Die Dynamik der Globalisierung – beschrieben als eine „weltweit zunehmende Verflechtung von Menschen, Güter, Information und Kapital“ , bietet vielen Nationen und Menschen – durch den Abbau von internationalen Handels- und Wettbewerbsbeschränkungen – enorme Möglichkeiten ihren Lebensstandard zu erhöhen. Ungeachtet ihrer globalen Reichweite hat der Globalisierungsprozess jedoch nicht alle Nationen und Menschen in gleichem Maße erfasst, wodurch sich unterschiedliche Entwicklungstendenzen bezüglich der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse verschärft haben. Im Jahr 2000 wurden ca. 80% des Weltinlandsprodukts durch die Industrienationen mit einer Bevölkerung von ca. einer Milliarden Menschen erwirtschaftet, während lediglich 20% auf die Entwicklungsländer fielen, die jedoch eine Bevölkerung von ca. 5 Milliarden Menschen umfassen. Angesichts dessen wurden wiederholt Forderungen seitens der Entwicklungsnationen nach einer neuen weltwirtschaftlichen Ordnungsstruktur artikuliert, in dessen Rahmen die Disparitäten des globalen Wohlstandsgefälles ausgeglichen werden können. Begründet wird diese Forderung mit dem Vorwurf, dass Wohlstandsunterschiede durch das bestehende Machtgefälle in den internationalen Wirtschaftsinstitutionen aufrechterhalten, und die Rahmenbedingungen der Weltwirtschaftspolitik folglich überwiegend durch Industrienationen bestimmt werden, woraus ungleiche Einflusschancen auf global politische Gestaltungsmöglichkeiten resultieren. Mehrmalige Ansätze, oppositionsfähige Gegengewichte zu bilden, blieben aufgrund der geringen Machtposition der Entwicklungsländer in den internationalen Global-Governance-Institutionen relativ erfolglos. Angesichts ihrer Anzahl verfügen sie zwar über ein enormes Abstimmungspotential, das aber aufgrund ihrer geringen Verhandlungsmacht nur wenig Einflussmöglichkeiten auf den globalen weltwirtschaftlichen Gestaltungsprozess eröffnet. Mit dem Scheitern der beiden WTO Ministerkonferenzen in Seattle 1999 und in Cancun 2003, wurde jedoch ein bedeutsamer Wendepunkt in den internationalen Wirtschaftsverhandlungen markiert. Unter anderem bewegte der erfolglose Abbruch der Ministerkonferenz in Seattle die USA dazu eine neue Handelsrunde zu initiieren, die 2001 in Doha als Entwicklungsrunde deklariert wurde.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
I. Einleitung
1.1 Ausgangssituation.
1.2 Forschungsstand und Fragestellung.
1.3 Vorgehensweise.
II. Theoretische Grundlagen
2.1 Macht
2.1.1 Die Bedeutungsvielfalt eines selbstverständlichen und doch so unklaren Begriffes
2.1.2 Der Machtbegriff in den Theorien der Internationalen Beziehungen
2.2 Interdependenztheorie.
2.2.1 Der Begriff der Interdependenz
2.2.2 Macht und Interdependenz
2.2.3 Interdependenz, Kooperation und Internationale Institutionen
2.3 Verhandlungstheorie.
III. Entwicklungsländer im Weltwirtschaftssystem
3.1 Entwicklung des Welthandels nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945
3.2 Die Entwicklungsländer in den internationalen Wirtschaftsverhandlungen
3.2.1 Institutioneller und Struktureller Rahmen der WTO
3.2.2 Die Bedeutung der Entwicklungsländer im GATT/WTO System
3.2.2.1 Entwicklungsländerkoalitionen im GATT-Regime
3.2.2.2 Entwicklungsländerkoalitionen in der WTO
3.2.3 „Bargaining Coalitions“- die neuen Südallianzen
IV. Handlungsspielräume in komplexen Interdependenzbeziehungen
4.1 Interdependenzen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen
4.1.1 Die WTO-Verhandlungen zur Agrarmarktliberalisierung
4.1.2 Asymmetrische Interdependenzbeziehungen im internationalen Agrarhandel
4.1.2.1 Interdependenz-Empfindlichkeit
4.1.2.2 Interdependenz-Verwundbarkeit
4.1.2.3 Die Machtkonstellation im internationalen Agrarhandel
4.1.3 Machthierarchien und Machtverschiebungen im internationalen System
4.1.3.1 Der wirtschaftliche Aufholprozess der regionalen Führungsmächte Brasilien, China und Indien
4.1.3.2 Die Verwundbarkeitsdimension der OECD-Welt
4.2 Macht und Recht im konsensbestimmten Handelsregime
4.2.1 Einflusskanäle der G20+ Koalition in die Entscheidungsprozesse der WTO
4.2.1.1 Entscheidungsfindungsprozesse in der WTO
4.2.1.2 Machtpolitik in den Entscheidungsfindungsprozessen der WTO
4.2.2 Die Machtpolitik der Verhandlungsparteien im Verhandlungsprozess der WTO zur Agrarmarktliberalisierung
4.2.2.1 Die Verhandlungskonstellation während der WTO-Ministerkonferenz in Cancun
4.2.2.2 Die Machtpolitik der G20+ Koalition - „borrowing-of-power“.
4.2.2.3 Die Machtpolitik der USA und EU - “divide-et-impera”
4.2.3 Neue Akteurskonstellation in den WTO-Agrarverhandlungen
V. Resümee
Anhang
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Globale Haupthandelsströme 1998
Abb. 2: Zollsenkungsrunden des GATT.
Abb. 3: Die Organisationsstruktur der WTO
Abb. 4: Die Verhandlungskonstellation während der WTO-Verhandlungen 2003 in Cancun
Abb. 5: Hauptakteure der WTO-Ministerkonferenz in Cancun
Abb. 6: Anteile der wichtigsten Exporteure am Weltagrarhandel 2004
Abb. 7: Interdependenz-Empfindlichkeit der Verhandlungsparteien im Agrarsektor
Abb. 8: Interdependenz-Verwundbarkeiten der Verhandlungsparteien im Agrarsektor.
Abb. 9: Asymmetrische Interdependenzbeziehungen in den WTO-Agrarverhandlungen.
Abb. 10: Volkswirtschaftliche Entwicklung der G20+ Staaten (1970-2004).
Abb. 11: Mehrdimensionale Machtstruktur im internationalen System
I. Einleitung
1.1. Ausgangssituation
Die Dynamik der Globalisierung – beschrieben als eine „weltweit zunehmende Verflechtung von Menschen, Güter, Information und Kapital“[1], bietet vielen Nationen und Menschen – durch den Abbau von internationalen Handels- und Wettbewerbsbeschränkungen – enorme Möglichkeiten ihren Lebensstandard zu erhöhen. Ungeachtet ihrer globalen Reichweite hat der Globalisierungsprozess jedoch nicht alle Nationen und Menschen in gleichem Maße erfasst, wodurch sich unterschiedliche Entwicklungstendenzen bezüglich der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse verschärft haben.[2] Im Jahr 2000 wurden ca. 80% des Weltinlandsprodukts durch die Industrienationen mit einer Bevölkerung von ca. einer Milliarden Menschen erwirtschaftet, während lediglich 20% auf die Entwicklungsländer[3] fielen, die jedoch eine Bevölkerung von ca. 5 Milliarden Menschen umfassen.[4] Angesichts dessen wurden wiederholt Forderungen seitens der Entwicklungsnationen nach einer neuen weltwirtschaftlichen Ordnungsstruktur artikuliert, in dessen Rahmen die Disparitäten des globalen Wohlstandsgefälles ausgeglichen werden können. Begründet wird diese Forderung mit dem Vorwurf, dass Wohlstandsunterschiede durch das bestehende Machtgefälle in den internationalen Wirtschaftsinstitutionen aufrechterhalten, und die Rahmenbedingungen der Weltwirtschaftspolitik folglich überwiegend durch Industrienationen bestimmt werden, woraus ungleiche Einflusschancen auf global politische Gestaltungsmöglichkeiten resultieren. Mehrmalige Ansätze, oppositionsfähige Gegengewichte zu bilden, blieben aufgrund der geringen Machtposition der Entwicklungsländer in den internationalen Global-Governance-Institutionen relativ erfolglos. Angesichts ihrer Anzahl verfügen sie zwar über ein enormes Abstimmungspotential, das aber aufgrund ihrer geringen Verhandlungsmacht nur wenig Einflussmöglichkeiten auf den globalen weltwirtschaftlichen Gestaltungsprozess eröffnet.[5] Mit dem Scheitern der beiden WTO Ministerkonferenzen in Seattle 1999 und in Cancun 2003, wurde jedoch ein bedeutsamer Wendepunkt in den internationalen Wirtschaftsverhandlungen markiert. Unter anderem bewegte der erfolglose Abbruch der Ministerkonferenz in Seattle die USA dazu eine neue Handelsrunde zu initiieren, die 2001 in Doha als Entwicklungsrunde deklariert wurde.[6]
Zwei Jahre später erwies sich während der Ministerkonferenz in Cancun, dass die Zugeständnisse der „Doha-Development Agenda (DDA)“ erneut durch die USA und die EU unterminiert wurden. In Cancun formierte sich erstmalig eine Koalition aus Entwicklungs- und Schwellenländern, die aufgrund ihrer fluktuierenden Mitgliederzahl als G20+ bezeichnet wird. Hinter diesem Bündnis verbirgt sich der politisch-strategische Zusammenschluss verschiedener Entwicklungs- und Schwellenländer Lateinamerikas, Asiens und Afrikas. Überraschenderweise gelang es diesen Staaten, ihre Interessen bezüglich den Verhandlungen zur Agrarmarktliberalisierung wirksam zu vertreten und nicht mehr nur als stille Mehrheit an den Verhandlungen teilzunehmen. Somit wurden erstmals die Interessen der Entwicklungsnationen auf die Agenda der WTO-Verhandlungen gerückt. Unbestreitbar hat diese neue Entwicklungsländerkoalition aufgrund ihrer Effektivität hohe Aufmerksamkeit erregt, die auf dauerhaft veränderte Strukturen hinweist. Ihr wirkungsvolles Agieren deutet auf nachhaltig veränderte Verhandlungskonstellationen im Rahmen der WTO-Verhandlungen hin, die ihren Ausdruck in einer ausdifferenzierten Interessenlandschaft findet.[7]
1.2 Forschungsstand und Fragestellung
Mit der Koalitionsbildung der G20+ wurden angesichts ihrer neuartigen Konstellation und ihrer überraschend gestiegenen Bedeutung neue Impulse zur Erforschung von Entwicklungsländerkoalitionen und der mit ihr einhergehenden Fragestellungen gesetzt. Wichtige Erkenntnisse zu zwischenstaatlichen Koalitionsbildungen („inter-state bargaining coalitions“) unter Entwicklungsländern, konnten durch ausgiebige Forschungsarbeiten der WissenschaftlerInnen A. Narlikar & J. Odell („The strict Distributive Strategy for a Bargaining Coalition: The Like Minded Group in the WTO“, 2003) und D. Tussie & D. Glover („The Developing Countries in World Trade: Policies and Bargaining Strategies“, 1995), gewonnen werden, die an die Forschungserkenntnisse der Autoren C. Hamilton & J. Whalley (Coalitions in the Uruguay Round, 1989), M. Kahler & J. Odell („Developing Country Coalition-Building and International Trade Negotiations“, 1989) anknüpfen. Hervorgehoben wird in diesen verschiedenen Erklärungsansätzen einerseits die hybride Koalitionsstruktur aus „block-type“[8] - und „issue-specific coalitions“[9], aus der sich die Effektivität der G20+ herleiten lässt. Andererseits wird die Führungsqualität der aufstrebenden Volkswirtschaften betont. Die auf diesem Gebiet vorherrschenden Forschungsergebnisse der Autoren Narlikar, Tussie und Hurrell, führen die Effektivität der G20+ Koalition hauptsächlich auf Lern- und Anpassungsprozesse zurück. Die Lerneffekte, die die „Länder des Südens“ erzielen konnten, drücken sich aus in ihrer strategischen und institutionellen Anpassungsfähigkeit an den Kontext der Welthandelsrunden, in dessen Rahmen die Entwicklungsländer an Kompetenz in Koalitionsbildung und Verhandlungsstrategie gewonnen haben. Dies manifestiert sich in einem effizienteren Einsatz von Ressourcen, einem verbesserten systematischen Informationsaustausch und koordiniertem Vorgehen, wodurch Ressourcenengpässe weitgehend vermieden werden konnten. Dabei nehmen die regionalen Führungsmächte Brasilien, China, und Indien eine entscheidende Rolle ein. Sie besitzen vor allem größere diplomatische Kapazitäten und ein ausgeprägtes Vermögen, intellektuelle und fachliche Kompetenzen zu mobilisieren.[10] Letztendlich sind Anpassungsprozesse jedoch immer mit erheblichem Kosten- und Ressourcenaufwand verbunden. Ferner vermögen es allein Lern- und Anpassungsprozesse, die mit veränderten Strategien und Handlungsweisen verbunden sind, nicht unbedingt, eigene Interessen gegenüber anderen Verhandlungspartnern auch durchsetzen zu können. Um Ziele und Lernprozesse realisieren zu können wird Machtpotential benötigt. Der Erörterung der zentralen Fragestellung liegt folglich die Annahme zugrunde, dass sich die beschriebenen Lernprozesse, ohne ausreichende Machtressourcen nur bedingt realisieren lassen. Ebenso kann die neue Akteurskonstellation in den WTO-Verhandlungen nicht ausschließlich auf Lernprozesse zurückgeführt werden, ohne explizit auf Machtverschiebungen im internationalen System einzugehen. Vorrangiges Erkenntnisinteresse dieser Arbeit besteht darin, die Machtverhältnisse auch innerhalb der G20+ Koalition zu erfassen und daraus Schlüsse ziehen zu können, inwiefern sie tatsächlich als „Neue Macht des Südens“ bezeichnet werden kann, wie dies in den Medien, von sämtlichen Nichtregierungsorganisationen und nicht zuletzt in der wissenschaftlichen Diskussion verlautet wird.
Die neue Akteurskonstellation, die sich im Zuge der Gründung der G20+ Koalition herausgebildet hat, deutet auf nicht zu unterschätzende Machtverschiebungen im internationalen System hin, die im Rahmen dieser Arbeit explizit hervorgehoben werden sollen. Grundlage dieser Arbeit stellt somit die Frage nach der Wirkungsweise von Machtaspekten in den internationalen Wirtschaftsverhandlungen dar, genauer formuliert: Wie wirken sich Machtverschiebungen im internationalen System auf die Verhandlungskonstellation und die erzielten Politikergebnisse aus? Die G20+ Koalition umfasst Staaten, die sich hinsichtlich ihres Entwicklungsgrades bzw. ihrer wirtschaftlichen Größe stark unterscheiden. Vertreten sind kleine Volkswirtschaften, die weltwirtschaftspolitisch eine eher marginale Bedeutung einnehmen, im Aufholprozess befindliche Schwellenländer und aufstrebende Volkswirtschaften wie Brasilien, China und Indien, die derzeitig zu global bedeutungsvollen Akteuren avancieren. Diese drei Staaten nehmen innerhalb der G20+ Koalition entscheidende Führungsaufgaben wahr, weshalb ihnen eine bedeutende Rolle zugesprochen wird. In vorliegender Arbeit soll daher die These vertreten werden, dass die Effektivität bzw. das Machtpotential der G20+ Koalition nicht auf eine gesteigerte Macht der „Länder des Südens“ zurückzuführen ist, sondern ausschlaggebend auf den regionalen Führungsmächten Brasilien, China und Indien beruht, die aufgrund ihrer gestiegenen weltpolitischen Bedeutung auch die Machtkonstellation im internationalen System und in den WTO Agrarverhandlungen nachhaltig beeinflussen konnten.
1.3 Vorgehensweise
Nach einer allgemeinen Einleitung und einer Einführung in die theoretischen Grundlagen der Arbeit, soll zunächst auf den historischen Kontext der Bedeutung von Entwicklungsländerkoalitionen im internationalen Weltwirtschaftssystem und im GATT/WTO System eingegangen werden. Dabei sollen verschiedene Koalitionsbildungsstrategien vergangener Entwicklungsländerkoalitionen beleuchtet werden, um Differenzierungsaspekte zur Koalition der G20+ hervorzuheben. Die darauf folgende Analyse der Machtbeziehungen der WTO-Verhandlungsparteien, lässt sich in zwei aufeinander aufbauende Teilanalysen gliedern die auf folgenden Fragestellungen basieren:
1) Woher lässt sich das Machtpotential der G20+ Staaten explizit herleiten?
2) Wie schlägt sich dieses in den Entscheidungsprozessen der WTO nieder bzw. wie
lässt sich dieses Machtpotential in den Entscheidungsprozessen der WTO umsetzen?
Der erste Teil umfasst die Analyse der Machtbeziehungen der in die WTO Agrarverhandlungen eingebundenen Staaten, wobei die asymmetrischen Interdependenzbeziehungen des internationalen Systems dargelegt und Machtverschiebungen erläutert werden. Ziel ist es, die Machtposition der G20+ Koalition im internationalen System als auch die Stellung ihrer Mitglieder untereinander zu ermitteln, womit letztlich auch die Akteurskonstellation der WTO Agrarverhandlungen wiedergegeben werden kann.
Darauf aufbauend soll der „Übersetzungsprozess“ der ermittelten realen Machtpotentiale in politischen Einfluss in den internationalen WTO-Agrarverhandlungen rekonstruiert werden. Es soll somit nachvollzogen werden, wie sich die veränderte Akteurskonstellation herausbilden konnte und über welche Möglichkeiten die G20+ Koalition anhand ihres realen Machtpotentials verfügt, Einfluss auf die Politikergebnisse innerhalb von institutionellen Regelungsbereichen zu nehmen. Denn auch bei multilateralen Kooperationen in internationalen Institutionen handelt es sich trotz des ihnen zugeschriebenen idealistischen Selbstzwecks keineswegs um machtfreie Zonen.
II. Theoretische Grundlagen
Zur Analyse der Machtverhältnisse in den internationalen WTO-Agrarverhandlungen soll die „Interdependenztheorie“ der amerikanischen Politikwissenschaftler Robert O. Keohane und Joseph S. Nye herangezogen werden. Meine Auswahl dieses Theoriestrangs lässt sich durch das zunehmend von „komplexer Interdependenz“ gekennzeichnete internationale System begründen, das sich insbesondere in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen niederschlägt. Verfechter der Interdependenztheorie sind sich darüber einig, dass sich staatlich verfasste Gesellschaften in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis auf verschiedenen Ebenen und Dimensionen befinden. Diese wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisse führen zu einer Einschränkung der staatlichen Handlungsfähigkeit, die durch multilaterale Kooperation kompensiert werden kann. Anhand der Interdependenztheorie können Handlungsmöglichkeiten und Abhängigkeitsbeziehungen in wechselseitigen Verflechtungsbeziehungen aufgezeigt werden.[11] Zentral ist dabei die Frage, wie Staaten unter der Bedingung von Interdependenz Macht ausüben können. Dabei fungiert Interdependenz als intervenierende Variable zwischen Macht als der unabhängigen Variable und den Politikergebnissen als abhängige Variable.[12] Somit greift sie in den Umwandlungsprozess von realen Machtressourcen in die Politikergebnisse ein und wirkt in diesem Sinne relativierend. Die Berücksichtigung von Machtaspekten in interdependenten Beziehungszusammenhängen spricht für die Interdependenztheorie als einen geeigneten Erklärungsansatz zur Erörterung des im Rahmen dieser Arbeit angestrebten Erkenntnisinteresses.
Für den zweiten Analyseteil soll die „Verhandlungsanalyse“ des deutschen Politikwissenschaftlers Frank Pfetsch herangezogen werden, der in seinen Forschungsarbeiten ausführlich auf asymmetrische Beziehungskonstellationen in internationalen Verhandlungen eingeht. Anhand dessen soll an die Erklärungsansätze der Interdependenztheorie angeknüpft werden, die asymmetrische Machtbeziehungen in internationalen Verhandlungen nicht explizit aufgreift: Somit sind die Forschungserkenntnisse Frank Pfetschs als geeignete Ergänzung der Interdependenztheorie im Rahmen unserer Fragestellung anzusehen.
Da dem Machtbegriff im Rahmen dieser Arbeit, aber auch in der Forschungsdisziplin der Internationalen Beziehungen eine zentrale Bedeutung beigemessen wird, soll dieser als Grundlage nachfolgend, neben den genannten Theorieansätzen ausführlich erläutert werden.
2.1 Macht
2.1.1 Die Bedeutungsvielfalt eines selbstverständlichen und doch so unklaren Begriffes
Unbestritten spielt der Aspekt der Macht für die Politikwissenschaft eine grundlegende Rolle und zwar in gleichem Maße, den die Norm für die Rechtswissenschaft und der Nutzen für die Volkswirtschaftslehre innehält.[13] Hinsichtlich der Begrifflichkeit dieses Phänomens besteht jedoch noch immer die Schwierigkeit einer einheitlichen definitorischen Abgrenzung, da der scheinbaren Selbstverständlichkeit des Phänomens gleichzeitig eine gewisse Unklarheit des Begriffes gegenübersteht.[14] Seine definitorischen Auslegungen fallen inhaltlich weit auseinander und manifestieren sich in gegensätzlichen Bedeutungsinhalten. So wird Macht einerseits in einer relationalen Dimension betont, in der sie nur in sozialen Beziehungen existiert, während wiederum andere ihm einen substantiellen Gehalt zuschreiben.[15] Assoziiert wird der Machtbegriff vorrangig mit Freiheit, Gewalt und Zwang (Max Weber), oder auch als ein konstruktives Element der Kommunikation (u.a. Hannah Arendt).[16] Keiner dieser Begriffsbestimmungen kann, angesichts der unterschiedlichen Zugangsweisen, ein Absolutheitsanspruch gewährt werden,[17] da der Machtbegriff viele Interpretationen zulässt und eine hohe Komplexität bezüglich seines Bedeutungsinhaltes aufweist. Er variiert nach Raum, Zeit und Politikfeld und zeichnet sich durch eine grundlegende Ambivalenz in seiner Vieldeutigkeit aus.[18] Die Essenz der Macht kann sich also durch die Verschiebung innerer Strukturelemente in unterschiedlichen Erscheinungsformen generieren.[19]
2.1.2 Der Machtbegriff in den Theorien der Internationalen Beziehungen
Als Analyseinstrument nimmt der Begriff der Macht in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen nach wie vor eine zentrale Stellung ein.[20] Klassisch und grundlegend ist die Machtdefinition Max Webers, der auch gegenwärtig eine hohe Bedeutung zugesprochen wird und als Ausgangspunkt für weitere Machtkonzeptionen in angrenzender- oder abgrenzender Weise zitiert wird. Max Weber begreift Macht als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“[21] Weber hebt jedoch den amorphen Charakter seiner Definition hervor und bemerkt hinzufügend: „Alle denkbaren Qualitäten (...) und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.“[22] Der klassische Machtbegriff Webers, basiert nicht ausschließlich auf dem Aspekt der Gewalt oder des Zwanges, wird aber vorrangig mit diesen Eigenschaften assoziiert und weist demnach einen sehr offensiven Charakter auf.[23] In den Theorien der Internationalen Beziehungen orientiert sich vorrangig die realistische bzw. neorealistischen Denktradition am Weberschen Machtbegriff, der in dieser Hinsicht eine negative Konnotation erhält, da Macht nicht zuletzt auf militärischer Macht bzw. Gewalt basiert.[24] Die Vertreter dieser Schule – darunter in besonderem Maße Hans J. Morgenthau („Politics among Nations, Realismus“. 1948), Kenneth Waltz („Man, the State and War, Neorealismus“, 1959) und Karl-Gottfried Kinderm a nn (Grundelemente der Weltpolitik, Neorealismus Münchener Schule“, 1986), die mit ihrer Denkrichtung die Theorien der Internationalen Beziehungen anhaltend paradigmatisch dominierten – postulieren die Grundstruktur des internationalen Systems als anarchisch, die mit einer permanenten Bedrohung einhergeht, in der die Sicherheit der Nationalstaaten als Hauptakteure der Internationalen Beziehungen, grundlegend gefährdet ist. In dieser Konstellation kommt dem Machtaspekt als oberstem Maßstab und Ziel staatlichen Handelns eine herausragende Bedeutung zu. Während der Realismus das Streben der Staaten nach Macht anthropologisch begründet, wird das Machtstreben der Staaten in der neorealistischen Theorie durch die anarchische Struktur des internationalen Systems hervorgerufen. Die realistische Denktradition knüpft ebenso besonders an traditionelle Machtkonzeptionen an, wie die Vorstellungen Niccolò Machiavellis („Der Fürst“, 1513) oder die Vorstellungen Thomas Hobbes` (Leviathan“, 1651), um nur einige zu nennen, die politische Macht als Verfügungsmacht über Machtressourcen und Machtinstrumente erfassen, welche somit die Möglichkeit eröffnet, Einfluss auf das Handeln anderer im Sinne einer „praktischen Moral bzw. Verantwortungsethik“[25] auszuüben.[26] Trotz des auf Zwang und Gewalt gestützten Machtbegriffes ist jedoch ein durch Vernunft geleiteter und verantwortungsvoller Umgang mit Macht zum Schutze des Gemeinwohls bzw. der nationalen Interessen gemeint. Die realistische Vorstellung von Macht spiegelt einen von Normen befreiten pragmatischen Machtbegriff wieder, der sich auf eine rein rational geprägte Denkweise stützt und sich somit von idealistischen Vorstellungen gewaltfreier Politik abgrenzt.[27]
In neueren Konzepten wird die Vorstellung vertreten, dass sich Macht nicht nur in dem Versuch erschöpft, Widerstand zu brechen oder Gehorsam durch Machtmittel zu erzwingen.[28] Erste Distanzierungsschritte vom realistischen Machtverständnis setzten die Theoretiker Karl Deutsch ( „Politische Kybernetik“, 1969) – in seinem Verständnis von Macht als der „Fähigkeit sich nicht anpassen zu müssen“ – und Robert Dahl („Power as control over behaviour“, 1986), der die Überlegenheit eines Akteurs hervorhebt und sich nicht nur auf den Einsatz von Machtmitteln konzentriert.[29] Prägend war jedoch die Machtkonzeption der US-amerikanischen Forscher R. Keohane und J. Nye („Power and Interdependence“, 1977), die das realistische Machtverständnis um soziologische Komponenten erweiterten und somit ein soziologisches Machtkonzept aufgriffen, indem sie Macht als Steuerung sozialer Beziehungen verstehen[30]: „Power can be thought of as the ability of an actor to get others to do something they otherwise would not do (and at acceptable costs to the actor). Power can be conceived in terms of control over outcomes[31].” Dieser Machtbegriff hebt also weniger auf Zwang als auf Überzeugung und Beeinflussung in sozialen Beziehungen ab. Analytisch unterscheiden die Autoren zwischen „power as control over resources“ und „power as control over outcomes“. Sie unterscheiden also bewusst zwischen Macht als Ausdruck materieller Ressourcen wie dem ökonomischen oder militärischen Potential und Macht als Beeinflussungsvermögen in sozialen Beziehungen.[32]
Eine darauf aufbauend konstruktivistisch geprägte Machtkonzeption basiert auf dem von Joseph Nye 2004 geprägten „Soft Power“ Konzept. In diesem Sinne wird eine Form der Machtausübung bezeichnet, die die Fähigkeit eines Akteurs bezeichnet, „andere für sich einzunehmen oder zu einer im eigenen Interesse stehenden Entscheidung zu bewegen, ohne dabei Zwangsmaßnahmen anzuwenden. „Soft Power“ gründet sich auf die Überzeugungs- und Anziehungskraft der Akteure, die ihnen aus Sicht anderer Glaubwürdigkeit verleiht.“[33] Dabei handelt es sich weniger um Befehlsmacht, sondern eher um kooptive Macht.[34] Dieses Konzept steht in völligem Gegensatz zum traditionellen Machtverständnis und ist absolut frei von Zwang und Druck der durch Machtressourcen ausgeübt werden kann. „Soft Power“ basiert auf der Stärke der eigenen Anziehungskraft beispielsweise im kulturellen und ideologischen Bereichen und dem Transferieren eigener Werte auf friedlicher Basis, um die eigene Machtposition auf diesem Wege zu stützen oder weiter auszubauen.[35] Schließlich erklären konstruktivistische Ansätze, die sich mittlerweile fest neben den Großtheorien der internationalen Beziehungen etabliert haben, Macht als „Power is, what people think it is“.[36] Der konstruktivistische Theoriestrang wurde in bedeutendem Maße durch die Arbeiten des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Alexander Wendt („Anarchy is what the state make of it: the social construction of power politics“, 1992) geprägt. Macht kann, den konstruktivistischen Gedankengängen folgend, in der die Welt sozial konstruiert wird, keine messbare Variable darstellen. Vielmehr stellt sie in diesem Sinne ein durch Projektion und Perzeption hergestelltes Konstrukt aller an sozialen Interaktionen oder Verhandlungsprozessen beteiligten Akteure dar.[37]
Wie die vorangegangenen Ausführungen verdeutlichen, kann man sich dem Machtbegriff auf unterschiedliche Weise annähern, entweder über die Bedeutung der Machtressourcen („hard power“) oder über den Einfluss, den die Akteure über andere Akteure in sozialen Beziehungen ausüben und diese entsprechend ihrer Intentionen gestalten können („soft power“). So heben sich neuere Machtdefinitionen in ihrer Mehrdimensionalität von klassischen Machtdefinitionen (Realismus) ab. Die unterschiedlichen Theorien der Internationalen Beziehungen geben dem Machtbegriff, je nach paradigmatischer Orientierung unterschiedliche Bedeutungsinhalte. Dies spiegelt die Dynamik des Machtbegriffes wieder, der sich mit den Veränderungen räumlicher und zeitlicher Dimension als auch durch gesellschaftliche, strukturelle und ideologische Veränderungen oder Zugangsperspektiven in seinem Bedeutungsgehalt ändert. Nach neueren Überlegungen weist der Machtbegriff eine gewisse Mehrdimensionalität auf, dessen Ausübung Kontextabhängig ist. Machtressourcen stellen in diesem Rahmen lediglich das „Rohmaterial“ für Machtbeziehungen dar. Anhand der Argumente die in den verschiedenen Theorien veranschaulicht wurden, erscheint es sinnvoll, hinsichtlich der Analyse des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes, den mehrdimensional geprägten Machtbegriff vorzuziehen. Machtbeziehungen und Machtressourcen werden demnach kombiniert berücksichtigt, da die Ausübung von Macht, Ressourcen voraussetzt.[38] Insofern erscheint es überzeugend mich in meiner methodischen Vorgehensweise dem Konzept von Keohane und Nye anzuschließen, die bezüglich des Machtbegriffes zwischen „power over resources“ und „power over outcomes“ unterscheiden. Von Bedeutung ist dabei, anhand der nachfolgenden Untersuchung aufzuzeigen wie die G20+ Koalition bzw. die Regionalmächte Brasilien, China, Indien und Südafrika „power over resources“ in „power over outcomes“ umsetzen können und folglich die Fähigkeit haben „to get others to do something they otherwise would not do (and at acceptable costs to the actor). Power can be conceived in terms of control over outcomes[39].” Gegenwärtig befinden sich staatlich verfasste Gesellschaften nicht mehr nur in der OECD Welt, sondern auch global in einer qualitativ veränderten wechselseitigen Abhängigkeit, die verschiedene Dimensionen, Ebenen und Politikbereiche durchzieht.[40]
2.2 Interdependenztheorie
Als Hauptverfechter der Interdependenztheorie gelten die US amerikanischen Politologen Robert Keohane und Joseph Nye, die mit ihrem Werk „Power and Interdependence“ aus dem Jahre 1977, diesen stark ökonomisch geprägten Forschungsansatz auch für die Politikwissenschaft fruchtbar machten.[41] Der Interdependenzansatz entstand infolge der zunehmend beobachtbaren, wechselseitigen Abhängigkeiten im internationalen System, die auf die wachsenden Verflechtungen im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich der 1970er Jahre zurückzuführen sind und zunehmend auch ökologisch geprägt sind.[42] Die Autoren gehen damit von einer Verflechtung interdependenter Beziehungen unterschiedlicher Intensität und Qualität aus, die aufgrund der faktischen Unterschiedlichkeit der Staaten zumeist asymmetrisch geprägt sind. Anders als die (neo-) realistische Schule gehen die Autoren also nicht von einem anarchisch geprägten System aus, welches das Handeln der Staaten beeinflusst.[43] So entwickelten sie gegenüber den realistischen und neorealistischen Theorien eine neue Betrachtung von Macht und Machtstrukturen im Rahmen eines komplexen interdependenten Systems.[44] Folglich bezieht sich ihre zentrale Fragestellung auf den Untersuchungsgegenstand, wie Staaten unter den Bedingungen von Interdependenz Macht ausüben können.[45] Damit zielt die Interdependenztheorie auf die Erklärung wechselseitiger Abhängigkeitsbeziehungen der einzelnen Systemteile ab. Asymmetrische Interdependenzen bedingen aber auch asymmetrische Machtbeziehungen, die folglich auf unterschiedliche Machtpositionen schließen lassen. Diese wird folglich in internationalen Verhandlungen ausgespielt, indem unabhängige Staaten, asymmetrisch-interdependente Beziehungen als Machtressource nutzen.[46]
Mit ihrem Werk „Power and Interdependence“, wird also eine Veränderung des internationalen Systems aufgezeigt, die durch komplexe Interdependenzen gekennzeichnet ist. Eine bedeutsame Konsequenz dessen ist die Beschränkung des Handlungs- und Steuerungsvermögens von Staaten, wodurch die Realisierung staatlicher Ziele und Interessen deutlich erschwert wird oder globale Problemlagen einzelstaatlich nicht mehr gelöst werden können.[47] Parallel dazu entstehen aber auch Anreize zur multilateralen Kooperation hinsichtlich der Regulierung der internationalen Beziehungen.[48]
2.2.1 Der Begriff der Interdependenz
Entgegen vorhergehender Methoden anderer Wissenschaftler, den Aspekt der Interdependenz empirisch nachzuweisen, was bisher jedoch nur approximativ gelang, entziehen sich die Autoren dieser Methodik, indem sie auf die politische Signifikanz der empirischen Interaktionen verweisen, der sich direkter Messbarkeit entzieht. Signifikant, sei nicht der messbare Umfang bzw. das Ausmaß der Transaktionen, sondern die Erkenntnis, dass Interdependenzen seit dem 19. Jahrhundert enorm zugenommen haben. In diesem Zusammenhang nähern sich die Autoren dem Interdependenzbegriff über das Kriterium der Kosten.[49] Als Interdependenz bezeichnen sie „ein Beziehungsmuster zwischen staatlich verfassten Gesellschaften, das sich durch eine hohe Interaktionsdichte auszeichnet, deren Verlust oder drastische Beschneidung mit erheblichen Kosten für beide Seiten verbunden wäre“.[50] Interdependenz liegt demgemäß nur dann vor, wenn Interaktionen wechselseitige Kosten in dem Sinne verursachen, dass die einzelstaatliche Autonomie beschränkt wird und Anpassungsleistungen erforderlich sind. Sofern diese wechselseitigen Kosten ungleich ausfallen, liegt eine asymmetrische Interdependenz vor. Dies bedeutet zugleich, dass Staaten in unterschiedlichem Maße verwundbar sind. Bezüglich dessen differenzieren die Autoren den Interdependenzbegriff in zweifacher Weise: 1. Interdependenz-Empfindlichkeit (sensitivity) und 2. Interdependenz-Verwundbarkeit (vulnerability).[51] Unter Interdependenz-Empfindlichkeit ist folgendes zu verstehen: „Sensitivity interdependence is created by interactions within a framework of policies. Sensitivity assumes that the framework remains unchanged. The fact that a set of policies remains constant may reflect the difficulty in formulating new policies within a short time, or it may reflect a commitment to a certain pattern of domestic and international rules.”[52] Demnach zeigt Interdependenz-Empfindlichkeit an, inwiefern ein Staat von Veränderungen berührt wird, die durch Veränderungen in einem anderen Staat hervorgerufen wurden, jedoch keine politischen Anpassungsprozesse erfordern. Demgegenüber definieren die Autoren Interdependenz-Verwundbarkeit „as an actor’s liability to suffer cocts imposed by external events even after policies have been altered.”[53] Eine Interdependenz-Verwundbarkeit liegt also vor, wenn Kosten entstehen die zwangsläufig zu politischen Anpassungsleistungen führen. Die Verwundbarkeit von Staaten kann durch die relative Verfügbarkeit und Kostenintensität alternativer politischer Handlungsmöglichkeiten verdeutlicht werden.[54]
2.2.2 Macht und Interdependenz
Trotz der Einschränkung staatlicher Handlungsfähigkeit, die mit Interdependenzbeziehungen einhergehen, bedeutet dies nicht, dass Machtpolitik eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Staaten sind insofern machtvoll, je weniger sie internationalen Interdependenzen ausgesetzt sind bzw. je weniger sie interdependenz-empfindlich oder interdependenz-verwundbar sind.[55] Die unterschiedliche Verwundbarkeit generiert unterschiedliche Machtpositionen. Keohane und Nye definieren Macht als: „[...] the ability of an actor to get others to do something they otherwise would not do (and acceptable cost to the actor).“[56] Wenn asymmetrische Interdependenzbeziehungen eine Quelle von Macht darstellt, kann diese verstanden werden als “power over resources” oder als “power over outcomes”. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Verfügung über Machtressourcen zwangsläufig zu gleichbedeutenden Einflusspotentialen führt, da Machtressourcen in politischen Verhandlungsprozessen in Einflusspotential transformiert werden, wodurch einiges an Machtpotential relativiert wird.[57] Dennoch eröffnet sich für Staaten, die relativ unverwundbar sind, damit die Möglichkeit, internationale Verhandlungen und Organisationen im eigenen Interesse zu beeinflussen.[58] In Verhandlungsprozessen wird deutlich wie Machtpotentiale letztlich eingesetzt werden.[59] Insofern besteht ein großes Interesse der Staaten, die aus den internationalen Austauschbeziehungen resultierenden Kosten und Nutzen zu ihren eigenen Gunsten zu verteilen, indem Anpassungsleistungen an andere Staaten abgewälzt werden. Die Interdependenztheorie geht von rational handelnden Akteuren aus, die ihre Interessen anhand von Kosten-Nutzen-Kalkülen abwägen. Infolge der Interdependenz agieren die Akteure unter veränderten Bedingungen die der Realisierung ihrer egoistischen Ziele Beschränkungen auflegen.[60] Macht im realistischen Sinne stellt für die Autoren nicht das Hauptinstrumentarium zur staatlichen Zielerreichung dar. Relevant sind themenspezifische Ressourcen. Im Kontext der zunehmenden Verflechtungsbeziehungen ist der Einsatz militärischer Macht beispielsweise nicht immer zweckmäßig und sinnvoll. Insofern können auch Normen und Institutionen zur Regelung internationaler Interessenkonflikte beitragen.[61]
2.2.3 Interdependenz, Kooperation und internationale Institutionen
Keohane und Nye argumentieren, dass Beziehungszusammenhänge, die durch Interdependenz geprägt sind, prinzipiell die Möglichkeit eröffnen, gemeinsame Gewinne durch multilaterale Kooperation zu erzielen. Dies resultiert vor allem aus dem „collective action problem“, wonach die Realisierung der Ziele eines Staates von den Entscheidungen aller in den interdependenten Beziehungszusammenhang eingebunden Staaten abhängt. Ein unilaterales Vorgehen würde zu suboptimalen Ergebnissen für alle führen. Hieraus folgern die Autoren ein wesentliches Interesse der rational handelnden Egoisten an Kooperation. Interdependenz stellt hierbei einerseits die Bedingung der Möglichkeit von Kooperation und die Ursache des Bedarfs für Kooperation dar. Dies bedeutet jedoch nicht, dass interdependente Beziehungen zwangsläufig zu Kooperation führen. Dem vorausgesetzt muss beispielsweise die Einsicht vorhanden sein, dass die Verwirklichung der angestrebten Ziele durch Kooperation begünstigt wird.[62]
2.3 Verhandlungstheorie
Die steigende Relevanz neuartiger Verhandlungsmuster, ist erst kürzlich als Forschungsgegenstand in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen erforscht worden. Verhandeln stellt eine Form von gewaltfreier Auseinandersetzung dar, um Lösungen für gegensätzliche Interessen zu finden und lässt sich der demokratischen Kultur der Streitauseinandersetzung zuordnen. Es stellt einen sozialen Prozess dar, „in dem zwei oder mehrere Parteien über eine gewisse Zeit interagieren bei der Suche nach einer akzeptablen Position für ihre Differenzen in Bezug auf ein und denselben Streitgegenstand“.[63] Die abnehmenden kriegerischen Auseinandersetzungen und zunehmenden Interdependenzverflechtungen während der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts haben zu einem friedlicheren Umgang der Staaten hinsichtlich der Konfliktbewältigung untereinander geführt, wobei der Bedarf an Verhandlungskapazitäten kontinuierlich angestiegen ist. Diese Verhandlungen finden zumeist in internationalen Institutionen oder Gremien statt, dessen Normen und Prinzipien wichtige Rahmenbezüge darstellen.[64] Aufgrund der Komplexität der sozialen und politischen Vorgänge innerhalb von Verhandlungen, ist es schwierig diese nur mit einem theoretischen Zugriff zu behandeln. Somit besteht keine Verhandlungstheorie an sich, sondern vielmehr bestehen unterschiedliche Theorien und Ansätze verschiedener Disziplinen, die sich dem Themenkomplex aus verschiedenen Perspektiven und Fragestellungen annähern.[65] Im Rahmen dieser Arbeit, ist die Verhandlungsanalyse des deutschen Politikwissenschaftlers Prof. Dr. Frank R. Pfetsch sehr aufschlussreich, da er sich in seinen Forschungsarbeiten u.a. insbesondere mit asymmetrischen Beziehungsmustern in internationalen Verhandlungen beschäftigt. Mit seinen Forschungserkenntnissen kann sehr gut an die Forschungsarbeiten von Keohane und Nye angeknüpft werden, da er die Prozesse auch in den Verhandlungsstrukturen ausführlich beschreibt und asymmetrische Interdependenzbeziehungen explizit aufgreift. Anhand der Verhandlungsanalyse nach Pfetsch, können die veränderten Machtstrukturen der WTO-Verhandlungen zur Agrarmarktliberalisierung nachvollzogen und aufgezeigt werden. In seinem 2006 veröffentlichten Werk „Verhandeln in Konflikten“ beschreibt er fünf unterschiedliche Erscheinungsformen von Symmetrie und Asymmetrie, in der sich Macht in ihren jeweiligen Dimensionen und Phasen des Verhandlungsprozesses manifestiert. Der Prozess der Verhandlung wird in entscheidender Weise von den unterschiedlichen Kräfteverhältnissen beeinflusst, die die Verhandlungskonstellation im wesentlichen kennzeichnet. Sie können entweder symmetrisch – was eine nahezu ideale Verhandlungskonstellation darstellt – oder asymmetrisch sein, was auf eine sehr heterogene Verhandlungskonstellation schließen lässt. Dabei spielt das Machtpotential der Verhandlungspartner zu Beginn und auch während des Verlaufs der Verhandlungen eine entscheidende Rolle. Symmetrische und asymmetrische Beziehungsmuster, die sich in einem dynamischen Prozess durch die Verhandlungen hindurch ziehen, bestimmen letztlich im wesentlichen das Verhandlungsergebnis. Symmetrische und Asymmetrische Beziehungen können sich im Verlauf der Verhandlungen als Machtstruktur, als Prozess, als Äquidistanz, als Mittel und als Ergebnis manifestieren. Pfetsch postuliert, dass die Verhandlungsergebnisse umso tragfähiger sind, je symmetrischer die Beziehungen gegen Ende der Verhandlungen ausfallen.[66]
(1) Symmetrie und Asymmetrie als Prozessvariable im Streben nach Gleichheit (Potenzialgröße)
Hierbei manifestiert sich Macht in symmetrische oder asymmetrische Potentialgrößen, die sich zumeist an Indikatoren wie die ökonomische Leistung, militärische Stärke oder der politischen Performanz messen lassen. Diese Machtpotentiale gehen als Prozessgröße zu Beginn in die Verhandlungen ein, und bestimmen somit die Ausgangsposition der Verhandlungsparteien gemäß ihrem realen Machtpotential. Dabei kann die stärkere Verhandlungspartei versuchen ihre dominante Position in den Verhandlungen auszuspielen.[67]
(2) Symmetrie und Asymmetrie als Potentialgrößen (Prozessvariable)
Asymmetrische Machtbeziehungen führen meist zu unterschiedlichen Verhaltensweisen und Strategien. In diesem Rahmen kommt Macht als Beziehungsgröße eine bedeutende Rolle zu. „Der stärkere wird im Verhandlungsverlauf versuchen, seine Stärke zur Durchsetzung seiner Interessen einzusetzen und der Schwache wird versuchen, zu einem Ergebnis zu kommen, das ihn nicht benachteiligt.“[68] Die verhandlungsstarke Partei versucht dabei sich den Vorteilen der asymmetrischen Beziehungen zu nutze zu machen, während die schwächere Verhandlungspartei versucht diese, durch „borrowing-of-power-strategies“ wie beispielsweise die Nutzung von Veto-Macht oder Koalitionsbildungen auszugleichen.[69]
(3) Symmetrie zwischen Mittel und Zweck (Mittel)
Hierbei geht es um nichtmaterielle Machtquellen. Diese beziehen sich im wesentlichen auf die Verhandlungsgeschicklichkeit der individuellen Akteure, die die Staaten explizit in den Verhandlungen vertreten. Bedeutend sind dabei persönliche Eigenschaften, soziale Kompetenzen und strategische Fähigkeiten. Dabei kann er sich – sofern genügend vorhanden – Zwangsmittel, struktureller Machtmittel oder konsensualer Machtmittel bedienen. Zwangmittel basieren auf realen Machtpotentialen wie physische bzw. materielle Stärke, die sich an ausgewählten Kennzahlen operationalisieren lassen. Sie stützen sich auf ungleiche Machtverteilungen, die zu asymmetrischen Beziehungsmustern führen. Ausgeübt werden kann Macht hierbei durch harte Gewalt wie Zwang und Druck, oder durch weiche Macht, wie die ideelle Überzeugung. Strukturelle Macht besitzt ein Akteur, wenn er über knappe Ressourcen verfügt wie beispielsweise ökonomische Ressourcen. Macht drückt sich hier beispielsweise in Monopolstellungen aus. Konsensuale Machtmittel beinhalten Machtmittel wie Überzeugung, Überredung, Diskurs, oder Massenappell. Im Idealfall handelt es sich bei der Anwendung von konsensualen Machtmitteln um symmetrische Beziehungen, da sie die Bereitschaft der Akteure zum Ausdruck bringen, zu einer Übereinkunft gelangen zu wollen.[70]
(4) Symmetrie und Asymmetrie als Äquidistanz in Vermittlungen (Vermittler)
In Verhandlungen kann es vorkommen, dass eine dritte Partei als Vermittler hinzu gezogen wird. Um eine solche Position einnehmen zu können muss dieser zu allen beteiligten in gleicher Distanz stehen. Diese Symmetrische Entfernung wird als Äquidistanz bezeichnet. Die erfolgreiche Vermittlung zwischen zwei Parteien setzt ein gewisses Maß an Verhandlungsmacht voraus.[71]
(5) Symmetrie als faires Ergebnis (Ergebnis)
Alle Verhandlungsparteien zielen auf ein möglichst nutzenmaximierendes Ergebnis ab. Die Einschätzung des Ergebnisses hängt dabei von der jeweils subjektiven Bewertung der Verhandlungspartei ab. Verhandlungsparteien, die keine Gewinne bzw. unzufrieden stellende Ergebnisse zu erwarten haben, werden sich dementsprechend nicht auf Verhandlungen einlassen oder diese schnell beenden wollen. Ausgeschlossen wird jedoch nicht, dass unter asymmetrischen Verhandlungskonstellationen, symmetrische Politikergebnisse erzielt werden können.[72]
Mit Symmetrie und Asymmetrie werden Grundlagen von Machtbeziehungen in Verhandlungen beschrieben, die sich im Verlauf der Verhandlungen in fünf unterschiedlichen Erscheinungsformen manifestieren können. Ausgehend beschreibt sie die Machtbeziehungen, die aufgrund unterschiedlicher realer Machtpotentiale vorherrschen, in der die stärkeren Staaten versuchen werden ihre vorteilhafte Position auszuspielen und die schwächeren Staaten versuchen werden, die Machtdiskrepanzen auszubalancieren. Dabei greifen die Akteure auf unterschiedliche Instrumente zurück um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Desweiteren kann eine dritte Partei als Vermittler hinzugezogen werden. Letztlich können Ergebnisse daran gemessen werden, ob sie zufrieden stellend für alle Parteien ausfallen bzw. als gerecht empfunden werden.[73]
III. Entwicklungsländer im Weltwirtschaftsystem
3.1 Entwicklung des Welthandels nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945
Die zunehmende Verflechtung weltwirtschaftlicher Interdependenzbeziehungen ist angesichts der Intensität gegenwärtiger Forschungsdebatten über Globalisierungsprozesse kein Produkt neuzeitlicher Entwicklungstendenzen. Bereits zu Beginn des 19. Jh. zeichneten sich im Zuge der Industrialisierung ausgeprägte Globalisierungstendenzen ab.[74] Dieser Prozess erfuhr jedoch durch die nachfolgenden Weltkriege und des weltwirtschaftlichen Zusammenbruchs während der ersten Hälfte des 20. Jh. eine einschneidende Zäsur.[75] Der internationale Handel nahm rasant ab und wurde durch eine Reihe protektionistischer Maßnahmen der Nationalstaaten begleitet, sodass die weltwirtschaftlichen Aktivitäten während der Zwischenkriegszeit teilweise zum völligen Erliegen kamen. Diese bitteren Erfahrungen veranlassten die USA und Großbritannien schon während des zweiten Weltkrieges erste Initiativen zur Neugestaltung eines neuen Weltwirtschaftssystems einzuleiten, woraufhin mit dem Abkommen von Bretton Woods im Jahre 1944 und der Unterzeichnung des „General Agreements on Tariffs and Trade (GATT)“ von 1947 die ersten Weichen für eine liberale Weltwirtschaftsordnung gelegt wurden. Durch die Gründung dieser internationalen Institutionen, sollte eine verstärkte Integration und Arbeitsteilung zwischen den Nationalstaaten gefördert werden und internationale Kapital- und Handelsströme nach wirtschaftsliberalen und marktorientierten Grundsätzen reglementiert werden. Im Zuge der Liberalisierungsrunden des GATT und der darauf folgend gegründeten Welthandelsorganisation WTO im Jahre 1995 konnten internationale Handelsbarrieren von durchschnittlich 40% bis auf gegenwärtig ca. 4% gesenkt werden. Angesichts dessen muss jedoch ergänzend hinzugefügt werden, dass einige wichtige Themenbereiche wie beispielsweise der Agrar- und Textilbereich aus protektionistischen Gründen bis zu Beginn der Uruguay Runde von diesen Liberalisierungsprozessen ausgeschlossen wurden. Auch gegenwärtig ist die Verhandlung dieser Themen mit einem hohen Konfliktpotential verbunden.[76] Die Liberalisierung der Rahmenbedingungen für den internationalen Welthandel schlägt sich in beachtlichen Wachstumsraten und dem Grad internationaler Verflechtung nieder.[77] Seit Gründung dieser Institutionen ist ein weltwirtschaftliches Wachstum mit einer Rate von etwa jährlich 6% - mit Ausnahme der 80er Jahre – zu verzeichnen.[78] Die Globalisierungswelle der Nachkriegszeit, verstanden als die Zunahme internationaler Verflechtungsbeziehungen in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Dimension, schreitet ungeachtet der Wirtschaftskrisen in den 70er und 80er Jahren, die u.a. durch
den Ölpreisschock, der Finanzkrise Lateinamerikas und des Zusammenbruchs des Bretton Woods Systems hervorgerufen wurden, kontinuierlich voran.[79] Ein weiterer Globalisierungsschub wurde während der 90er Jahre durch die enormen Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie und der Veränderung der politischen Weltlage durch den Zusammenbruch der Sowjetunion begünstigt, wobei sich die kapitalistisch-liberale Wirtschaftsordnung in entscheidender Weise gegen die sozialistische Weltanschauung durchsetzte.[80] Der gegenwärtige Globalisierungsprozess differenziert sich insbesondere durch eine effektive internationale Arbeitsteilung, der Liberalisierung anderer Wirtschaftssektoren sowie der Ausgestaltung verschiedener internationaler Regulierungsmechanismen von den Globalisierungsprozessen der Vorkriegszeit. Damit wird der Übergang von einer spontanen zu einer organisierten Weltordnung markiert. Angesichts der zu verzeichnenden Erfolge, sind jedoch noch viele Entwicklungsländer, nach wie vor nicht hinreichend an diesen weltwirtschaftlichen Prozessen beteiligt.[81] Folgende Abbildung verdeutlicht die globalen Haupthandelsströme gegen Ende des 20. Jh.:
Abb. 1: Globale Haupthandelsströme 1998
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Deutscher Bundestag: „Schlussbericht der Enquete-Kommission: Globalisierung der Weltwirtschaft –
Herausforderungen und Antworten“, Berlin 2002, S. 120
Tatsächlich konzentrieren sich die Handelsverflechtungen räumlich bilateral und regional auf die Regionen Europas, Nordamerikas und des Asien-Pazifiks – bekanntlich als Handelstriade bezeichnet – die zusammen 80% des Welthandels auf sich vereinen.[82] Zudem beschränken sich die Handelsbeziehungen im wesentlichen auf die acht handelsstärksten Industrienationen an deren Spitze sich die USA, Deutschland und Japan befinden.[83] Mit dem Aufstieg der asiatischen Schwellenländer, darunter maßgeblich die Volksrepublik China und die kleinen Tigerstaaten Taiwan, Südkorea, Hongkong und Singapur, hat sich während der 90er Jahre schließlich ein Strukturwandel im Welthandelssystem vollzogen. China avancierte zu einer der weltgrößten Exportnationen.[84] Die übrigen Länder Afrikas, Lateinamerikas und einige Süd-Ost asiatische Staaten haben ihren Anteil am Welthandel nicht oder nur bedingt ausbauen können.[85] Während der Handel der Industrienationen weiter zunimmt, sind die Handelsbeziehungen der Entwicklungsländer untereinander wesentlich schwächer ausgeprägt, erfahren derzeitig jedoch eine zunehmende Intensität.[86] Dennoch konzentrieren sich ihre Handelsbeziehungen hauptsächlich auf die USA und die EU.[87] So weist die Handelsverflechtung der Industrienationen untereinander eine höhere Intensität auf als zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern oder zwischen den Entwicklungsländern.[88]
„Unterentwicklung“ – formelhaft verstanden als ungenügende Entwicklung der Produktivkräfte – ist nach bisherigem Erkenntnis- und Forschungsstand anhand der monokausal konstruierten Entwicklungstheorien nicht ausreichend zu begründen.[89] Die nachfolgenden Ausführungen gehen nicht mit dem Anspruch einher, den mehrdimensionalen Prozess und die Ursachen der Unterentwicklung vollständig erklären zu wollen. Vielmehr sollen wichtige Faktoren und Rahmenbedingungen aufgezeigt werden, die die wirtschaftlichen Entwicklungen der weniger entwickelten Länder grundlegend beeinflusst haben.
Die Entwicklung und Verflechtung der Entwicklungsländer in das System der Weltwirtschaft hat sich unter völlig anderen Rahmenbindungen vollzogen. Während die Industrienationen den internationalen Handel um die Wende zum 20. Jahrhundert dominierten, befanden sich viele Nationen in kolonialer Abhängigkeit und fungierten hauptsächlich als Absatzmärkte und Rohstofflieferanten. Dies änderte sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 aufgrund des zunehmenden Widerstandes in den Kolonien und der Entstehung einer partizipativen Weltgesellschaft, mit dem Anspruch nach universalen Werten menschenwürdiger Lebensbedingungen. Die wieder erlangte Unabhängigkeit ermöglichte jedoch weder Partizipationschancen an weltordnungspolitischen Entscheidungsprozessen, noch hatten sie die nötigen Voraussetzungen, um an den weltwirtschaftlichen Prozessen der Nachkriegszeit anzuknüpfen. Da sich der Welthandel während der Kolonialzeit vorwiegend auf Primärgüter stützte an denen die Entwicklungsnationen hauptsächlich beteiligt waren, gelang es vielen nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit nicht, ihre Exportprodukte dem Trend zur Fertigwarenproduktion folgend, zu erweitern.[90] Da die ehemaligen Kolonien ausschließlich auf die Versorgung der Mutterländer mit Rohstoffen ausgerichtet waren, wurde ihnen zumindest zu Beginn ihrer Unabhängigkeit, der Eintritt in den Weltwirtschaftsprozess, durch fehlende Entwicklungsalternativen und lang anhaltender interner Strukturprobleme erschwert. Begünstigt wurde dies zudem durch die steigende Nachfrage nach Rohstoffen während des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit, die den Entwicklungsländern zwar gewinnbringende Devisen einbrachten, jedoch infolge dessen auch keine weiteren Veranlassungen zur Ausgestaltung der Exportstruktur gesehen wurden. Durch die nachfolgend, sinkenden Rohstoffpreise und der immer größeren Nachfrage nach höherwertigen Konsum- und Investitionsgütern, verschlechterten sich folglich auch die „Terms of Trade“[91] .[92] Weiter verschärft wurde dies während des Anstiegs der Rohölpreise der 1970er und 1980er Jahre, was zu steigenden Leistungsbilanzdefiziten und Auslandsverschuldungen führte. Da die Länder kaum Alternativen zum Rohstoffhandel aufwiesen, verstrickten sie sich in einen kritischen Verschuldungskreislauf, wodurch weitere Entwicklungsprozesse wiederum erschwert wurden.[93] Zwischen 1960 und 1990 verfolgten die Entwicklungsnationen zwei unterschiedliche Typen außenwirtschaftspolitischer Strategien. Während sich die Ost- und Südostasiatischen Staaten auf die Diversifizierung ihrer Exporte konzentrierten, stützten sich die Länder Lateinamerikas, Sub-Sahara Afrikas und Indien auf die Praktik der Importsubstitution. Mit der Importsubstitution sollen importierte Produkte nach und nach durch einheimische ersetzt werden. Diese werden dann temporär protektioniert, um den Aufbau eines eigenen wettbewerbsfähigen Industriesektors zu fördern und sich somit von weiteren Importen zu emanzipieren. Die Praktik der Importsubstitution führte jedoch bei einigen Ländern langfristig zur Abschottung vom Weltmarkt, da sie primär den Gedanken der autonomen Selbstversorgung verfolgt. Damit wurden diese Länder folglich von den Mechanismen der internationalen Arbeitsteilung und der damit einhergehenden Nutzung von komparativen Kostenvorteilen ausgeschlossen.[94]
[...]
[1] Zit.: Alexander, Faulenbach, Hesse, Klaeren, 2003, S.1
[2] Vgl.: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V., Berlin 2006, S. 1
[3] Im Rahmen dieser Arbeit soll der Begriff „Entwicklungsländer“ bzw. „Entwicklungsnationen“ als Überbegriff für
die im Kontext des Nord-Süd Konflikts eingebundenen „Länder des Südens“ angewandt werden, da sich diese Konfliktparteien auch in den WTO-Agrarverhandlungen nahezu entlang der Nord-Süd Konfliktlinie gegenüberstehen. Begriffliche Ausdifferenzierungen der „Entwicklungsländer“ in unterschiedliche Länder-Klassifizierungen werden, je nach Erfordernis, explizit verdeutlicht.
[4] Vgl.: Thurow, 2004, S. 16
[5] Vgl.: Nuscheler, 2003, rev.: 2007-1-4
[6] Vgl.: Liebig, 2002, S. 1
[7] Vgl.: Manz, 2007, S. 29
[8] Koalitionen, die sich aufgrund ideeller oder identitärer Gemeinsamkeiten zusammenschließen
[9] Koalitionen, die sich aufgrund gemeinsamer Interessen zusammenschließen
[10] Vgl.: Manz, 2007, S. 31 ff.
[11] Vgl.: Krell 2004, S. 244
[12] Vgl.: Spindler 2003, S. 100
[13] Vgl.: Albrecht 1999, S. 47
[14] Vgl.: Han 2005, S. 7
[15] Vgl.: Albrecht 1999, S. 48
[16] Vgl.: Han 2005, S. 7
[17] Vgl.: Albrecht 1999, S. 69
[18] Vgl.: Piazolo 2006, S. 9
[19] Vgl.: Han 2005, S. 7
[20] Vgl.: Piazolo 2006, S. 9
[21] Zit.: Max Weber 2006, S. 62
[22] Zit.: Weber 2006, S. 62
[23] Vgl.: Knothe 2007, S. 11,
[24] Vgl.: Rode 2004, S. 4
[25] Zit.: Albrecht 1999, S. 52
[26] Vgl.: Piazolo 2006, S. 11
[27] Vgl.: Albrecht 1999, S. 52
[28] Vgl.: Piazolo 2006, S. 9
[29] Vgl.: Rode 2004, S. 5
[30] Vgl.: Piazolo 2006, S.10
[31] Zit.: Keohane, Nye 2003, S. 10
[32] Vgl.: Albrecht 1999, S. 57
[33] Vgl.: Voss-Wittig, S. 2
[34] Vgl.: Rode 2006. S. 4
[35] Vgl.: Voss-Wittig, S. 2
[36] Zit.: Knothe 2005, S. 15
[37] Vgl.: ebd. S. 15
[38] Vgl.: Notle 2006, S. 10 ff.
[39] Zit.: Keohane, Nye 2003, S.10
[40] Vgl.: Krell 2004, S. 244
[41] Vgl.: Spindler 2003, S. 97
[42] Vgl.: Mildner, rev.: 2007-6-4
[43] Vgl.: Spindler 2003, S.100
[44] Vgl.: Mildner, rev.: 2007-6-4
[45] Vgl.: Spindler 2003, S.104
[46] Vgl.: Mildner, rev.: 2007-6-4
[47] Vgl.: Spindler 2003, S. 97
[48] Vgl.: Krell 2004, S. 244
[49] Vgl.: Spindler 2003, S. 100
[50] Zit.: Krell 2004, S. 243
[51] Vgl.: Spindler 2003, S. 100 ff.
[52] Zit.: Keohane, Nye 2003, S. 10
[53] Zit.: Keohane, Nye 2003, S. 11
[54] Vgl.: Spindler 2003, S. 100
[55] Vgl.: Krell 2004, S. 244
[56] Zit.: Keohane, Nye 2003, S. 10
[57] Vgl.: Keohane, Nye 2003, S. 10
[58] Vgl.: Spindler 2003, S. 105
[59] Vgl.: Keohane, Nye 2003, S. 17
[60] Vgl.: Spindler 2003, S. 104 ff.
[61] Vgl.: Krell 2004, S. 245
[62] Vgl.: Spindler 2003, S. 107
[63] Zit.: Pfetsch 2006, S. 20
[64] Vgl.: ebd., S. 38
[65] Vgl.: ebd., S. 11
[66] Vgl.: Pfetsch 2000, S. 134
[67] Vgl.: Pfetsch 2006, S. 120
[68] ebd. S. 122
[69] ebd. S. 127
[70] ebd. S. 127
[71] ebd. S. 128
[72] ebd. S. 129
[73] ebd. S. 131
[74] Vgl.: Koopmann, Franzmeyer 2003, S. 13
[75] Vgl.: Krugmann, Obstfeld 2006 S. 47
[76] Vgl.: Mildner, rev.: 2007-4-2
[77] Vgl.: Koopmann, Franzmeyer 2003, S.15
[78] Vgl.: DGAP, rev.: 2007-4-2, S.1
[79] Vgl.: Mildner, rev.: 2007-4-2
[80] Vgl.: Müller 2002, S. 8
[81] Vgl.: Mildner, rev.: 2007-4-2
[82] Vgl.: Koopmann, Franzmeyer 2003, S. 16
[83] Vgl.: Hieber 2006, S. 115
[84] Vgl.: Rode 2002, S. 25
[85] Vgl.: Koopmann, Franzmeyer, S. 16
[86] Vgl.: Bormann, Jungnickel, Koopmann, 2002, S. 5, rev.: 2007-4-10
[87] Vgl.: Koopmann, Franzmeyer, S. 16
[88] Vgl.: DGAP, S. 17, rev.: 2007-4-2
[89] Vgl.: Nuscheler 2004, S. 223
[90] Vgl.: Franzmeyer 2001, S.154
[91] Vgl.: Koch 2006, 200
[92] Diese volkswirtschaftliche Maßzahl bezeichnet das Austauschverhältnis der Export- und Importgüter zwischen zwei ökonomischen Einheiten.[92]
[93] Vgl.: Koch 2006, 200
[94] Vgl.: Wagner, Kaiser 1995, S. 72 ff.
- Arbeit zitieren
- Huong Tran (Autor:in), 2007, Die Koalition der G20+ Staaten , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91210
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