Die vorliegende Arbeit stellt entlang verschiedener Dimensionen die heterogene Zusammensetzung der Schülerschaft an den allgemein bildenden Schulen des deutschen Bildungssystems dar und beschreibt Vorstellungen sowie Strategien zur Homogenisierung hinsichtlich der Zusammensetzung von Lerngruppen während der Schulzeit. Die Verwirklichung einer Chancengleichheit in der Bildung durch die Anwendung des Leistungsprinzips sowie die verbreitete Annahme einer Leistungssteigerung einzelner Schülerinnen und Schüler durch eine homogene Organisationsform von Lerngruppen in Schule und Unterricht werden durch den Autor diskutiert und hinterfragt.
Einer historischen Betrachtung der Homogenisierungsbestrebungen im deutschen Bildungswesen schließt sich eine Diskussion über Möglichkeiten an, die mit der Einführung einer Gemeinschaftsschule verbunden sind. Hierbei erfährt schwerpunktmäßig – neben dem schleswig-holsteinischen Modell – die Berliner Konzeption einer Gemeinschaftsschule eine tiefergehende Betrachtung, sowohl hinsichtlich der strukturellen Zwänge im Bildungssystem, die eine derartige Schulform gegenwärtig möglich und nötig werden lassen, sowie bezüglich der Auswirkungen einer „Schule für alle“ auf die Förderung der Bildungschancen unterprivilegierter Schülerinnen und Schüler in einem weiterhin in mehrgliedriger Form fortbestehenden Schulsystem.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriffsklärungen
2.1 Heterogenität und Homogenität
2.2 Gemeinschaftsschule
3 Dimensionen von Heterogenität im schulischen Kontext
3.1 Soziale Unterschiede
3.2 Geschlechterunterschiede
3.3 Kulturelle und sprachliche Unterschiede
3.4 Unterschiedliche körperliche Voraussetzungen
4 Heterogenität und Schule
4.1 Die Konstruktion von Normalität im Kontext von Schule
4.2 Heterogenität und Schule im historischen Abriss
4.3 Heterogenität und Schule in der Gegenwart
5 Das Modell der Gemeinschaftsschule
5.1 Hintergründe der Berliner Konzeption einer „Schule für alle“
5.2 Innovation oder Restauration? – Kritische Betrachtung der Berliner Gemeinschaftsschule
5.3 Innere und äußere Grenzen des Modells
6 Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Bei dem Thema Schule, mag sich jeder einzelne an seine ganz persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse mit einer oder mehreren dieser Einrichtung erinnern. Schließlich gehört es in Deutschland – mit seiner gesetzlich festgeschriebenen Schulpflicht – zur Regel, dass Heranwachsende im Laufe ihres individuellen Bildungsweges Erfahrungen mit der Institution Schule sammeln können und müssen. Doch ist das jedem ganz persönlich innewohnende Bild von Schule tatsächlich vollständig, objektiv und realistisch?
Die vorliegende Arbeit möchte den interessierten Leser[1] zu einem Exkurs einladen, welcher das deutsche Bildungssystem eingehender betrachten wird. Wesentliche Kernpunkte dabei werden in einem ersten Teil die Heterogenität der Schülerschaft im Wechselspiel mit den Homogenisierungsbestrebungen des deutschen Schulsystems sein – wobei sich ein besonderes Augenmerk auf eine in Schule implizit enthaltene Selektionsfunktion richten wird.
Zur Schule wurde von Siegfried Bernfeld (1925, S. 27) folgendes formuliert:
„Institution Schule ist nicht aus dem Zweck des Unterrichts gedacht und nicht als Verwirklichung solcher Gedanken entstanden, sondern sie ist da, vor der Didaktik und gegen sie. Sie entsteht aus dem wirtschaftlichen – ökonomischen, finanziellen – Zustand, aus den politischen Tendenzen der Gesellschaft“.
Vor dem Hintergrund dieser Aussage soll in einem zweiten Teil die in aktuellen bildungspolitischen Auseinandersetzungen oft angeführte Idee einer Gemeinschaftsschule untersucht werden, wobei hier die Berliner Konzeption dieser Schulform eine besondere Betrachtung erfährt, da zu ihr gegenwärtig die umfänglichsten Veröffentlichungen, Modellbeschreibungen und Rahmendaten vorliegen.
Sind die bereits vorliegende Entwürfe von (Gemeinschafts)Schule wirklich nur – wie Bernfeld feststellt – entstanden aus den Aspekten von Wirtschaftlichkeit heraus, vor einem Hintergrund gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, die ihren Niederschlag in dieser Konzeption von Schule finden? Oder sind sie eine dem Logos geschuldete Anerkennung einer in vielfacher Hinsicht heterogenen Schülerschaft und der Beginn von umfassenden Veränderungen im deutschen Bildungssystem?
2 Begriffsklärungen
Während die Begrifflichkeit Gemeinschaftsschule zunächst für ein allgemeines Verständnis noch relativ leichte Ansatzmöglichkeiten bietet, gestaltet sich dies für andere grundlegende Begriffe möglicherweise etwas schwieriger. Vor diesem Hintergrund soll zunächst – gewissermaßen für einen Einstieg in die Thematik – ein elementares Verständnis durch eine Klärung der Verwendung von Begriffen in der vorliegenden Arbeit unterstützt werden.
2.1 Heterogenität und Homogenität
Heterogenität bezeichnet zunächst ganz allgemein die Vielgestaltigkeit und Differenziertheit sozialer Strukturen in Gesellschaften und ist so bezeichnend für soziale Komplexität. Heterogenität wird durch den Vorgang der Heterogenisierung erzeugt, welchen Hansen und Wenning (2003, S. 218) als einen Prozess beschreiben, der "Ungleichartigkeit bezüglich eines bestimmten Merkmals herstellt bzw. den Grad entsprechender Heterogenität erhöht". Die Mitglieder moderner und komplexer Gesellschaften sind hinsichtlich vieler Merkmale heterogen. Ungeachtet dessen wird ihnen essentielle Gleichheit unterstellt – sie haben gleiche Rechte und Pflichten in der Gesellschaft. Der Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen (Bildung, Arbeit etc.) ist ihnen formal gleichermaßen freigestellt.
Das Gegenteil von Heterogenisierung stellt – als Gleichartigkeit oder Homogenität schaffender Prozess – die Homogenisierung dar. Homogenität lässt sich unter den Mitgliedern moderner Gesellschaften tatsächlich nur anhand weniger Merkmale wie etwa gemeinsamer Grundrechte und –werte herstellen.
2.2 Gemeinschaftsschule
Die Begrifflichkeit der Gemeinschaftsschule findet bzw. fand im allgemeinen Sprachgebrauch eine differenzierte und mehrdeutige Verwendung, die zunächst eine grundlegende Klärung notwendig erscheinen lässt.
Unter Gemeinschaftsschulen – synonym auch als Simultanschulen bezeichnet – wurden im Kontext der Reichsschulgesetzgebung der 1920er Jahre jene Schulen verstanden, die Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Konfessionen gemeinsam unterrichteten[2]. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich nicht mit diesen Schulen und führt nachfolgend in ein anderes Begriffsverständnis ein.
Gemeinschaftsschule bezeichnet hier eine im aktuellen bildungspolitischen Diskurs erörterte Schulform, die – vorerst ganz allgemein formuliert – für ein längeres gemeinsames Lernen von Kindern und Jugendlichen, in neuen Organisationsformen und heterogeneren Strukturen von Schule und Unterricht als bislang stehen soll.
3 Dimensionen von Heterogenität im schulischen Kontext
Es stellt sich hier zunächst die Frage, warum überhaupt Verschiedenartigkeit im Zusammenhang mit Schule betrachtet werden sollte, denn zunächst einmal scheint diese etwas gänzlich „Normales“ zu sein. Individualität kennzeichnet jeden Menschen – unabhängig davon, ob er Schüler ist oder nicht. Zudem soll im Rahmen von Bildung Individualität ausdrücklich gefördert und weiterentwickelt werden.
Wird Heterogenität im Kontext von Schule betrachtet[3], beinhaltet dies eine Vielzahl von Lebenszusammenhängen und –bereichen der Schülerinnen und Schüler, die sich entlang sozialstrukturelle Merkmale aufzeigen lassen. Diesen Merkmalen gemeinsam ist, dass sie mittelbar wie unmittelbar in schulischen Zusammenhängen wirksam werden und sich dann in den individuellen Leistungserfolgen von Schülerinnen und Schülern niederschlagen können.
Exemplarisch soll nachfolgend in einige schulisch relevante Heterogenitätsdimensionen eingeführt werden, die sich in den zurückliegenden Jahren verändert bzw. erst neu herausgebildet haben. Dabei ist es im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich – und es ist auch nicht deren Anliegen – diese Unterscheidungsgrößen in ihrem jeweils umfänglichen Spektrum vollständig zu betrachten.
3.1 Soziale Unterschiede
Soziale Unterschiede beschreiben hier Schülerinnen und Schüler als Mitglieder von sozialen Gruppen, die sich von anderen Gruppen hinsichtlich bestimmter sozialer Merkmale unterscheiden, welche einen Einfluss auf die schulischen Erfolge haben können. Soziale Unterschiede lassen sich häufig nicht mit Hilfe einzelner Einflussgrößen beschreiben, sondern entstehen oft erst aus der Kombination von verschiedenen Faktoren und Merkmalen heraus.
Eine soziale Unterscheidungsmöglichkeit bietet die Zugehörigkeit von Schülern zu unterschiedlichen sozialen Schichten.
Die jeweilige Schichtzugehörigkeit allein hat dabei keinen direkten Einfluss auf die schulischen Erfolge. Erst einzelne schichtspezifische Merkmale bzw. deren Verknüpfung miteinander – wie etwa die Vorbildung der Eltern und deren beruflicher Beschäftigungsstatus, das Wohnumfeld, das Familieneinkommen etc. – können Bildungschancen sowohl positiv wie auch negativ beeinflussen. Ferner gilt, dass die Schichtzugehörigkeit mit der Wahrscheinlichkeit des zukünftigen Besuches einer bestimmten Schulform korreliert (vgl. Geißler 2006, S. 287). Daraus lässt sich auf eine potentielle aber nicht zwingende Weitergabe von sozialschichtspezifischen Bildungsvoraussetzungen und –privilegien an die jeweils nachfolgende Generation innerhalb der sozialen Schicht schließen.
Die Schülerschaft ist hinsichtlich einer Vielzahl von sozialen Unterschieden heterogen. Neben der bereits genannten Schichtzugehörigkeit tragen Einflussgrößen wie etwa Arbeitslosigkeit der Eltern, Sozialhilfebedürftigkeit, Armut, Isolation etc. zu einer zunehmenden Differenzierung unter den Schülerinnen und Schülern bei. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen befördern diese Differenzierung noch zusätzlich durch ihre Dynamik und durch die damit verbundene Abnahme einer Planbarkeit von individuellen Lebensverläufen[4] (schulische Entwicklungsmöglichkeiten, spätere Erwerbsmöglichkeiten, zukünftiger Sozialstatus etc.).
3.2 Geschlechterunterschiede
Obwohl eine Geschlechterdifferenz nach Einführung der Koedukation in allen Schulformen offenbar nicht mehr gegeben ist, können Unterschiede in dieser Dimension von Heterogenität nachgewiesen werden. Grundlage für eine darauf bezogene Sensibilisierung der Wahrnehmung bilden die Ergebnisse der modernen Geschlechterforschung, welche eine Unterscheidung von biologischem Geschlecht (sex) und sozialem Geschlecht (gender) ermöglichen. Vor diesem Hintergrund stellen sich Fragen zu Geschlechterunterschieden nicht mehr nur hinsichtlich einer gemeinsamen Anwesenheit von Jungen und Mädchen im Unterricht, sondern auch vor dem Hintergrund, wie Schule auf geschlechterspezifische Unterschiede – im Rahmen von Prozessen schulischer Selektion – eingeht. Dabei beeinflussen diese Prozesse die Schüler beiden Geschlechts.
[...]
[1] In der vorliegenden Arbeit werden männliche und weibliche Schreibweisen unsystematisch verwendet, da eine allgemein geschlechtsneutrale Schreibweise nach Auffassung des Autors die Lesbarkeit des Textes eher nachteilig beeinflussen würde. Gemeint sind – sofern nicht ausdrücklich anders gekennzeichnet – natürlich immer beide Geschlechter.
[2] vgl. hierzu auch Mumm (1922), Paulsen (1926)
[3] Heterogenität gestaltet sich äußerst vielschichtig. Es kann jedoch an dieser Stelle nicht auf alle Bereiche von Heterogenität in bezug auf Schule eingegangen werden. So finden hier u.a. die Dimensionen von biografischer oder entwicklungsbedingter Heterogenität keine weitere Betrachtung.
[4] vgl. hierzu Beck 1986, S. 242ff.
- Quote paper
- Marcel Gräf (Author), 2008, Heterogenität und Gemeinschaftsschule. Kritische Betrachtung der Berliner Konzeption einer „Schule für alle", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91104
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