Evidenzbasierte Medizin (EbM) in ihrer klassischen Form ist nach wie vor unverzichtbar für eine wissenschaftlich basierte Gesundheitsversorgung. Dennoch ist sie noch immer unzureichend in den klinischen Alltag integriert. Im vorliegenden Meta-Review über 243 aktuelle systematische Reviews werden sowohl hierfür ursächliche Barrieren aufgefunden als auch Interventionen identifiziert, mit denen sich EbM nachhaltig in der ärztlichen Berufspraxis implementieren lässt. Ausgehend von den Befunden wird mit Hilfe des Behaviour Change Wheel, einem etablierten Rahmenmodell der Implementationswissenschaft, eine aussichtsreiche Implementationsstrategie entwickelt.
Inhalt
1 Einleitung
2 Theoretischer und empirischer Hintergrund
2.1 Evidenzbasierte Medizin
2.2 Aktueller Forschungsstand
2.3 Behaviour Change Wheel
3 Methoden
3.1 Literatursuche
3.2 Datensammlung
3.3 Datenanalyse
3.4 Datensynthese
4 Ergebnisse
4.1 Eigenschaften der eingeschlossenen Reviews
4.1.1 Allgemeine Eigenschaften der eingeschlossenen Reviews
4.1.2 Methodische Qualität der eingeschlossenen Studien
4.2 Barrieren
4.2.1 Personale Faktoren
4.2.2 Umweltfaktoren
4.3 Interventionen
4.3.1 Einzelinterventionen
4.3.2 Interventionsbündel
4.4 Beziehungen zu theoretischen Konstrukten des BCW und Verhaltensänderungstechniken
4.4.1 Beziehungen von Barrieren zu COM-B-Modell, TDF und Interventionsfunktionen
4.4.2 Beziehungen von Interventionen zu BCTs und Interventionsfunktionen
4.4.3 Vergleich der über Barrieren und über Interventionen ermittelten Interventionsfunktionen
5 Diskussion
5.1 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
5.2 Ableitung von Empfehlungen für Interventionen zur Implementierung von EbM
5.3 Stärken und Limitationen
5.4 Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Zusammenfassung
Obwohl Evidenzbasierte Medizin (EbM) in ihrer klassischen Form nach wie vor unverzichtbar für eine wissenschaftlich basierte Gesundheitsversorgung ist, ist sie noch immer unzureichend in den klinischen Alltag integriert. Ziel der vorliegenden Studie ist es daher, hierfür ursächliche Barrieren aufzufinden und Interventionen zu identifizieren, mit denen sich EbM nachhaltig in der ärztlichen Berufspraxis implementieren lässt. Bei einem systematischen Review über 243 systematische Reviews der vergangenen zehn Jahre wurden in 22 Übersichtsarbeiten Barrieren hinsichtlich sowohl individueller (Mangel an Fähigkeiten und Wissen, ungünstige Routinen und Präferenzen, negative Einstellungen) als auch Umgebungsfaktoren (Mangel an Zeit, Ressourcen und adäquater Evidenz, sozialer Einfluss) identifiziert und mehrere mit geringem Effekt wirksame Interventionen (u. a. Informationsmaterial, Erinnerungen, sozialer Einfluss, kontinuierliche Interventionen) zur Verbesserung des beruflichen Verhaltens aufgefunden. Die erhobenen Befunde stehen mit Erkenntnissen aus früheren Meta-Reviews überwiegend in Einklang; zudem wird anhand der Ergebnisse mit Hilfe des Behaviour Change Wheel, einem etablierten Rahmenmodell der Implementationswissenschaft, eine Implementationsstrategie entwickelt.
Abstract
Although Evidence-based Medicine (EbM) in its classic form is indispensable for scientifically based healthcare, it is still insufficiently integrated into everyday clinical practice. Therefore, the aim of the present study is to find barriers to this and to identify interventions for sustainably implementing EbM in medical professional practice. In a systematic review of 243 systematic reviews of the past ten years, barriers regarding both individual (lack of skills and knowledge, unfavourable routines and preferences, negative attitudes) and environmental factors (lack of time, resources, or adequate evidence, social influence) were identified and several effective interventions for improving professional behaviour (including information material, reminders, social influence, continuous interventions) were found. The results largely confirm findings from previous meta reviews. Based on these findings, an intervention strategy for the implementation of EbM is developed with the help of the Behaviour Change Wheel, an established framework of implementation science.
Abkürzungen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Die zunehmende Verbreitung der Evidenzbasierten Medizin (EbM) insbesondere ab den frühen 1990er-Jahren weckte in der Medizin die Hoffnungen auf mehr Rationalität und Transparenz und auf Emanzipation von autoritätshöriger „Eminenz“-basierter Medizin (Stein, 1998). EbM wurde dabei entsprechend der Definition von Sackett, Rosenberg, Gray, Haynes und Richardson (1996) verstanden, die noch heute maßgebend ist:
Evidenzbasierte Medizin ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung. (Cochrane Deutschland Stiftung, 2020)
Gemäß dieser Konzeption sollte der Arzt oder die Ärztin bei einer klinischen Frage (a) externe Evidenz in Form von hochwertigen Studien und Übersichtsarbeiten auffinden und diese (b) mit eigenem Vorwissen und (c) den Wünschen der Patientin oder des Patienten in einem Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung integrieren.
Diesem vom individuellen Arzt und von der individuelle Ärztin ausgehenden, bottom up gerichteten „klassischen“ Ansatz wurde in der Folgezeit im Bemühen um einheitliche Qualitätsmindeststandards in der Medizin ein von der Makro- oder Systemebene ausgehender Top-down-Ansatz an die Seite gestellt, der auf der Anwendung von Leitlinien beruht (Djulbegovic & Guyatt, 2017; Fritsche, Jonitz, Neumayer & Kunz, 2000; Muche-Borowski & Kopp, 2011). In einem formalisierten Verfahren erstellte Leitlinien gelten hierbei als die höchste Form von Evidenz (Hart, 2005); als externe Normen sollen sie Ärztinnen und Ärzte von Entscheidungsunsicherheiten entlasten und ihnen die zeitaufwändige eigene Suche und Bewertung von Evidenz ersparen (Djulbegovic & Guyatt, 2017; Eichler, Pokora, Schwentner & Blettner, 2015).
Dieser Top-down-Ansatz wurde mit der Zeit zunehmend dominant (Eichler et al., 2015) und seine Befolgung für Ärztinnen und Ärzte in Deutschland rechtlich verpflichtend, indem der Begriff „evidenzbasierte Leitlinien“ in § 137f des Sozialgesetzbuchs V eingeführt wurde (Weingart, 2002). Leitlinien dienen seither als „Quasigesetze“ Juristinnen und Juristen zur Orientierung; in Haftungsfragen müssen Ärztinnen und Ärzte ihre Abweichung von der jeweiligen Leitlinie begründen können (Kienle, 2008).
Empirisch wird die Nützlichkeit leitliniengemäßen Vorgehens gestützt. So liegen Hinweise aus mehreren Studien vor, denen zufolge eine Behandlung entsprechend Leitlinien dem bisherigen, nicht an Leitlinien orientierten Vorgehen überlegen ist (Komajda et al., 2005; LaBresh, Reeves, Frankel, Albright & Schwamm, 2008; Varga et al., 2010; Wilke, Grube & Bodmann, 2011; Wöckel et al., 2010).1
[...]
1 Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele (Köberlein, Vent, Mösges & Wieland, 2011) und Hinweise darauf, dass eine Behandlung erfolgreicher sein kann, wenn der Arzt oder die Ärztin gezielt von Leitlinienvorgaben abweicht (Jacke, Albert & Kalder, 2015)
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