil werden die beiden Größen nicht sauber zu trennen sein, da Wahrnehmung und Umsetzung sich innerhalb eines untersuchten Abschnitts überlappen und einander wechselseitig beeinflussen können (s. J.J.Hesse/Benz 1990: 64ff). Analytisch muss jedoch klar zwischen beiden unterschieden werden, zumal angenommen wird, dass sie von unterschiedlichen Einflüssen bestimmt werden. Für beide gilt jedoch, dass Veränderung grundsätzlich entlang zweier Achsen stattfinden kann. Die eine beschreibt, wie zentralisiert oder dezentralisiert das föderale System ist, die andere beschreibt den Grad seiner vertikalen Verflechtung. Die beiden Dimensionen schließen einander nicht aus; sowohl Dezentralisierung als auch Zentralisierung können jeweils auch ver- oder entflechtend wirken:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie in Kapitel 2.1. eingeführt, gilt ein Staat als föderal und damit als untersuchungsfähig im Sinne dieser Arbeit, wenn seine Aufgaben-, Ressourcen- und Entscheidungsstrukturen den Gliedstaaten hinreichend Eigenständigkeit belassen. Dabei spielt die verfassungsrechtliche Definition des Staates keine Rolle. Dementsprechend gilt als Reform im Sinne dieser Arbeit jede Veränderung einer dieser drei Kategorien in eine der in der Abbildung dargestellten Richtungen. Neben Verfassungsänderungen können dies auch einfache Gesetze, Gerichtsurteile mit direkten verbindlichen Folgen für die föderale Ordnung oder die Einrichtung und Abschaffung bestimmter Kooperationsformen sein, wenn sie nur in irgendeiner Form schriftlich und öffentlich dokumentiert sind.[12] Auch hier gilt, dass tatsächliche Reformen sich nicht eindeutig und ausschließlich in eine der oben definierten Richtungen bewegen müssen. Es ist durchaus denkbar, dass durch ein umfangreiches Reformpaket einige Aspekte der föderalen Ordnung verflochten oder zentralisiert, andere jedoch entflochten oder dezentralisiert werden. Die folgende Tabelle dient vielmehr der Konkretisierung der in der Abbildung dargestellten abstrakten Begriffe. Sie zeigt anhand der Aufgaben-, Ressourcen- und Entscheidungsstruktur, welche konkreten Formen Reformen oder Forderungen nach Reformen annehmen können und wo auf den Achsen Zentralisierung – Dezentralisierung bzw. Verflechtung – Entflechtung die einzelnen Maßnahmen jeweils einzuordnen sind.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[...]
[1] Mit Reform ist hier die Veränderung der föderalen Staatsorganisation selbst gemeint, nicht etwa die natürlich auch in Bundesstaaten geforderten Reformen verschiedener Politikfelder. Eine radikale Umstellung des Gesundheitswesens ist also keine Reform im Sinne der vorliegenden Arbeit, wenn sie nicht zugleich die vertikale Staatsorganisation verändert, indem beispielsweise Ressourcen oder Zuständigkeiten neu verteilt werden.
[2] Die Verwandtschaft besteht darin, dass diese Rahmenbedingungen in der Regel stabil sind, also bereits vorangegangene Weichenstellungen beeinflusst haben und zur Verfestigung bestehender Pfade beitragen.
[3] Die vorliegende Arbeit beruht auf der Annahme, dass die Staaten vergleichbaren institutionellen Trends unterliegen. Daher ist die Auswahl zusätzlich auf Bundesstaaten beschränkt, die Mitglieder der OECD sind. Diese Einschränkung ist jedoch nicht zwingend nötig; es wäre durchaus interessant zu untersuchen, ob die erzielten Ergebnisse auch für Bundesstaaten wie Indien oder Brasilien gelten. Aufgrund der schlechteren Datenlage und des begrenzten Umfangs einer Diplomarbeit wird diese Möglichkeit hier jedoch nicht umgesetzt.
[4] Althusius verstand unter Föderalismus eine territorial oder funktional gegliederte politische Vereinigung (1614, zitiert nach Benz 2001: 13)
[5] Im folgenden werden die Begriffe Föderalstaat, Bundesstaat und Föderalismus synonym verwandt. Einige Autoren kritisieren eine solche Vereinfachung (z.B. Annaheim 1992: 58). Für die vorliegende Arbeit besteht jedoch nicht die Gefahr, staatsrechtliche und politikwissenschaftliche Konzepte zu verwechseln, da die Vereinigung beider ausdrücklich angestrebt wird.
[6] Von diesen Möglichkeiten zur Erweiterung der Fallzahl kann in dieser Arbeit indes kein Gebrauch gemacht werden, weil Entwicklungen untersucht werden, die vor den Regionalisierungstendenzen in den jeweiligen Staaten bzw. vor dem eigentlichen Integrationsprozess der EG/EU begannen.
[7] Für den untersuchten Zusammenhang bestehen neben gemeinsamen institutionellen Trends unzählige andere Rahmenbedingungen, die Reformpolitik beeinflussen könnten und zum Teil höchst unterschiedlich sind (s. Neidhart 2001: 116). Die vorliegende Arbeit hat jedoch ausdrücklich zum Ziel, die Diskrepanz zwischen dem wahrgenommenen Reformbedarf und der umgesetzten Reformpolitik zu erklären. Dieses Forschungsinteresse erlaubt es nach Ansicht des Verfassers, die Vielfalt der Rahmenbedingungen teilweise zu ignorieren und lediglich eine Kontextvariable in die Untersuchung einzubeziehen.
[8] Algerien war zu diesem Zeitpunkt Teil Frankreichs, der Konflikt, der schließlich zur Verfassung von 1958 führte, war also durchaus ein interner.
[9] Diese zweite Phase setzte in den USA früher ein als im kontinentalen Europa, das sich erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zu Beginn der 1990er Jahre dem so genannten Neoliberalismus zuwandte (s. Schiller 1995: 361). Gerade in Deutschland und der Schweiz fanden zwei wichtige Schritte in Richtung Dezentralisierung und Entflechtung erst zu Beginn des dritten Jahrtausends statt.
[10] Der Verfasser dieser Arbeit ist der Meinung, dass dadurch keine wichtigen Daten verloren gehen. Wo weder Reformbedarf besteht, noch Reformpolitik stattfindet, können diese auch nicht untersucht werden. Zudem ist durch die flexible Ausgestaltung der Schlüsselperioden gewährleistet, dass die jeweils relevanten Diskussionen und Entscheidungen berücksichtigt werden.
[11] Die Schweiz hat sich als einziger der untersuchten Staaten seit Beginn des jeweiligen Untersuchungszeitraumes eine neue Bundesverfassung gegeben (1999).
[12] Nicht untersucht werden a) Reformen, die nur die gliedstaatliche Ebene betreffen (Einrichtung von Fachministerkonferenzen, Änderung des rein horizontalen Finanzausgleichs), b) Fusionen oder Sezessionen von Gliedstaaten sowie c) Veränderungen der Kompetenzen der Gemeinden. Alle drei Bereiche sind zweifellos von Bedeutung für die bundesstaatliche Ordnung. Die hier untersuchten Phänomene – Reformbedarf und Reformpolitik im Verhältnis von Bund und Gliedstaaten – können nach Meinung des Verfassers jedoch auch ohne Berücksichtigung des auf die gliedstaatliche oder kommunale Ebene beschränkten Geschehens ermittelt werden. Wichtige Veränderungen in diesen drei Bereichen werden natürlich dokumentiert.
- Quote paper
- Sebastian Kretz (Author), 2007, Reformbedarf und Reformpolitik in Föderalstaaten: Deutschland, die Schweiz und die USA im Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91485
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