In welchen Lebenswelten, unter welchen Bedingungen müssen Kinder heute die ‚Aufgaben des Großwerdens meistern’? Inwiefern können Tiere zu einem gesun-den Verlauf der Entwicklung von Kindern beitragen? Diesen Fragen wird in der vorliegenden Arbeit nachgegangen.
Die Umfeldbedingungen und Anforderungen heutiger Kindheit unterscheiden sich massiv von denen vorangegangener Generationen. In Fachkreisen sind für die bedeutsamsten Modernisierungstendenzen von Kindheit und die damit verbundenen veränderten Entwicklungsbedingungen in den letzten Jahren verschiedene Begriffe geprägt worden, die zunächst einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden. In einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Lebensphase Kindheit werden eingangs aus einer interdisziplinären und ressourcenorientierten Perspektive neuere Erkenntnisse der modernen Kindheitsforschung dargestellt.
Es stellt sich die Frage, welchen protektiven Faktoren für eine gesunde Entwicklung von Kindern unter modernen Lebensbedingungen eine besondere Bedeutung zu-kommt: Welches ‚Rüstzeug’ benötigen Kinder in ihrer modernen Lebenswelt? Wie können Heimtiere dazu beitragen, kindliche Ressourcen zu stärken?
Im zweiten Teil der Arbeit wird zunächst eine grundlegende Darstellung der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Mensch-Tier-Beziehung vorgenommen. Dabei ist es unmöglich, alle Aspekte umfassend zu beschreiben, denn die Beziehung zwischen Menschen und Tieren gestaltet sich ähnlich facettenreich wie zwischenmenschliche Interaktionen: „gesellig und freundschaftlich wie utilitaristisch und nutzungsorientiert, zugewandt und liebevoll wie feindselig und gewaltförmig, kooperativ und hilfreich wie konkurrent, belastend und schädigend“ .
Nachfolgend werden die wichtigsten Stationen der tiergestützten Pädagogik und Therapie nachgezeichnet.
Inhalt
1. Einleitung
2. Lebensphase Kindheit
2.1 Entwicklung und Sozialisation
2.2 Moderne Kindheitsforschung
2.3 Lebenswelten der modernen Kindheit
2.3.1 Verhäuslichung von Kindheit
2.3.2 Verinselung von Kindheit
2.3.3 Institutionalisierung von Kindheit
2.3.4 Medienkindheit
2.3.5 Kindheit in veränderten Familien
2.4 Fazit
3. Grundlagen der Mensch-Tier-Beziehung
3.1 Historischer Abriss
3.2 Entwicklung der tiergestützten Pädagogik und Therapie
4. Warum Kinder Tiere brauchen: Wirkfaktoren der Kind-Tier-Beziehung
4.1 Die Kind-Tier-Beziehung
4.1.1 Tierhaltung in der Familie
4.1.2 Du-Evidenz und Anthropomorphismus
4.1.3 Kommunikation zwischen Kind und Tier
4.2 Bio-psycho-soziales Wirkungsgefüge
4.2.1 Emotionale Ebene
4.2.2 Soziale Ebene
4.2.3 Physische Ebene
4.3 Mögliche Probleme der Kind-Tier-Beziehung
4.3.1 Tierquälerei
4.3.2 Unfallgefahr
4.3.3 Gesundheitliche Risiken
4.4 Aspekte der Anschaffung eines Heimtieres
5. Theoretische Erklärungsansätze
5.1 Analoge vs. digitale Kommunikation
5.2 Die Biophilie-Hypothese
5.3 Die Schichtenlehre der Persönlichkeit
5.4 Die Bindungstheorie
5.5 Das Konzept der Spiegelneuronen
5.6 Kritik
6. Schlussbetrachtung: Der Einfluss von Heimtieren auf die Entwicklung im Kindesalter
Literatur
Quellen aus dem Internet
1. Einleitung
„Ein Tier kann dem Kind dabei helfen,
die Aufgaben des Großwerdens zu meistern.“[1]
(Boris Levinson)
In welchen Lebenswelten, unter welchen Bedingungen müssen Kinder heute die ‚Aufgaben des Großwerdens meistern’? Inwiefern können Tiere zu einem gesunden Verlauf der Entwicklung von Kindern beitragen? Diesen Fragen wird in der vorliegenden Arbeit nachgegangen.
Die Umfeldbedingungen und Anforderungen heutiger Kindheit unterscheiden sich massiv von denen vorangegangener Generationen. In Fachkreisen sind für die bedeutsamsten Modernisierungstendenzen von Kindheit und die damit verbundenen veränderten Entwicklungsbedingungen in den letzten Jahren verschiedene Begriffe geprägt worden, die zunächst einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden. In einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Lebensphase Kindheit werden eingangs aus einer interdisziplinären und ressourcenorientierten Perspektive neuere Erkenntnisse der modernen Kindheitsforschung dargestellt. Es stellt sich die Frage, welchen protektiven Faktoren für eine gesunde Entwicklung von Kindern unter modernen Lebensbedingungen eine besondere Bedeutung zukommt: Welches ‚Rüstzeug’ benötigen Kinder in ihrer modernen Lebenswelt? Wie können Heimtiere dazu beitragen, kindliche Ressourcen zu stärken?
Im zweiten Teil der Arbeit wird zunächst eine grundlegende Darstellung der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Mensch-Tier-Beziehung vorgenommen. Dabei ist es unmöglich, alle Aspekte umfassend zu beschreiben, denn die Beziehung zwischen Menschen und Tieren gestaltet sich ähnlich facettenreich wie zwischenmenschliche Interaktionen: „gesellig und freundschaftlich wie utilitaristisch und nutzungsorientiert, zugewandt und liebevoll wie feindselig und gewaltförmig, kooperativ und hilfreich wie konkurrent, belastend und schädigend“[2]. Nachfolgend werden die wichtigsten Stationen der tiergestützten Pädagogik und Therapie nachgezeichnet.
Bei der Darstellung der Kind-Tier-Beziehung stehen insbesondere das Konzept der Du-Evidenz und die anthropomorphe Sichtweise von Kindern auf Tiere sowie die Kommunikation zwischen Kind und Tier als Basis einer engen Bindung im Zentrum der Betrachtung. Welche Wirkungen in einer solchen Beziehung zur Entfaltung kommen und auf welche Bereiche der kindlichen Entwicklung Heimtiere einen Einfluss haben können, wird in der Darstellung des bio-psycho-sozialen Wirkungsgefüges veranschaulicht.
Auch wird auf mögliche Probleme der Kind-Tier-Beziehung hingewiesen sowie Hinweise auf Rahmenbedingungen der Anschaffung eines Heimtieres gegeben, unter denen die Entwicklung einer positiven Kind-Tier-Beziehung sowie die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der beschriebenen Effekte erhöht werden.
Abschließend werden verschiedene wissenschaftliche Modelle zu möglichen Erklärungen der nachgewiesenen Wirkungen von Tieren auf Menschen vorgestellt.
An verschiedenen Stellen der Arbeit wird eine Fokussierung auf das Heimtier Hund vorgenommen, da sich bei dieser Tierart die Vielfalt kindlicher Erfahrungen mit Heimtieren besonders anschaulich aufzeigen lässt. Auch darf nicht vergessen werden, dass der Hund sich als ältestes Haustier des Menschen wie keine andere Tierart an die menschliche Lebensweise angepasst hat: „Hunde sind daher ohne Menschen nicht definiert, Menschen ohne Hunde zumindest unvollständig“[3]. Durch die gemeinsame Evolutionsgeschichte von Mensch und Hund hat insbesondere diese Tierart eine besondere „Kooperationsbereitschaft mit Menschen“[4] entwickelt, weshalb insbesondere das Aufwachsen mit Hunden förderlich auf die kindliche Entwicklung wirken kann.
Zur Begriffsklärung: Die Bezeichnung ‚Heimtier’ trifft auf ein Tier zu, das unter menschlicher Obhut gehalten wird und nicht der wirtschaftlichen Nutzung dient. Hierbei handelt es sich vorwiegend um Hunde, Katzen, Kleintiere, Ziervögel, Zierfische und Terrarientiere. Der Begriff ‚Haustiere’ hingegen umfasst neben den Heimtieren auch die so genannten Nutztiere, wie beispielsweise Kühe, Hühner und Schafe.[5] In Deutschland werden in etwa einem Drittel aller Haushalte Tiere gehalten, im Jahr 2006 betrug die Gesamtanzahl der Heimtiere 23,2 Millionen Tiere (ohne Zierfische). Unter diesen Heimtieren waren 7,8 Millionen Katzen, 5,3 Millionen Hunde, 6,3 Millionen Kleintiere (Hamster, Mäuse, Meerschweinchen etc.) sowie 3,8 Millionen Ziervögel.[6]
2. Lebensphase Kindheit
Erst seit dem 18. Jahrhundert wird Kindheit als eigenständige Lebensphase betrachtet, vormals dominierte die Vorstellung von Kindern als ‚kleinen Erwachsenen’. Vorstellungen und Auffassungen, die Erwachsene von jungen Menschen haben – so genannte „Kindbilder“[7] – sind stets von gesellschaftlichen und historischen Einflüssen geprägt.
Das Bild des kleinen Erwachsenen implizierte die Vorstellung von etwas Defizitärem, junge Menschen wurden als unfertig und unmündig betrachtet. Dies spiegelte sich sowohl in der allgemeinen Wertschätzung als auch in der sozialen Rangordnung wider. Die ‚kleinen’ lebten mit den ‚großen’ Erwachsenen in denselben Lebensbereichen zusammen, ernährten und kleideten sich ähnlich.[8] Das Merkmal des ‚Unfertigen’ wurde auch im ökonomischen Sinne genutzt, indem man Kinder als preiswerte Arbeitskräfte in Fabriken und Bergwerken einsetzte. Das Aufwachsen unter derartigen Lebensbedingungen führte nicht selten dazu, dass Kinder nicht mehr in der Lage waren, ihre emotionalen, sozialen und kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln.[9]
Im kulturgeschichtlichen Verlauf wandelte sich das Kindbild des ‚kleinen Erwachsenen’ nach und nach zu unserem heutigen Begriff der Kindheit als Lebensphase, in deren Zentrum die Schutzbedürftigkeit des Kindes und die Förderabsicht der Erwachsenen stehen. Das Kind wird als gleichwertiger Bezugspartner betrachtet, ihm wird „von Anfang an Person-Sein“[10] zugestanden. Dies bedeutet nicht, dass das auf der jeweiligen Altersstufe existierende „Reifungsgefälle“[11] zwischen Kindern und Erwachsenen ignoriert wird. So bedeutet Gleichwertigkeit nicht Gleichberechtigung (etwa bei der Zuweisung von erzieherisch notwendigen Aufgaben) – vielmehr leitet sich die Gleichwertigkeit von Kind und Erwachsenem aus der Individualität und Würde eines jeden Menschen ab. In Deutschland wird das Kindesalter aus rechtlicher Sicht mit dem vollendeten 14. Lebensjahr vom Jugendalter abgelöst. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive verläuft die Phase der Kindheit von der Geburt bis zur Pubertät bzw. sexuellen Reife, die sich jedoch nicht auf ein bestimmtes Lebensjahr festlegen lässt.[12]
2.1 Entwicklung und Sozialisation
Die traditionellen entwicklungspsychologischen und sozialisationstheoretischen Modelle beschäftigen sich mit der Frage, „wie aus befruchteten Eizellen erwachsene Persönlichkeiten mit bestimmten Fähigkeiten, Einstellungen, Verhaltensweisen […] entstehen“[13]. Dabei wird Sozialisation definiert als „Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit formt“[14]. In den verschiedenen Sozialisationstheorien (verhaltenstheoretische Lernkonzepte, psychoanalytische Theorien, funktionalistische und systemtheoretische Ansätze, Gesellschaftstheorien, Rollen- und Interaktionstheorien u.a.[15]) werden gesellschaftliche Bedingungen „der Entwicklung des Menschen zu einem sozial handlungsfähigen Subjekt“[16] zum Forschungsgegenstand gemacht.
Der psychologische Entwicklungsbegriff hingegen umfasst „alle Bedingungen und inneren Vorgänge, die dem Erleben und Verhalten auf Grund kognitiver Prozesse eine wachsende Differenzierung und Komplexität verleihen“[17]. Mit den verschiedenen entwicklungspsychologischen Phasentheorien wurden umfassende Konzepte zum Verlauf menschlicher Entwicklung vorgelegt. Diese wird als lebenslanger, dynamischer Prozess angesehen, der menschliche Lebenslauf anhand verschiedener Merkmale (Gestalt, Bewegungsapparat, Sozialverhalten, moralisches Urteilsvermögen etc.) in verschiedene Stufen bzw. Phasen eingeteilt:[18]
In solchen Phasentheorien wird beschrieben, was in einem bestimmten Entwicklungsabschnitt […] an psychischen Kompetenzen, Einstellungen, Interessen u. a. akzentuiert auftritt bzw. zu erwarten ist und welche Anforderungen dementsprechend an die sich entwickelnde Person gestellt werden können bzw. sollten, um Entwicklung zu ermöglichen.[19]
Als bekannteste Stufentheorien seien an dieser Stelle beispielhaft Freuds Modell psychosexueller Entwicklung und Eriksons psychosoziales Entwicklungsmodell mit ihrer Benennung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben bzw. -krisen, Kohlbergs Theorie zu den Stufen der moralischen Entwicklung des Kindes sowie Kegans Ausarbeitungen zu den Entwicklungsstufen des Selbst genannt.[20] Die Zuordnung von Entwicklungsbesonderheiten zu bestimmten Altersstufen sollte jedoch nicht schematisch bzw. statisch betrachtet werden. Doch auch bei Berücksichtigung einer relativ großen Streubreite inter- und intraindividueller Entwicklungsunterschiede lassen sich Phasen bzw. Stufen in der Entwicklung festmachen, die eine allgemeine Orientierung über Kompetenzen, Leistungen und Probleme in der Persönlichkeitsentwicklung der verschiedenen Altersstufen bieten.[21] So geht es in der frühkindlichen Entwicklung neben der zuverlässigen Befriedigung grundlegender körperlicher Bedürfnisse vor allem darum, Bindung aufzubauen und dem Kind emotionale Sicherheit zu vermitteln.
2.2 Moderne Kindheitsforschung
In der neueren Kindheitsforschung hat in Deutschland eine Abkehr von einer auf die traditionellen entwicklungspsychologischen und sozialisationstheoretischen Konzepte beschränkten Perspektive stattgefunden. Kinder werden nicht als „Menschen in Entwicklung“[22] gesehen, da dies die Kindheit auf ein Übergangstadium zum Erwachsensein reduziert. Das Kind ist keine ‚unfertige’ Persönlichkeit, sondern wird als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft angesehen, das sich sein Lebensumfeld nach eigenen Bedürfnissen zu gestalten versucht:
Kinder werden nicht nur als Menschen in einer Übergangsphase im Lebenslauf wahrgenommen, deren Entwicklungsstand an den Kriterien der erwachsenen Persönlichkeit gemessen wird, sondern sie leben in einer in sich ruhenden Lebensphase von eigenem Gewicht und eigenen Ansprüchen.[23]
Moderne Kindheitsforschung beschäftigt sich mit Einflüssen des sozialen Geschehens auf langfristige Veränderungen der kindlichen Verhaltens- und Persönlichkeitsstruktur. Es ist von Interesse, welche Faktoren für die Kompetenzentwicklung und Verhaltensanpassungen in der Mensch-Umwelt-Interaktion förderlich sind und welche Bedingungen Entwicklungsstörungen und Fehlanpassungen erzeugen können. Erkenntnisse kindheits- und erziehungspsychologischer, pädagogischer, verhaltensgenetischer und bindungstheoretischer Ansätze spielen in eine interdisziplinäre Sichtweise mit hinein, in der das Kind als sozialer Akteur im Zentrum der Betrachtung steht.[24]
Dabei fokussieren neuere Untersuchungen mehr und mehr die systematische Erforschung von protektiven Faktoren bei schwierigen frühen Lebensbedingungen. Die Sichtweise traditioneller Risiko- und Defizitmodelle konnte durch die Benennung bestimmter Bedingungen, die eine Erhaltung von Kompetenzen unter aktuellen Belastungen oder eine Erholung von schwerwiegenden Einflüssen bewirken können, erheblich erweitert werden. Auch moderne Konzepte sozialpädagogischer Praxis sprechen der Stärkung von Ressourcen und der Förderung kindlicher Kompetenzen eine hohe Bedeutung zu.[25]
Die Entstehung von Fehlentwicklungen wird durch das Verhältnis von vulnerablen und protektiven Faktoren abgeleitet. Dabei wird unter ‚Vulnerabilität’
eine generelle, aber auch spezifische Eigenschaft oder Neigung verstanden, die zu einer dysfunktionalen Verarbeitung von Informationen und gestörter Anpassung prädisponieren und sowohl genetisch angelegt als auch umweltbedingt sein kann.[26]
Vulnerabilität ist veränderbar und kann in bestimmten Lebensphasen durch entsprechende Sozialisationsbedingungen verstärkt oder gemildert werden.
Durch protektive Faktoren können störende Einflüsse auf die Entwicklung minimiert werden, sie werden unterschieden in ‚Resilienzfaktoren’ und ‚Unterstützungsfaktoren’.[27] Der Begriff der Resilienz bezeichnet generell die Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen (Unglücken, traumatischen Erfahrungen, Risikobedingungen etc.) umzugehen. Resilienz kann als eine psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken angesehen werden und weist auf die Tatsache hin, dass
ein gewisser Prozentsatz der Kinder, die unter hochgradig riskanten Bedingungen aufwachsen, in ihrer weiteren Biografie entweder nur vorübergehende Anzeichen psychischer Probleme zeigen oder sogar ohne offenkundige Probleme zu gut integrierten Erwachsenen heranwachsen.[28]
Neuere Ergebnisse derResilienzforschung zeigen, dass es sich bei Resilienz nicht um ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal handelt. Vielmehr ist Resilienz lernbar, da sie als eine Kapazität betrachtet werden kann, die im Kontext der Kind-Umwelt-Interaktion erworben wird. Zudem ist Resilienz keine lebenslange Fähigkeit und kann unter verschiedenen Umständen variieren.[29]
Unterstützungsfaktoren beziehen sich unmittelbar auf die Sozialisationsbedingungen, insbesondere auf die Ressourcenlage aus sozialen Beziehungen. Entwicklungsfördernde Beziehungskontexte bilden die Basis der kindlichen Resilienz und machen protektive Faktoren (emotionale und kognitive Bewältigungsstrategien) wirksam. Sichere Bindungsbeziehungen garantieren dem Kind in Belastungs- und Risikosituationen zunächst Unterstützung, wenn die kindlichen Ressourcen erschöpft sind. Die positive Wahrnehmung der eigenen Kompetenzen (Selbstwirksamkeit) ermutigt Kinder mit bindungssicheren Beziehungen langfristig zur Aktivierung ihrer eigenen Ressourcen.[30]
In einer entwicklungsfördernden Beziehungsgestaltung zum Kind kommt der Bereitschaft und Fähigkeit des Erwachsenen, kindliche Äußerungen interpretativ und interaktiv aufzugreifen, eine hohe Bedeutung zu. Kann das Kind als Subjekt der Situation agieren, wird durch seine Einbeziehung in die Handlungen des Erwachsenen seine Selbstlernkompetenz „als wichtigstes Gut des Persönlichkeitsaufbaus“[31] gefördert. Durch die inhaltlich-emotionale Besetzung der Interaktion mit dem Kind wird ihm das Gefühl der Mitgestaltung und der Ermutigung von Selbsterkundung vermittelt.
Spannungen zwischen den Erwachsenen, unter Zeitdruck stehende Handlungen oder durch Depressivität und Niedergeschlagenheit unterlegte Interaktion bleiben der emotionalen und kognitiven Fähigkeitsentwicklung des Kindes ebenso wenig verborgen wie die Ausprägung von Bewältigungsstilen gegenüber neuen Herausforderungen.[32]
In den letzten Jahren ist eine signifikante Zunahme von Verhaltensstörungen zu verzeichnen. Sie äußern sich in Lern-, Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen, erhöhter Gewaltbereitschaft, emotionalen Regulationsstörungen sowie sprachlichen und kognitiven Defiziten.[33] Als risikohafte Entwicklungsbedingungen, die diese Fehlentwicklungen hervorrufen können, sind auf der einen Seite die Lebenswelten moderner Kindheit zu nennen, die verursacht durch gesellschafts- und sozialpolitische Prozesse in den letzten Jahrzehnten einem grundlegenden Wandel unterlegen sind. Diese veränderten Bedingungen moderner Kindheit werden im weiteren Verlauf unter den Stichworten Stadtkindheit, Verhäuslichung‚ Verinselung, Institutionalisierung und Mediatisierung von Kindheit betrachtet. Da insbesondere familiale Beziehungskontexte den Bezugsrahmen für die kindliche Vulnerabilität und Resilienz bilden, werden unter dem Aspekt ‚Kindheit in veränderten Familien’ Entwicklungs- und Sozialisationsbedingungen von Kindern in besonderen Familienkonstellationen betrachtet.
2.3 Lebenswelten der modernen Kindheit
Die erste internationale Vergleichsstudie des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) aus dem Jahr 2007 zur Situation der Kinder in Industrieländern zeigt, dass Deutschland nur Mittelmaß bei der Schaffung von verlässlichen Lebensumwelten für Kinder ist. Vergleichskriterien der Studie sind die materielle Situation, Gesundheit und Bildung, die Beziehungen zu den Eltern und Freunden, die Risiken im Alltag sowie das subjektive Wohlbefinden der Kinder. Deutschland erreicht in allen Dimensionen nur mittelmäßige Werte und belegt insgesamt von 21 untersuchten Ländern Rang elf.[34] Insgesamt zeigt sich Deutschland als tendenziell kinderunfreundliches Land: Kinder wachsen in einer gesellschaftlichen Umwelt auf, die es ihnen zunehmend erschwert, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen.
In der Fachliteratur wird moderne Kindheit charakterisiert als ‚verhäuslicht’, ‚verinselt’, ‚institutionalisiert’ und ‚mediatisiert’.[35] Nissen kommt zu dem Schluss: „Moderne Kindheit ist eine verarmte Kindheit, ist eine Konstellation von Gefährdungen“[36]. Diese gesellschaftlich bedingten Risikofaktoren und ihre Bedeutung für die Entwicklung im Kindesalter werden in den folgenden Ausführungen dargestellt. Dabei handelt es sich um die Beschreibung genereller Modernisierungstendenzen kindlicher Lebenswelten, die keineswegs als Grundlage für verallgemeinerte Charakterisierungen der Kinder heute dienen soll. Es handelt sich um die Beschreibung von tendenziellen Alltagsmustern moderner Kindheit, die jedoch in einer tiefer gehenden theoretischen Auseinandersetzung beispielsweise hinsichtlich Altersgruppen und sozialen Milieuzugehörigkeiten differenziert werden müssten. Sie bezieht sich vorwiegend auf Kinder, die in der Stadt leben – in Deutschland sind dies etwa zwei Drittel der Kinder.[37]
2.3.1 Verhäuslichung von Kindheit
In den 1950er Jahren setzt im Zuge der Funktionalisierung des öffentlichen Raums für Verkehr, Dienstleistungen und Konsum ein „Verhäuslichungsprozess“[38] von Kindheit ein. Der Wandel der Kindheit zeigt sich als ein Verlust der Straßenkindheit: Die räumliche Umwelt der Nachkriegskindheit ist eine „Trümmerlandschaft“[39]. Spielplätze sind nicht mehr vorhanden, auch gibt es kaum Kindergärten und nur sehr wenige Kinderzimmer. Wohnräume werden notdürftig instand gesetzt und sind oftmals überfüllt, weshalb Kinder vorwiegend draußen spielen. Trotz der schwierigen Lebensbedingungen in der Nachkriegszeit – viele Familien waren von Hunger, Kälte, dem Verlust von Angehörigen oder der Zerstörung ihres Wohnraums betroffen – dominieren in vielen Erinnerungen der ‚Nachkriegskinder’ positive Erinnerungen an die Straßenkindheit:
Es war ein herrliches Gebiet, wo man sich verstecken konnte, wo man Indianer spielen konnte, wo man sich der Beobachtung der Eltern, der Erwachsenen entzog, wo man sich aus diesen Trümmern wieder sein eigenes Reich aufbauen konnte.[40]
Gerade die Orte, die von „Zerstörung, Mangel und Improvisation geprägt waren“[41], erscheinen als reizvoll für Kinder. Auf den Trümmergrundstücken und verkehrsfreien Straßen können sie den öffentlichen Raum frei von elterlicher Kontrolle nutzen und die Spielumgebung nach ihren Wünschen konstruieren.[42] Die Straße als Begegnungsraum, der – trotz aller Gefahren auf den Trümmergrundstücken – Freiraum für spontanes und unbeaufsichtigtes Spielen bietet, kann als charakteristisch für die Kindheit in der Nachkriegszeit angesehen werden.
Einhergehend mit der Instandsetzung der Kriegsschäden werden „kontrollfreie Nischen“[43] im öffentlichen Raum immer seltener. In der ersten Phase des Wiederaufbaus beachtet man die Bedürfnisse der Kinder kaum. Es entstehen neue Siedlungsformen, die bis heute bestehen: das Wohnen in Einfamilienhaussiedlungen am Rande von Großstädten sowie das Wohnen in Hochhäusern. Sozial schwächere Familien siedeln immer häufiger aufgrund zunehmender Knappheit und Teuerung innerstädtischer Grundstücke in Wohnsiedlungen am Stadtrand (so genannte „Trabantenstädte“[44]) über. Die dort wohnenden Kinder sind besonders an die Wohnung gebunden: „weite Wege zum Spielen nach draußen; zu hoch angebrachte Fahrstuhlknöpfe […] oder die Unmöglichkeit, unter den 50 Haustürklingeln ihre eigene zu finden“[45] erschweren den Weg zu familienexternen Sozialisationsmilieus und schränken die Kontaktmöglichkeiten zu Gleichaltrigen erheblich ein. Viele dieser Wohngebiete sind ausschließlich auf ihre ‚Wohnfunktion’ beschränkt und daher für Kinder sehr anregungsarm gestaltet: „Auf dem Reißbrett entstanden, erzeugen diese Siedlungen ein Gefühl der Isolation, Bedrückung und Einschränkung“[46]. Vor allem in Großstädten verlieren Kinder durch die zunehmende Versiegelung von Flächen in ihrem Wohnumfeld schnell den Bezug zur Natur – denn für ein selbstständiges Erkunden und Erleben eines Naturraumes ist im Alltag kein Platz:
Kindheit heute ist Stadtkindheit, eine Kauf- und Verbraucherkindheit, eine Spielplatzkindheit, eine Verkehrsteilnehmerkindheit. Ihr fehlen elementare Erfahrungen: ein offenes Feuer machen, ein Loch in die Erde graben, auf einem Ast schaukeln, Wasser stauen, ein großes Tier beobachten.[47]
Für die ‚Stadtkinder’ ist das Erleben des gemeinsamen Eingebundenseins von Menschen, Tieren und Pflanzen in die Natur nur bedingt möglich. Doch gerade für Kinder ist es ein elementares Bedürfnis, Natur zu erleben, da sie sich in aktiver Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt entwickeln. Zur Bedeutung von Naturerfahrungen für Kinder aus psychologischer Sicht stellt Mitscherlich fest:
Der junge Mensch ist noch arm an höherer geistiger Leistungsfähigkeit – er ist weitgehend ein triebbestimmtes Spielwesen. Er braucht deshalb seinesgleichen, nämlich Tiere, überhaupt Elementares: Wasser, Dreck, Gebüsche, Spiel-Raum. Man kann ihn auch ohne das alles aufwachsen lassen, mit Teppichen, Stofftieren oder auf asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es – doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nie mehr erlernt, zum Beispiel ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort und Initiative.[48]
Auch ist es besonders wichtig, dass Naturerfahrungen in der eigenen, alltäglichen Umwelt gemacht werden – und nicht etwa in künstlich angelegten Parks oder Tiergärten.[49] In einer Untersuchung zum Wert der natürlichen Umgebung für Kinder aus dem Jahr 1979 kommt Hart unter anderem zu dem Ergebnis, dass Kinder auf Spielplätzen relativ wenig spielen und am meisten die Flächen schätzen, die „von den Planern gewissermaßen vergessen wurden“[50]. Doch das Spiel und andere Aktivitäten von Kindern werden aus dem öffentlichen Raum gedrängt und in private Räume verlegt, als Straßen für den Schnellverkehr begradigt, Freiflächen zu Autoparkplätzen, Fußgängerwege verschmälert werden sowie die Natur auf gepflegte Grünanlagen reduziert wird.[51]
Vor allem der aufkommende Autoverkehr und die dadurch erhöhte Gefahr – die 1953 eingeführten Statistiken zu Verkehrsunfällen belegen deutlich steigende Unfallzahlen der Kinder im zunehmenden Straßenverkehr – zeigt sich dafür verantwortlich, dass der öffentliche Raum in Städten nicht mehr ohne weiteres als Sozialisationsraum zur Verfügung steht.[52] Durch den Verlust des öffentlichen Straßenraums als Spiel- und Bewegungsfläche wandelt sich die Straßenkindheit zur verhäuslichten Kindheit.[53] Insgesamt nehmen – durch die beschriebene Veränderung der Spielmöglichkeiten im öffentlichen Raum – die Aktivitäten von Kindern in geschlossenen Räumen zu.[54] Der Aufenthalt in der Wohnung „verführt zur Tätigkeit mit vorfabriziertem Spielzeug“[55], zudem entwickelt sich die Beschäftigung mit elektronischen Medien durch die Verhäuslichung von Kindheit zu einer wesentlichen Freizeitbeschäftigung.[56]
2.3.2 Verinselung von Kindheit
Durch den Trend zur „Urbanisierung und Spezialisierung des Wohnens“[57] setzt eine fortschreitende Tendenz zur ‚Verinselung von Kindheit’[58] ein. Diese spiegelt sich darin wider, dass Kinder ihre Umwelt „immer mehr als weit verstreute und durch große Entfernungen voneinander getrennte, unverbundene Teilräume“[59] erleben. Es kommt zu einer „Funktionsentmischung“[60] und Spezialisierung städtischer Räume und den verschiedenen Lebensbereichen der Arbeit, des Wohnens, des Einkaufens, der Schule und der Freizeit.
Kindliche Spiel- und Begegnungsorte sind oftmals für Kinder nicht mehr selbstständig zu erreichen, sie sind zur Überwindung von Wegen auf privat organisierte Bring- und Holdienste angewiesen.[61] Beispielsweise bereitet es einem Kind erhebliche Schwierigkeiten, gefahrlos zu Fuß von einem öffentlichen Spielbereich in einen anderen zu wechseln oder eigenständig Freunde zu besuchen.[62] Ausgehend von der ‚Wohninsel’ werden Erlebnisinseln anderer Lebensbereiche angesteuert (‚Kindergarteninsel’, ‚Schulinsel’, ‚Einkaufsinsel’ etc.). Der Raum zwischen den Inseln wird meist mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln überwunden und „verdünnt sich zum erlebnisarmen Zwischenraum“[63]. Das Aufsuchen der verschiedenen Inseln erfordert Planung, Spontaneität wird in einem verinselten Lebensraum erschwert.[64]
Die Verinselung von Kindheit kann ambivalent betrachtet werden: Einerseits erschließt sich den Kindern eine Vielzahl von Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Durch verschiedene Aktivitäten, die nicht an den Nahbereich der Wohnung gebunden sind (in Sportvereinen, Musikschulen etc.) können sicherlich wichtige Kompetenzen gefördert und Interessen ausgebildet werden. Andererseits ist für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes das aktive Aneignen der alltäglichen Umgebung („Streifraum“[65]) von fundamentaler Bedeutung. Der Wandel kindlicher Lebenswelten vom einheitlichen Lebensraum hin zu Erlebnisinseln hat den Verlust des Selbsterfahrens, Erkundens und selbstständigen Erschließens von Streifräumen zur Folge. „Sich in der Wirklichkeit bewegen und die Wirklichkeit bewegen“[66] – dies scheint in der verinselten Kindheit kaum mehr möglich. Zeiher sieht in der Verinselung von Kindheit die Gefahr einer „Entsinnlichung des Lebenszusammenhangs“[67], da die Aneignung der Rauminseln nicht in einer räumlichen Ordnung (durch allmähliches Erweitern des Nahraums), sondern unabhängig von ihrer realen Lage im Gesamtraum geschieht.[68]
Durch die „Verengung des fußläufigen Sozialisationsraums für Kinder“[69] und der damit verbundenen räumlichen Verdrängung der Kinder aus den Lebensräumen der Erwachsenen sowie dem wachsenden Wissen um die Bedeutung familienexterner Sozialisationsmilieus bilden sich in den 1970er Jahren nach und nach öffentliche Bildungseinrichtungen, die durch Spezialisierungen sowie Alters- und Leistungsdifferenzierungen eine Reihe weiterer „gesellschaftlich organisierter Spezialräume für Kinder“[70] schaffen. Für einzelne Tätigkeiten im Alltag des Kindes entstehen verschiedene Bildungs- und Spielorte, die oftmals weit voneinander entfernt liegen, wodurch das Kind an jedem der verschiedenen Orte andere Kinder trifft.[71] Zeiher weist auf die Beliebigkeit der auf diese Weise gepflegten sozialen Beziehungen hin; sie seien „leicht lösbar und ersetzbar, etwa, wenn Unlust oder Konflikte auftreten, sie bieten aber nicht die Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit, die ein ortsgebundenes Kollektiv hat“[72].
Mit dem Ausbau der Kindertagesstätten schafft man neben den Kinderspielplätzen als „sichere Spezialräume im Freien“[73] ein neues, institutionalisiertes Sozialisationsmilieu. Die Abtrennung kindlicher Lebenswelten vollzieht sich seit Beginn der 1950er Jahre bis heute sowohl hinsichtlich der veränderten räumlichen Strukturen des Kinderalltags als auch der Trennung der Kinder nach Alter mit den altersspezifischen Zugängen zu bestimmten institutionalisierten Betreuungseinrichtungen.
2.3.3 Institutionalisierung von Kindheit
Die Lebensbedingungen, in denen ein Großteil der Kinder heute aufwächst, sind längst keine natürlichen mehr. Ebenso wie in ihrem räumlichen Lebensumfeld kaum noch Orte bleiben, die ohne Funktionalität sind, werden Kinder selbst immer häufiger und früher in Rollen und Funktionen gedrängt.[74] Moderne Kindheit spielt sich in einem pädagogisierten Raum von Krippen, Kindergärten, Schulen oder Vereinen ab.
Das kindliche Lebensumfeld ist inszeniert und durch Institutionen geprägt, in denen in der Regel Aktivitätsräume und -angebote von Erwachsenen vordefiniert werden. Rohnke weist darauf hin, dass Kinder durch die Institutionalisierung ihrer Lebenswelt „im Wesentlichen reagieren, d.h. schon frühzeitig vielfältige und anspruchsvolle Anpassungsleistungen erbringen unter den häufig kritischen, d.h. vor allem kontrollierenden und bewertenden Blicken ihrer Beobachter“[75]. Doch nicht nur Bildungsinstitutionen wie Kindergarten oder Schule bestimmen den Alltag von Kindern – im Zuge des Verhäuslichungsprozesses werden kindliche Freizeitaktivitäten nicht nur aus dem öffentlichen Raum in Privaträume, sondern auch in halböffentliche Räume verlagert. Blinkert vergleicht die heutige inszenierte Kindheit mit der Straßenkindheit der Nachkriegs-generation:
Es gab keine Spielplätze, oder nur sehr wenige; es gab keine Superkinderparties von McDonald; Kinderkommissionen und Kinderbeauftragte waren unbekannt; es gab keinen Abenteuerspielplatz und natürlich konnte sich niemand vorstellen, seine Kinder in eine Spieltherapie oder zu einem Erlebnispädagogen zu bringen.
Alles das gab es nicht, aber es gab etwas anderes, sehr wertvolles: nämlich Freiräume, wo wir ohne Aufsicht und Betreuung mit anderen Kindern spielen konnten - und mußten. Wir brauchten keine Abenteuerspielplätze, weil wir in unserem unmittelbaren Wohnumfeld genügend Abenteuer erleben konnten - und die Vorstellung, daß ein Kind zum Spielen betreut oder gar animiert werden müßte, wäre einigermaßen absurd gewesen.[76]
Die Inszenierung der Kindheit wird durch die Zunahme spezieller kultureller Freizeitangebote für Kinder verdeutlicht Diese sind charakterisiert durch feste Termine, einen festgelegten zeitlichen Umfang, spezifische Normen sowie die Betreuung und Kontrolle durch Erwachsene.[77]
Das Verhältnis zwischen der Institutionalisierung von Kindheit auf der einen Seite und der durch die Verhäuslichung entstandene kindliche Isolation auf der anderen Seite weist eine Ambivalenz auf: „Die Formen für die Einbindung in soziales Leben unter Kindern stehen im Spannungsfeld zwischen Kollektivierung in Kinderinstitutionen und Vereinzelung zu Hause“[78].
2.3.4 Medienkindheit
„Ich kann noch nicht lesen, aber das Fernsehen anschalten.
Dann kann ich sehen, was ich will.“ (Svenja, 6)[79]
Durch den technologischen Fortschritt im Medienbereich seit den 1960er Jahren sind die elektronischen Medien zu einer wesentlichen Freizeitbeschäftigung in der verhäuslichten Kindheit geworden. Das Fernsehen prägt in vielen Familien die Zeitstruktur des Alltags, es ist in allen sozialen Milieus die mit Abstand häufigste familiale Freizeitbeschäftigung.[80] Mit zunehmender Etablierung von Fernseher und Computer als fester Bestandteil des Kinderalltags wird von einer ‚Mediatisierung von Kindheit’ gesprochen.[81]
Kinder sind heute in beträchtlichem Umfang unterschiedlichsten Medieneinflüssen ausgesetzt. Durch die Konfrontation mit dem kommerziell gesteuerten Angebot sowie einer Flut von Bildern und Informationen müssen sie schon frühzeitig lernen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden sowie intensivste Gefühlszustände zu verarbeiten.[82] Die Folgen sind einseitige Sinneserfahrungen durch optische und akustische Reizüberflutungen sowie ein Verlust an Eigenaktivität und Naturerfahrungen. Durch diese Einschränkungen gehen Kindern fundamentale und ursprüngliche Sinneserfahrungen verloren: „Werden Naturerfahrungen durch Medienwelten ersetzt, verlieren die Betroffenen den Bezug zur Natur und damit zur Realität“[83]. Durch die intensive Nutzung von Fernseher, Computer, elektronischen Spielkonsolen, Gameboys und anderen Computerspielen, „die mittlerweile mit gestochen scharfen Bildern die Nutzer in künstliche Welten entführen“[84], wird die Realität oft nur noch sekundär erfahren und durch das Fiktive ersetzt.[85]
In fast fünfzig Prozent der deutschen Kinderzimmer findet sich heute ein Fernseher, etwa vier Fünftel der Kinder sehen jeden oder fast jeden Tag fern.[86] Manche Jugendliche beschäftigen sich pro Woche dreißig bis vierzig Stunden mit Computerspielen. Bei dieser Form der Mediennutzung kommt hinzu, dass es bei achtzig Prozent der Spiele um Gewalt geht. Im Unterschied zum Fernsehen sehen die Kinder diese nicht nur, sondern führen sie per Knopfdruck selber aus, das destruktive Verhalten wird belohnt und bringt Vorteile.[87] Die Folge des Rückzugs in virtuelle Fantasiewelten ist Vereinsamung, viele Kinder „lernen per Knopfdruck scheinbar viel zu bewegen, bleiben aber in der realen Welt wirkungslos“[88].
Durch das stundenlange Verharren vor dem Bildschirm und dem damit verbundenen Bewegungsmangel wird auch die körperliche Entwicklung vieler Kinder gehemmt: „Mit einem Tastendruck kann man sich die Welt – egal ob Phantasie oder Realität – ins Zimmer holen, ohne sich körperlich oder geistig anzustrengen“[89]. Kinder verbringen durchschnittlich zehn Mal mehr Zeit vor dem Fernseher als an der frischen Luft. Nicht nur Übergewicht, auch Krankheiten, die bislang erst im Alter auftraten, wie Altersdiabetes, Bluthochdruck und Kreislaufprobleme, sind die Konsequenzen einer bewegungsarmen Kindheit.[90]
Elektronische Medien sind „überwiegend auf Einwegkommunikation ausgerichtet“[91] und fördern so Kommunikationsarmut. Durch die Mediatisierung der kindlichen Erfahrungswelt werden Erfahrungen aus zweiter Hand über den Bildschirm und Lautsprecher gemacht: „Die TV-Welt ist ein flacher Bildschirm, dessen Inhalt arm ist verglichen mit der Wirklichkeit: sie schmeckt nicht, riecht nicht, lässt sich nicht anfassen und ist zweidimensional“[92]. Die Wahrnehmungsentwicklung wird insbesondere in den ersten Lebensjahren negativ beeinflusst , denn Kleinkinder können wenig aus Vorerfahrungen ergänzen. Gerade die frühen Erfahrungen mit allen Sinnen sind von besonderer Bedeutung – der Bildschirm bringt jedoch eine Verarmung der Erfahrung:[93]
Die Mediatisierung der kindlichen Lebenswelt hat zur Folge, dass sich zwischen Musik und Hörer die Kassette schiebt, zwischen Puppenspiel und Zuschauer das Fernsehgerät und zwischen Landschaft und Raumerleben die laufenden Bilder. Das führt gewiss nicht zu einem Verlust an Information, die eher sintflutartig anschwillt, wohl aber zu einer Verdünnung des Bereichs unmittelbarer Erfahrungen.[94]
Trotz der offensichtlichen negativen Auswirkungen eines übermäßigen Medienkonsums auf die kindliche Entwicklung dürfen auch positive Aspekte elektronischer Medien nicht übersehen werden: „Noch nie war es z.B. so vielen Kindern möglich, über die Grenzen ihrer unmittelbaren Lebenswelten hinaus Kontakte mit anderen Heranwachsenden zu unterhalten“[95]. Entscheidend ist, dass die zeitliche Dauer der Nutzung elektronischer Medien begrenzt ist, die vermittelten Inhalte kindgerecht sind und von den Eltern begleitet werden.
[...]
[1] zit. nach Greiffenhagen 1991, 65
[2] Nestmann 2005, 2
[3] Kotrschal 2006, 37
[4] Kotrschal 2006, 36
[5] Industrieverband Heimtierbedarf e.V. 2007
[6] vgl. Industrieverband Heimtierbedarf e.V. 2006
[7] Kluge 2006, 23
[8] vgl. Hurrelmann & Bründel 2003, 58
[9] vgl. Kluge 2006, 23
[10] Kluge 2006, 26
[11] ebd.
[12] vgl. Kluge 2006, 22f.
[13] Seiler 2002, 99
[14] Hurrelmann & Bründel 2003, 12
[15] vgl. Hurrelmann & Ulich 2002
[16] Geulen 2002, 21
[17] Stangl 2003
[18] vgl. Schaub & Zenke 2004, 183
[19] Joswig 2003
[20] vgl. Zimbardo 1995, Gage & Berliner 1996 u.a.
[21] vgl. Joswig 2003
[22] Honig et al. 1996, 10
[23] Hurrelmann & Bründel 2003, 44
[24] vgl. Ahnert 2006, 75
[25] vgl. Opp & Fingerle 2007, 7
[26] Ahnert 2006, 76
[27] vgl. Ahnert 2006, 76f.
[28] Fingerle 2006, 139f.
[29] vgl. Wustmann 2005
[30] vgl. Ahnert 2006, 76ff.
[31] BMFSFJ 2005, 224
[32] ebd.
[33] vgl. Ahnert 2006, 78
[34] vgl. UNICEF 2007, 7ff.
[35] vgl. z.B. DJI 1993, Preuss-Lausitz et al. 1983, Thiemann 1988, Rolff & Zimmermann 2001
[36] Nissen 1993, 241
[37] vgl. Gebhard 1994, 79
[38] BMFSFJ 2005, 162
[39] Rolff & Zimmermann 2001, 79
[40] Schütze & Geulen 1983, 33f.
[41] Zeiher & Zinnecker 2002, 69
[42] vgl. Rolff & Zimmermann 2001, 79
[43] Rolff & Zimmermann 2001, 79
[44] ebd.
[45] BMFSFJ 2005, 162f.
[46] Rolff & Zimmermann 2001, 79
[47] v. Hentig 1975, zit. nach Gebhard 1994, 79
[48] Mitscherlich 1965, 24
[49] vgl. Gebhard 1994, 64ff.
[50] Gebhard 1994, 67
[51] vgl. Zeiher 1983, 179
[52] vgl. BMFSFJ 2005, 162
[53] vgl. Nissen 1993, 242
[54] vgl. Fuhs 2001, 139
[55] Rolff & Zimmermann 2001, 84
[56] Siehe Kapitel 2.3.4
[57] Rolff & Zimmermann 2001, 84
[58] vgl. Zeiher 1983
[59] Schemel u.a. 1998
[60] Zeiher & Zinnecker 2002, 5
[61] vgl. BMFSFJ 2005, 162
[62] vgl. Rohnke 2000
[63] Rolff & Zimmermann 2001, 172
[64] vgl. Nissen 1993, 244
[65] Rolff & Zimmermann 2001, 170
[66] Thiemann 1988, 41
[67] Zeiher 1983, 187
[68] vgl. Zeiher 1983, 187
[69] BMFSFJ 2005, 163
[70] Zeiher 1983, 180
[71] vgl. Thiemann 1988, 50f.
[72] Zeiher 1993, 239
[73] BMFSFJ 2005, 163
[74] vgl. Thiemann 1988, 73
[75] Rohnke 2000
[76] Blinkert o. J.
[77] vgl. Nissen 1993, 243
[78] Zeiher 1993, 239
[79] zit. nach Feil 1993, 393
[80] vgl. Nave-Herz 2007, 93
[81] vgl. Kränzl-Nagl & Mierendorff 2007, 17
[82] vgl. Rohnke 2000
[83] Obentheuer 2005, 16f.
[84] Rohnke 2000
[85] vgl. Schemel et al. 1998
[86] vgl. MPFS 2007, 19
[87] vgl. Ziegler 2007
[88] Rohnke 2000
[89] Groebel 2006
[90] vgl. Ziegler 2007
[91] Rohnke 2000
[92] Ziegler 2007
[93] vgl. Ziegler 2007
[94] Rolff & Zimmermann 2001, 155
[95] Kränzl-Nagl & Mierendorff 2007, 18
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- Diplompädagogin Sabine Mirring (Author), 2008, Der Einfluss von Heimtieren auf die Entwicklung von Kindern, insbesondere auf den Erwerb emotionaler Kompetenzen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91147
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