Friedrich Wolf geht es mit seinen gesellschaftskritischen und politischen Themen nicht nur um die Darstellung seiner Vorstellung von Realität, sondern auch darum, seine Überzeugung der marxistischen Weltanschauung und der daraus resultierenden sozialistischen Gesellschaftsordnung zu propagieren. Diese Idee findet in fast allen seiner Dramen Verwendung und ist charakteristisch für Friedrich Wolfs Werke, die sich mit der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen. Seine Romane und Erzählungen sind gänzlich unbekannt, und der Name „Friedrich Wolf“ ist in Deutschland im Wesentlichen in Vergessenheit geraten, obwohl er in der marxistischen Literaturwissenschaft der ehemaligen DDR als Mitbegründer des „Sozialistischen Realismus“ gilt. Aber mit seinen Dramen, besonders „Das bist du“, „Der arme Konrad“, „Cyankali“ und „Professor Mamlock“ konnte er in der Zeit der Weimarer Republik große Erfolge feiern.2 „Das bist du“ zählt mit zu seinen frühen, expressionistisch geprägten Stücken, die er in der Zeit von 1917 bis 1922 geschrieben hat. Danach konzentriert er sich auf proletarisch-revolutionäre Theaterstücke im Stil der „Neuen Sachlichkeit“3, wobei er zum Beispiel im Schauspiel “Der arme Konrad“ von 1923 die Probleme des kommunistischen Klassenkampfes thematisiert. Cyankali ist sein erstes großes Zeitstück, das ihn 1929 über die Grenzen von Deutschland hinaus bekannt macht.
Friedrich Wolf hat in der Zeit der Weimarer Republik über zwölf Dramen und einige Prosawerke verfasst. Bei einer 16-bändigen Gesamtausgabe, die „inklusive zweier Briefbände 8477 Seiten umfasst“5, und einigen Publikationen außerhalb der gesammelten Werke, ist eine Auswahl also nicht nur dringend notwendig, sondern auch sehr schwierig. In Verbindung mit seiner Entwicklung vom expressionistischen Künstler zum sozialistisch-realistischen Dramatiker werden hier die Stücke „Das bist du“ (1919), „Der Arme Konrad“(1923) und „Cyankali“ (1929) bearbeitet. „Das bist du“ war das erste Stück mit dem Friedrich Wolf den Weg auf die Bühne geschafft hat, und das den Grundstein für seine weiteren Leistungen darstellt. Mit „Der Arme Konrad“ bewegt sich Wolf in Richtung des proletarisch-revolutionären Theaters und konnte auch damit wichtige Erfolge erzielen. Seine größte und auch bemerkenswerteste Wirkung erlangte er durch das Zeit-stück „Cyankali“. Es ist das beste Exempel für ein sozialistisch-realistisches Theaterstück, dass er 1928 in seiner Programmschrift „Kunst ist Waffe“ fordert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Zur Begründung der Textauswahl
1.2 Zur Vorgehensweise
1.3 Aspekte der Forschung
2. „Das bist du“: Friedrich Wolfs expressionistisch geprägtes Stück als Artikulationsversuch seiner Kriegseindrücke
2.1 Friedrich Wolfs Hinwendung zum expressionistischen Theater
2.2 Friedrich Wolfs expressionistisches Drama „Das bist du“
2.2.1 Die Besonderheiten der unterschiedlichen Handlungsebenen
2.2.2 Die Personenkonstellation in Bezug auf deren expressionistische Gestaltung
2.3 Pressestimmen zu „Das bist du“ als Spiegel der Nachkriegszeit
3. Friedrich Wolfs politische Umorientierung als Ausgangspunkt seines realistischen Geschichtsdramas: „Der Arme Konrad“
3.1 Friedrich Wolfs Entwicklung zum proletarisch-revolutionären Dramatiker
3.2 Friedrich Wolfs realistisches Geschichtsdrama „Der Arme Konrad“
3.2.1 Die Wirklichkeitsdarstellung der Handlung
3.2.2 Die Authentizität der historischen Personen
3.3 Die revolutionäre Tradition des „Armen Konrads“ in der Kritik der Zeit
4. „Cyankali“: Friedrich Wolfs kämpferisches Eingreifen in das Zeitgeschehen der Weimarer Republik
4.1 Die politische Entwicklung in der Weimarer Republik und deren Einfluss auf Friedrich Wolfs Dramatik
4.2 Friedrich Wolfs Programmschrift: „Kunst ist Waffe“
4.3 Friedrich Wolfs richtungsweisendes Zeitstück „Cyankali“ als Exempel seines politischen Engagements
4.3.1 „Cyankali“: „Ein Stück aus dem Leben unserer Tage“ als Friedrich Wolfs bekanntestes Zeitstück
4.3.2 Die inhaltliche Umsetzung von „Kunst ist Waffe“ im Drama „Cyankali“
4.3.3 Die Umsetzung der politischen Gesinnung Friedrich Wolfs in der Konstellation der Personen
4.4 „Cyankali“ und die Reaktionen der Arbeiterklasse
4.5 „Professor Mamlock“ als Erweiterung der politischen Aktualität Friedrich Wolfs in seiner kämpferisch-antifaschistischen Dramatik der Exilzeit
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Zur Begründung der Textauswahl
Friedrich Wolf war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Arzt und Dramatiker. Für sein Werk, das alle literarischen Gattun- gen, Prosa, Lyrik, Dramatik für Bühne, Film und Rundfunk sowie Aufsätze über Kunst, Literatur, Theater, Politik und Medizin - umfasst, ist der Versuch bezeichnend, Kunst und Leben miteinander zu verbinden.1
Friedrich Wolf geht es mit seinen gesellschaftskritischen und politischen The- men nicht nur um die Darstellung seiner Vorstellung von Realität, sondern auch darum, seine Überzeugung der marxistischen Weltanschauung und der daraus resultierenden sozialistischen Gesellschaftsordnung zu propagieren. Diese Idee findet in fast allen seiner Dramen Verwendung und ist charakteris- tisch für Friedrich Wolfs Werke, die sich mit der Zeitgeschichte des 20. Jahr- hunderts auseinandersetzen.
Seine Romane und Erzählungen sind gänzlich unbekannt, und der Name „Friedrich Wolf“ ist in Deutschland im Wesentlichen in Vergessenheit geraten, obwohl er in der marxistischen Literaturwissenschaft der ehemaligen DDR als Mitbegründer des „Sozialistischen Realismus“ gilt. Aber mit seinen Dramen, besonders „Das bist du“, „Der arme Konrad“, „Cyankali“ und „Professor Mamlock“ konnte er in der Zeit der Weimarer Republik große Erfolge feiern.2 „Das bist du“ zählt mit zu seinen frühen, expressionistisch geprägten Stücken, die er in der Zeit von 1917 bis 1922 geschrieben hat. Danach konzentriert er sich auf proletarisch-revolutionäre Theaterstücke im Stil der „Neuen Sachlich- keit“3, wobei er zum Beispiel im Schauspiel “Der arme Konrad“ von 1923 die Probleme des kommunistischen Klassenkampfes thematisiert. Cyankali ist sein erstes großes Zeitstück, das ihn 1929 über die Grenzen von Deutschland hinaus bekannt macht. 1933 schreibt er im russischen Exil antifaschistische Stücke wie „Professor Mamlock“. Friedrich Wolf kehrt 1945 wieder nach Deutschland zurück und beschäftigt sich bis 1953 mit den gesellschaftlichen Fragen der DDR.4
Friedrich Wolf hat in der Zeit der Weimarer Republik über zwölf Dramen und einige Prosawerke verfasst. Bei einer 16-bändigen Gesamtausgabe, die „inklusive zweier Briefbände 8477 Seiten umfasst“5, und einigen Publikationen außerhalb der gesammelten Werke, ist eine Auswahl also nicht nur dringend notwendig, sondern auch sehr schwierig.
In Verbindung mit seiner Entwicklung vom expressionistischen Künstler zum sozialistisch-realistischen Dramatiker werden hier die Stücke „Das bist du“ (1919), „Der Arme Konrad“(1923) und „Cyankali“ (1929) bearbeitet. „Das bist du“ war das erste Stück mit dem Friedrich Wolf den Weg auf die Bühne geschafft hat, und das den Grundstein für seine weiteren Leistungen darstellt.
Mit „Der Arme Konrad“ bewegt sich Wolf in Richtung des proletarisch-revo- lutionären Theaters und konnte auch damit wichtige Erfolge erzielen. Seine größte und auch bemerkenswerteste Wirkung erlangte er durch das Zeit- stück „Cyankali“. Es ist das beste Exempel für ein sozialistisch-realistisches Theaterstück, dass er 1928 in seiner Programmschrift „Kunst ist Waffe“ for- dert.
Das Stück „Professor Mamlock“, das Friedrich Wolf 1933 im russischen Exil verfasste, gibt einen Ausblick auf sein weiteres Schaffen nach der Weimarer Republik. In dieser Zeit entsprachen seine Werke uneingeschränkt der marxistisch-kommunistischen Auffassungen, die er auch weiterhin in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vertrat.
1.2 Zur Vorgehensweise
Wolf beleuchtete die wesentlichen politischen Spannungs- felder seiner Zeit. Sein Hauptinteresse aber galt dem Ein- zelschicksal der dramatischen Gestalt. Die Konfrontation des einzelnen mit den Grundfragen und der entscheiden- den Entwicklungsrichtung der Epoche sollte beim Zu- schauer Denkanstöße zur Überprüfung von persönlichen Verhaltens- und Handlungsweisen auslösen. Mit dem Auf- bau dramatischer Gestalten trug Wolf in beträchtlichen Maße dazu bei, ein neues Menschenbild auszuformen: das Bild des revolutionären, proletarischen Helden, der nicht nur die unmittelbaren politischen Ziele seiner Klassen vor Augen hat, sondern das Glück aller Menschen in einer künftigen sozialistischen Lebensordnung.6
Doch bevor Friedrich Wolf diese Position einging, musste er einen langen Prozess der „Selbstverständigung“7 durchlaufen und sich schrittweise vom „individualistischen, wenn auch subjektiv durchaus ehrlichen Rebellentum seiner expressionistischen Periode entfernen“8, um sich durch die stetige Steigerung der Bindung an den Kommunismus zu einem „volksverbundenen, realistischen“9 Schreiber auszubilden.
Diese Arbeit verdeutlicht die Entwicklung an den ausgewählten Dramen „Das bist du“, „Der Arme Konrad“ und „Cyankali“. Unter Berücksichtigung von persönlichen, politischen und wirtschaftlichen Ereignissen werden die Dramen analysiert. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Veränderungen in der jeweiligen Handlungsstruktur und Personenkonstellation, da gerade dieser Wandel eine wichtige Rolle in Wolfs individueller Entwicklung spielt.
Das vierte Kapitel greift zusätzlich Friedrich Wolfs Aufsatz: „Kunst ist Waffe“ zur Analyse des Stückes und der damaligen Phase des Dramatikers auf, da gerade diese Schrift für die sozialistisch und proletarisch-revolutionäre Literatur programmatisch geworden ist.10
Sein Exilwerk „Professor Mamlock“ wird als eine nochmalige Steigerung der politisch zeitnahen Stücke angesehen und soll ein Ausblick auf Wolfs weiteres Schaffen geben, dass er trotz seiner widrigen Lebensumstände nicht vernach- lässigt hat.
Neben Bertolt Brecht gehört Friedrich Wolf:
mit zu den Begründern und Wegbereitern einer neuen Qualität der dramatischen Kunst. Mit seinem Schaffen legte er in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts den Grundstein für eine sozialistisch-realistische Gestaltungsmethode in der Dramatik.11
1.3 Aspekte der Forschung
In der Zeit der Weimarer Republik wurde Friedrich Wolf mit Dramatikern wie Bertolt Brecht und Ernst Toller verglichen. Dennoch ist er trotz seiner immensen Präsenz in Deutschland, auch nach seiner Exilzeit, in Vergessenheit geraten. Aber auch bis heute hat ein Großteil des Wolfschen Werks nichts an Aktualität eingebüßt. Wolfs inhaltliche Forderung seiner Werke nach Frieden, Gerechtigkeit und Menschenwürde vereint immer noch Menschen unterschiedlicher politischer Auffassungen.
Bemerkenswert ist, dass schon zu Wolfs Lebenszeiten über sein Drama „Das bist du“ in Oskar Walzels Abhandlung „Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod“ von 1920 geschrieben wurde. Allerdings müssen diese Bewertungen im Rahmen der Nachkriegszeit betrachtet werden.
Die neuere Forschungsliteratur zu Friedrich Wolf besteht hauptsächlich aus Arbeiten von Dr. Walther Pollatschek, der in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur eine Biographie und eine Abhandlung über Wolfs Bühnenwerk verfasst hat, sondern auch einige weitere Dokumentationen und Aufzeichnungen zum Leben und Werk von Friedrich Wolf zusammen mit Emmi Wolf veröffentlichte. Allerdings sind Pollatscheks Arbeiten kritisch zu prüfen, da er als bekennender Sozialist Friedrich Wolfs Werke ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt betrachtet und bewertet.
Weitere Biographien von Werner Jehser und Henning Müller setzten sich in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur kritischer mit dem Lebenswerk des Autors auseinander, sondern auch mit dessen Biographen Walther Pollat- schek.
Eine ausführliche Publikation über „Friedrich Wolfs Dramatik von 1924 bis 1931 und ihre Beurteilung in der Kritik“ stellt Ulf-Rüdiger Sachsofskys 1972 erschienene Dissertation dar. Er unterzieht die zwei Biographen Dr. Walther Pollatschek und Werner Jehser einer kritischen Beurteilung, kann deren For- schungsergebnisse jedoch auch für seine Arbeit verwenden. Allerdings be- schränkt er sich hauptsächlich auf die Zeitstücke Friedrich Wolfs. Die ersten Werke seiner expressionistischen Phase werden nur kurz erwähnt und die Werke der Exilzeit gar nicht betrachtet.
Trotzdem bietet die gut recherchierte Arbeit - gerade für den thematischen Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit - eine interessante Erweiterung des Gesamtbildes von Friedrich Wolf.
Am 20. März 1992 wurde in der Akademie der Künste zu Berlin (Ost) die Friedrich-Wolf-Gesellschaft gegründet.
Ihr Anliegen ist es, das künstlerische und medizinische Ver- mächtnis Wolfs nicht nur weiterhin zu erforschen, sondern sein humanistisches Erbe für heranwachsende Generationen zu be- wahren. […]
In Lehnitz verbrachte Friedrich Wolf seine letzten Lebens- jahre. Bereits zu DDR-Zeiten überließen die Erben sein Haus - heute Gedenkstätte und Sitz der Gesellschaft - der Akademie der Künste. Dort richtete die Akademie das Friedrich-Wolf- Archiv ein, das sich zum Zentrum der wissenschaftlichen Er- forschung von Leben und Werk des Schriftstellers entwickelte. (Heute befindet sich das Archiv im Bestand der Stiftung „Aka- demie der Künste“.)12
2. „Das bist du“: Friedrich Wolfs expressionistisch geprägtes Stück als Artikulationsversuch seiner Kriegseindrücke
2.1 Friedrich Wolfs Hinwendung zum expressionistischen Theater
Friedrich Wolf wurde am 23. November 1988 in Neuwied am Rhein geboren und gehörte der Generation, aus der die meisten Dramatiker des Vorkriegsexpressionismus stammten, an.
Durch die Eindrücke des Krieges unmittelbar beeinflusst, wuchs Friedrich Wolfs Hass auf den Imperialismus. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er sich den sozialdemokratischen Kriegsgegnern zuwandte, nachdem er als De- sateur in ein Reservelazarett nach Dresden versetzt wurde. Er kam in Sachsen nicht nur mit revolutionären Arbeitern und Soldaten in Kontakt, sondern wurde auch Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD).
Da er sich der Politik mit dem gleichen Interesse zuwandte wie seiner Arbeit als Arzt und Schriftsteller, wurde er schließlich am 10. November 1918 in den „Zentralen Arbeiter- und Soldatenrat Sachsen“ gewählt.13
Diese Linksorientierung ist charakteristisch für die expressionistische Künstlergeneration dieser Zeit, zu der Friedrich Wolf zählte.
Ernst Toller und Friedrich Wolf prägten zusammen die vorrevolutionäre Phase der expressionistisch beeinflussten Theaterstücke, aber ihre Wege trennten sich während der Kriegszeit, und ihre Auffassungen bezüglich der Dramatik ent- wickelte sich in unterschiedliche Richtungen. Friedrich Wolf hatte durch seine Tätigkeit als Arzt und Dramatiker einen hohen Bekanntheitsgrad, und konnte damit ein größeres Publikum erreichen, als andere seiner „Kampfgefährten“14. Wolfs Orientierung am Expressionismus ist in erster Linie ein Artikulations- versuch seiner Kriegseindrücke. Er versucht, sich einer Gruppe anzupassen, die eine Erneuerung der Welt allein durch den Willen des Individuums fordert und das literarische Schaffen als Mittel zum Zweck ansah.15 Der Expressionismus in der Literatur befasst sich in erster Linie mit den Themen Krieg, Großstadt, Zerfall, Angst, Ich-Verlust und Weltuntergang (Apokalypse), sowie mit Wahnsinn, Liebe und Rausch und der Natur. Wie keine andere literarische Bewegung zuvor machten die Expressionisten das Hässliche, Kranke und Wahnsinnige zum Gegenstand ihrer Darstellungen.16
In der Zeitschrift „Menschen“, an der auch Friedrich Wolf mitarbeitete, formulieren die Expressionisten ihr Programm:
Dieser Idealismus heißt in Literatur, Malerei und Kritik Expressionismus … In der Politik heißt dieser Idealismus anationaler Sozialismus, der un- bedingt und radikal gefordert wird, nicht nur im Geiste, sondern in der Tat!17
Durch die Erlebnisse des Krieges näherte Wolf sich den expressionistischen Auffassungen immer mehr an. In einem Brief an seinen Jugendfreund Gustav Gerstenberger schrieb er:
[...] Aber der Mensch bleibt deshalb der alte! Und dieser alte Mensch wird seinen Brüdern von drüben, mit dem er sozialis- tisch und akademisch delirierte und in diplomatisch korrekter Unehrlichkeit lebte, eines Tages - wenn das Maß der Unehr- lichkeit voll ist - verleumden, niederknallen und morden...[...] Daß aber die Menschheit es nicht leisten kann, wenn der Mensch nicht von Grund auf ein anderer wird, das sieht heute von tausend kaum einer...Der Mensch muß sich von Grund auf ändern, nicht die Menschheit. Das ist´s.!18
Diese Maxime, die Friedrich Wolf hier ausspricht, dient als Grundlage für sein dramatisches Schaffen, bis er 1923 „der Arme Konrad“ verfasste.19 Sein politisches und künstlerisches Engagement, eine Demonstration zur Ver- haftung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und die Lektüre von Scho- penhauers Lehren der altindischen Naturphilosophie veranlassten ihn, das Schauspiel „Das bist du“ zu schreiben.
Mit „Das bist du“, das genau diese Probleme der geistigen Erneuerung und der Wandlung durch Erkenntnis und Tat in den Mittelpunkt stellt, tritt Friedrich Wolf zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Das Schauspiel wurde am Dresdener Stadttheater am 9. Oktober 1919 uraufgeführt, war aber nicht sein erstes Theaterstück, „Mohammed“ hatte er schon 1917 geschrieben. Der Titel „Das bist du“, auf altindisch „tat twam asi“, verkörpert den dramaturgischen Grundgedanken des Stückes:
[...] dass alles Dasein ein stetiger Wandel sei, dass auch der Mensch - gerade der Mensch - sich in einer stetigen Wandlung befinde vom Niederen zum Höheren.20
Wolf verarbeitet diese Idee der altindischen „Veden“21 in seinem Schauspiel, indem er die Fragestellung des Stückes zu einer Schuldfrage erweitert und die Verantwortung des einzelnen gegenüber anderen in den Mittelpunkt stellt.
[...]: jeder ist nicht bloß für sich, sondern für den andern verantwortlich! Dein Versagen ist sogleich mit Schuld am Versagen des andern. Diese Erkenntnis muß zur Tat drängen - sich zu verwandeln, die andern, die Welt.22
Wolf zeigt in seinem Stück, dass der Mensch viele Wandlungen durchmachen muss, um die Welt verändern zu können. „Aber alles, was dich umgibt, durch das du hindurchgehst: ´tat twam asi!´, ´das bist du!´“23
Das verkündet auch der durch den Mord am Gesellen Johannes verwandelte Andreas:
Es wird noch mehr fallen und noch mehr sich rühren. Die Welt wird umgestürzt werden von oben nach unten, von unten nach oben, daß sie neu geboren werden kann. Nichts ist un- möglich.24
2.2 Friedrich Wolfs expressionistisches Drama „Das bist du“
2.2.1 Die Besonderheiten der unterschiedlichen Handlungsebenen
Um Schopenhauers naturphilosophische Gedanken25 dramaturgisch umsetzten zu können, wird das Stück in zwei Ebenen, eine irdische und eine nicht-irdi- sche, unterteilt.
Das Schauspiel besteht aus einem Vorspiel und fünf Verwandlungen, wobei die fünfte Verwandlung in einer Ebene mit dem Vorspiel steht und auch als ein Nachspiel angesehen werden kann. In dieser nicht-irdischen Schicht treten verschiedene Wesen auf, die über das Dasein „vor der Geburt“26 und „nach dem Tode“27 philosophieren. Im weiteren Verlauf des Stückes wird deutlich, dass die Wesen als handelnde Personen im Schauspiel vorkommen.
So gleicht die Erklärung von Leben und Liebe, die die Wesen im Vorspiel als ein „Sicherinnern“28 und ein „Sichwiedererkennen“29 definieren, dem Gedankenaustausch der Gärtnergattin Martha und dem Gesellen Johannes am Anfang ihrer Liebesbeziehung.
Johannes: Ist grad, als ob ich dich lang woher kenn. Martha: Woher denn, Narrlein?
Johannes: Als wir noch Geschwister... waren... Martha: Wo?
Johannes: Dort, wo ich du war und du warst ich. Martha: Woher denn weißt das alles? Johannes: Weil ich dich lieb hab. Martha: Was ist denn lieben dann?
Johannes: Ein...(faßt sich an den Kopf) Was siehst in meinem Aug?
Martha: Mich.
Johannes: Dich siehst wieder? Martha: Ja.
Johannes (plötzlich): Glaub, ´s ist ein Wiedersehen... Martha: Nach einem dunklen Schlaf?
Johannes (leise): Ein Sicherkennen, ein Sichwiedererkennen.30
Die erste bis vierte Verwandlung umfasst eine Liebestragödie zwischen drei Männern und einer Frau. Die Hauptpersonen sind Andreas der Gärtner, Mart- ha, seine Frau, Johannes, der Geselle und Lukas, der Schmied. Die Fabel des Stückes ist auf den ersten Blick banal, sie handelt vom Ehebruch der Gärtnergattin mit dem Gesellen und dessen Ermordung durch den Ehe- mann. Allerdings bilden nicht die ersten vier Verwandlungen den Schwerpunkt der Geschichte, sondern das Vorspiel und die fünfte Verwandlung. Die eigent- liche Handlung ist irrelevant für das Drama. Wolf will mit der scheinbaren Banalität des Inhalts den Rahmen für eine weitreichendere Wirklichkeit ge- ben.31
Es scheint fast, als hätten wir hier eines jener zahlreichen zeitgenössischen Stücke vor uns, die zwischen platter Wirk- lichkeitskopie und prickelnder Sensation angesiedelt sind. Wir finden deshalb [...] eine, wenn auch recht eigenwillige, teils naturalistische, teils mystifizierte durchgehende Hand- lungslinie.32
Zu diesem Zweck lässt Wolf die verschiedenen Wesen, die lediglich num- meriert werden, im Vorspiel und in der fünften Verwandlung sprechen und die Idee der Wandlung durch Erkenntnis und Tat verkünden. Die Wesen manife- stieren, dass die Veränderung der Menschen nur durch eine befreiende Tat vollzogen werden kann, und das Alte vernichtet werden muss.33 Dieser Wechsel zwischen der nicht-irdischen und der Menschen-Welt ist ein Kennzeichen der expressionistischen Dramatik. Der Gegensatz zwischen Wirk- lichkeit und Übersinnlichen wird in Wolfs Werk durch dessen Stilisierung geschaffen, was so nur in mittelalterlichen, geistlichen Dramen zu finden war. Den Eindruck, den diese Vorgehensweise auf die Literaturwissenschaft mach- te, zeigt sich in Oskar Walzel Behauptung in „Die deutsche Dichtung seit
Goethes Tod“, dass das einzig bekanntere neuere Stück, das diese Art der Darstellung aufnahm Goethes „Faust“ sei.34
In Wolfs Werk gibt es drei Stufen der Entwicklung, er wechselt vom Jenseits in die Menschenwelt und wieder ins Jenseits. Diese Dreistufigkeit der Abfolge wird im Vorspiel, in der ersten bis vierten Verwandlung und dem Nachspiel bzw. der fünften Verwandlung aufgebaut. Die nummerierten Wesen, die im Vorspiel auftreten, erscheinen im Hauptteil der irdischen Geschichte als der Gärtner und seine Frau, aber auch als Kreuz, Axt und Bank. Wolf wollte damit den Wechsel als eine Art „Erwachen aus einer Vorwelt in die Menschenwelt, dann ein Erwachen der Menschen zu einer noch höheren Welt.“35 verdeutli- chen.
Expressionistisch geprägt ist allerdings auch die Unterteilung des irdischen Schauspiels in die Auftritte in der die Menschen agieren (1.-4. Verwandlung) und der, in dem die Dinge, die Axt, die Bank und das Kruzifix, zu Wort kom- men (3. Verwandlung). Diese Verschiebung der Wirklichkeit steht noch einmal im Gegensatz zu der eigentlichen Dreiteilung des gesamten Stückes. Diese eingeschobenen, übernatürlichen Vorgänge sollen sich von der Wirklichkeit, die die Menschen erleben, möglichst deutlich abheben.36 Damit
[...] wird das einfache Geschehen in der Gärtnerfamilie in eine höherer Sphäre gehoben, in der das philosophisch- weltanschauliche Glaubensbekenntnis des Dichters im Mittelpunkt steht.“37
Der beschriebene Aufbau der zwei Ebenen widerspricht einer realistischen Dramatik, wird aber bewusst vom Dichter eingesetzt, um auf der einen Seite die Wirklichkeit in der „unabwendbare Vorbestimmung absolut herrscht“38 zu verdeutlichen, und auf der anderen Seite die Wesen im Jenseits, die die Seelen der Menschen und Dinge verkörpern, zu abstrahieren.
Auch diese Passagen dienen dazu, das irdische Leben zu rela- tivieren und den geistigen Bereich als jene Sphäre darzu- stellen, in der sich das Wesen der Menschen und Dinge offenbart, in der sie eins sind.39
2.2.2 Die Personenkonstellation in Bezug auf deren expressionistische Gestal- tung
Die Figurenkonstellation ist genauso einfach aufgebaut wie die Handlungsstruktur der irdischen Ebene. Es gibt vier Hauptpersonen, denen jeweils eine bestimmte Funktion zugeschrieben wird.
Der Gärtner Andreas ist die wichtigste Person, da er am Ende durch den Mord an seinem Nebenbuhler die Wandlung durchmacht. Der Geselle Johannes verändert durch seine Liebe zu Martha deren Dasein; er erweckt sie sozusagen zum Leben. Der Schmied Lukas hat die Funktion das Böse des Lebens darzu- stellen. Da die Charaktereigenschaften der einzelnen Personen nicht im Fokus des Zuschauers liegen sollen, wird ihnen im Rahmen der irrealen Haupthand- lung keine besondere Bedeutung zugesprochen. Friedrich Wolf war es vor allem wichtig eine Art „Urtyp“40 darzustellen, dessen Verhalten menschliche Gefühle widerspiegelt, „jene verschiedenen Formen des Leidens und der Sehn- sucht oder -wie beim Schmied Lukas - das Prinzip der Bosheit.“41
Friedrich Wolf stellt die eigentliche Geschichte des Ehebruchs in den Hintergrund, er verurteilt weder das Verhalten der untreuen Ehefrau, noch das eifersüchtige, hinterhältige Agieren des Schmieds oder gar den Mord am Nebenbuhler durch den Gärtner Andreas. Das Leben und Leiden der Hauptpersonen wird aus der privaten Sphäre in einen höhere gehoben. Um die Allgemeingültigkeit der Handlung zu unterstützten, lässt Wolf die Gegenstände Axt, Bank und Kreuz über die Menschen streiten.42
Stimme der Axt: Besinnst du dich endlich? Erinnerst du dich deines Lebens? Brüder, lasst uns alle besinnen! Die Menschen haben uns zu Sklaven gemacht, sie haben unseren Willen ge- fressen. Wir wollen ihn uns wiederholen - und sei´s über ihre Vernichtung.
Stimme des Kreuzes: Rache! Das wollen wir!
Stimme der Bank: Kinder, halb so stürmisch! Man muß sich beizeiten auch mit niederen Wesen abgeben. Wir wollen versuchen, die Menschen zu uns hinaufzuziehen.
Stimme der Axt: Alte Vettel, bist du wieder aufs Kuppeln aus?
Stimme der Bank: Ich bin nun einmal ein Werkzeug der Lie- be.
Stimme der Axt: Pfui, du benimmst dich grad wie ein Mensch!43
Wichtig ist in diesem Schauspiel der Grundgedanke, dass nur die Liebe die Wesen bzw. die Menschen zum Leben erwecken und zum Bewusstsein ihres Selbst verhelfen kann.
Fünftes Wesen: (tritt leise hinter erstes Wesen): Weißt du auch nicht, was Leben ist?
Erstes Wesen: Nein.
(Fünftes Wesen legt ihre Hand an die Stelle seines Herzens.) Erstes Wesen (bebend): Was ist das?
Fünftes Wesen: Errat´s!
Erstes Wesen (aufatmend): Ach...du? Fünftes Wesen: was ist das: du?
Erstes Wesen (erwachend): was ich nicht mehr bin und einst war...ein Teil von mir?
Fünftes Wesen: Den du wieder erlangen möchtest... Erstes Wesen (aufflammend): Dich! Dich! Fünftes Wesen: Still! - Weißt du jetzt, was leben ist? Erstes Wesen: Ein Sicherinnern...
Fünftes Wesen: Und Lieben?
Erstes Wesen: Ein Sichwiedererkennen. Fünftes Wesen (ihn umarmend): Du...44
Friedrich Wolf entwirft mit der Form der expressionistischen Dramatik einen utopischen Entwurf eines neuen Menschen. Er ist der Überzeugung: „der Mensch muß sich von Grund auf ändern, nicht die Menschheit“45. Nur durch eine Tat kann man sich und damit auch die Welt ändern. Das ver- deutlicht der Mord am Gesellen Johannes durch den Gärtner Andreas. Dieses Vergehen ist ein Symbol der tiefgehenden Wandlung der Hauptpersonen And- reas und Johannes. Der Ermordete opfert sich mit seinem Tod für die Wand- lung seines „Bruders“46 Andreas. Dieser hat durch die Tat sein eigenes Selbst, sein ‚altes Ich’ getötet, und sie sind Eins geworden.
Andreas: Ich, der kein Bien zerdruckt?
Johannes: Dich hast gemordet, das Alte in dir. [...]
Martha: Johannes, schau her, sprich nit!
Johannes: Sprech ich...ich höre nur, ´s rauscht...Sprudel des Lichts...neu muß alles werden...ganz neu...sich drehn...doch wie eine Lerch nach oben...
Martha: Er merkt´s nit, wie´s Blut aus dem Haar ihm trauft.
Andreas (ihm den Kopf stützend): Wär´s doch mein Blut, das rinnt!
Johannes (mit letzter Kraft): Deins...meins...unseres...Flamm geht auf...Licht...brennen...verbrennen...leuchten...Er stirbt.47
Die Kraft der Liebe ist dadurch erwacht und hat die beiden für die eigene Verwandlung und die der Welt bereit gemacht.48
Waren die Regieanweisungen für die Dekoration in „Mohammed“ noch an der Realität orientiert, tragen sie die Handlung jetzt durch ihre Abstraktheit. Die Einrichtung der Bauernstube, die in der zweiten Verwandlung beschrieben wird, beschränkt sich nur auf die Bank und das Kruzifix, die in der vierten Verwandlung als selbständige, sprechende Dinge auftreten. Auch die Anmer- kung zur Örtlichkeit in der fünften Verwandlung: „Gletscher eines Planeten. Eisgrünes Licht schießt aus dem Innern. [...]“49 unterstützt diese Abstraktheit der Szene. Parallel dazu werden auch die Charaktere der Akteure immer irre- aler. Im Laufe der Handlung wird deutlich, dass nur bestimmte Wesenszüge dargestellt werden sollen, zum Beispiel die des Leidens und der Sehnsucht von Johannes, Martha und Andreas, oder, wie bereits erwähnt wurde, das Prinzip des boshaften Verhaltens des Schmieds Lukas.50
Trotz der Formgebung des Werkes und dessen philosophisch-expressionisti- scher Grundgedanke, schafft es Friedrich Wolf, eine klare Exposition für das irdische Geschehen, logische Handlungsweisen der Akteure und eine sprach- liche Charakterisierung zu erschaffen.51 Er baut zum Beispiel in einige Liebes- szenen, in denen Martha und Johannes über das Thema der geistigen Wandlung philosophieren, Passagen normaler menschlicher Beziehungen ein: „Johannes (am Lager kniend): Liegst du mir gut? Martha: Viel zu gut für dein Knien.“52 Zusätzlich unterstreicht der bäuerliche Dialekt die Allgemeingültigkeit und Zeitlosigkeit des Geschehens.
Das Schauspiel „Das bist du“ offenbart die expressionistische Ideologie seines Autors. Handelte sein erstes Drama „Mohammed“ noch von realen Konflikten, die direkt zu erkennen waren, so bleibt bei „Das bist du“ nur noch der reale Anlaß einer Gesellschaftskritik. Der Betrachter muß sich erst durch die schwerverständlichen philosophischen Anschauungen, die Abstraktion und Symbolik der Handlung hindurcharbeiten, ehe er das Hauptanliegen Wolfs zu erfassen vermag.53
Wenn der Mensch sich von Grund auf ändert und durch eine Tat das „Alte“ in sich tötet, kann er allein durch seine geistige Wandlung die Welt umstürzen und von Grund auf erneuern. Die Tat soll nicht als revolutionäre Aktion der Menschen verstanden werden, sondern als Eintreten für Verbrüderung und gegenseitige Liebe unter den Menschen.
Die Untersuchung des frühen Werks „Das bist du“ von Friedrich Wolf zeigt, dass er zwar dem Expressionismus zugetan war, aber nicht so kontinuierlich wie viele seiner Zeitgenossen. Er ist in erster Linie ein Dramatiker, der seine Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung äußern möchte, und diese auch immer in den Mittelpunkt seiner Stücke stellt, ob nun in „Mohammed“, „Das bist du“ oder „Der Unbedingte“. Immer wieder ist seine Kritik nicht nur eine Feststellung, sondern auch ein Aufruf zum Handeln. Er will mit seinen Ap- pellen die Welt verändern und die Gesellschaftsordnung umstürzen. In seinen späteren Werken verstärkt sich der Appellcharakter, aber er ist eindeutig schon in seinen frühen Werken erkennbar.54
So sind die Keime des realistischen Dramatikers schon in seinen expressionis- tisch geprägten Stücken deutlich zu erkennen. Die Entwicklung von einem zum anderen hat sich also nicht von heute auf morgen gezeigt, sondern Schritt für Schritt.
Walther Pollatschek bewertet Friedrich Wolfs Entwicklung unter linksorientierten Gesichtspunkten:
Der Weg vom spontanen pazifistischen Empörer und unbe- wussten Wirklichkeitsbeobachter zum marxistischen Dramati- ker, der die Methoden des sozialistischen Realismus als einer der ersten in Deutschland meisterte, ist untrennbar verbunden mit dem Studium des Lebens, der Teilnahme an den Klassen- kämpfen der zwanziger und dreißiger Jahre und dem klaren marxistischen Programm der Kommunistischen Partei Deutschlands, die dem Dichter in der Folgezeit Orientierung, Ziel und Richtung für sein Schaffen zu geben vermochte.55
So ist es nicht verwunderlich, dass sich Friedrich Wolf trotz aller kritischer Distanz zu seiner expressionistischen Gestaltung und seiner damaligen Weltanschauung zu seinen frühen Werken bekennen konnte. Er schreibt am 25. April 1948 in einem Brief an Bertold Viertel, dem Regisseur, der die Uraufführung von „Das bist du“ geleitet hatte:
Ich kann es mir reizvoll vorstellen, schon in einem dieser frü- hen Dramen aufzuweisen, wie in unserer damaligen pazifisti- schen Einstellung bereits der Funke zuckte, die Welt verän- dern zu wollen. [...] historisch gesehen, entwicklungsgemäß [...] stehe ich auch heute noch zu diesem Stück. Wir lieben ja gerade im Kinde den Mann, d.h. den ganzen Menschen [...]56
2.3 Pressestimmen zu „Das bist du“ als Spiegel der Nachkriegszeit
Als im Dresdner Schauspielhaus am 9. Oktober 1919 das erste Schauspiel eines Unbekannten uraufgeführt wurde, da erregte es Aufsehen in ganz Deutschland. Nicht nur die Dresdner Presse beschäftigte sich eingehend mit dem neu- en Werke „Das bist du“ und mit seinem Autor Friedrich Wolf, auch große auswärtige Zeitungen wie die „Vos- sische Zeitung“ und die „Kölner Zeitung“ würdigten das Theaterereignis. Ein erster Schritt, und schon gehörte der Dramatiker, der ihn tat, zu jenen, die man in Deutschland und sogar schon im Ausland beachtete.57
Wolf konnte mit seinem Werk einen ersten und wichtigen Theatererfolg feiern, da er mit seinem „Bekenntnisdrama“58 den Zahn der Zeit traf. Die Nachkriegs- gesellschaft war empfänglich für „neue Wege, neue Sinngebung des Lebens“59. Zusätzlich war das Dresdener Schauspielhaus bis zu dem Zeitpunkt eher auf bürgerliche Bildungsstücke spezialisiert, die aber für das Publikum nicht mehr aufschlussreich genug waren, „an das sie nicht mehr glauben konnten, von dem sie nichts mehr wissen wollten.“60
Allerdings musste Wolf für sein expressionistisches Stück kämpfen, da das Theater zuerst nur den Mittelteil aufführen wollte, ohne Vorspiel und fünfte Verwandlung. Friedrich Wolf schrieb am 2. Mai 1919 in einem Brief an seine Eltern:
[…] Das alte Regiekollegium hatte mein Stück ‚sehr inter- essant’ gefunden (was ich als ‚nichtssagend’ bezeichnete) und gedacht das ‚starke’ (bürgerliche) Mittelstück sofort zu spielen, falls(!) ich auf den ‚phantastischen’ Einfüh- rungs- und Schlussakt verzichte. […] Nun kam die Be- sprechung mit mir, und ich bestand auf ‚allem oder nichts’!61
Diese Briefstelle zeigt, wie wenig die Intendanten von den expressionistischen Szenen überzeugt waren, die aber im Nachhinein den eigentlichen Erfolg des Stücks ausmachten. Trotzdem konnte Wolf durchsetzten, dass das gesamte Stück aufgeführt wurde. Hilfreich dabei waren der Regisseur Bertold Viertel, der von Wolfs neuer Dramatik sehr überzeugt war, und Conrad Felixmüller, der das Bühnenbild nach Wolfs Vorstellungen entwarf und umsetzte. Zusammen mit den beiden Herren, dem Techniker Adolf Linnebacher und den Schauspie- lern inszenierte Wolf sein Stück.62
Nicht nur die Lokalpresse, sondern auch die Frankfurter Zeitung gab eine Stel- lungnahme zu dem Stück, indem das Bühnenbild und die Technik lobend er- wähnt wurden:
Mit dem „Spiel in fünf Verwandlungen“ „Das bist du“ von Friedrich Wolf hat das Schauspielhaus dem Geist der jüngsten Dichtung seinen Zoll gezahlt. Die Uraufführung, vom starken Willen eines nachempfindenen Spielleiters, Bertold Viertels, gelenkt, von strebenden Künstlern, [...], das Alltagspublikum blieb bei der Wiederholung völlig gleichgültig. Das ist nicht zu verwundern. Der Dichter, ein junger Arzt, geht abseitige Wege. Uralte Heilslehren, auf den Stufen indischer Tempel geboren, im Schatten der Palmen an den Ufer des Ganges geglaubt und durchfiebert, umrauschen seinen Seele. Das ‚tat twam asi’ des großen Buddha hat ihn berührt, das in Schopenhauers Mitleids Evangelium fortschwingt; er taucht in das Gesetz von der inneren Einheit alles organischen Empfindens ein, er ge- biert, im Kampf mit den tragischen Gebundenheiten des Allzu-Menschlichen, neu das Evangelium von der Liebe, die den Kosmos überstrahlt und sein Irren und Sehnen in die unendliche Harmonie des Ewigen auflöst. Das Religi- öse, wie man erkennt, ist sein zentrales Motiv. So, und nur so aufgefasst, gewinnt sein Werk Form und Bedeutung. [...]
Das Entscheidende gab Linnebacher, der in der Beleuch- tung die inneren Linien der Dichtung weit schärfer und blutvoller zog, als es die harmlose Flächenhaftigkeit der Hintergründe vermochte. Alles in allem: eine sehnsüchtige Gläubigkeit, ein brünstiges Sichhingeben an heilige Ur- kräfte des Weltgeschehens, reines und keusches Wollen, aber ein Vollbringen, das seine Stützen allzu oft wanken sieht.63
Auf ähnliche Weise wurde in der gesamten Presse das Stück meist positiv aufgenommen. Es wurde zwar nicht so umjubelt wie Wolfs späteres Stück „Cyankali“ (s. Kap. 4.4), aber einige Kritiker wie F. W. Geißler erkannten in Friedrich Wolf einen großen Künstler mit dramatischer Begabung:
Uraufführung am Dresdner Landes-Schauspielhaus. Ein in Langebrück bei Dresden lebender Arzt Dr. Friedrich Wolf ist der Verfasser der Neuheit „das bist du“, die bei der Ur- aufführung einen recht ansehnlichen Erfolg erzielte. Das aus einem Vorspiel und fünf kurzen Verwandlungen be- stehenden Stück versucht, Philosophie mit Dichtung zu verbinden und dabei das Allgemein-Menschliche in ty- pischen Gestalten ebenso vorzuführen wie die Dinge selbst zu beseelen. Das sind im Grunde allzu viele Absichten für eine Dichtung, und in der Tat überwiegt das gedankliche Moment.
[...]
1 Sacksofsky, Ulf-Rüdiger: Friedrich Wolfs Dramatik von 1924 bis 1931 und ihre Beurteilung in der Kritik. Diss, Druckerei Bothmann, Köln, 1972, S.1.
2 Vgl. ebd. S.1.
3 Vgl. ebd. S.1.
4 Vgl. Sacksofsky, Ulf-Rüdiger: Friedrich Wolfs Dramatik von 1924 bis 1931 und ihre Beurteilung in der Kritik. S.1-2.
5 Müller, Henning: Wer war Wolf? Friedrich Wolf (1888-1953) in Selbstzeugnissen, Bilddokumenten und Erinnerungen. Röderberg, Köln, 1988. S. 5.
6 Jehser, Werner: Friedrich Wolf. Sein Leben und Werk. Verlag das europäische Buch, Westberlin 1982, S.10.
7 ebd. S. 10.
8 ebd. S.10.
9 ebd. S. 10.
10 Vgl. ebd. S. 7ff.
11 Jehser, Werner: Friedrich Wolf. Sein Leben und Werk. S. 7.
12 http://www.friedrichwolf.de/start.htm
13 Vgl. Jehser, Werner: Friedrich Wolf. Sein Leben und Werk. S.22.
14 Kändler, Klaus: Drama und Klassenkampf. Beziehungen zwischen Epochenproblematik und dramatischem Konflikt in der sozialistischen Dramatik der Weimarer Republik. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1970. S.301
15 Vgl. Kändler, Klaus: Drama und Klassenkampf. S.301-302.
16 Vgl. Wolf, Emmi; Struzyk, Brigitte: Auf wie viel Pferden ich geritten … Der junge Friedrich Wolf. Eine Dokumentation. Aufbau-Verlag Berlin, 1988, S. 371 ff.
17 „Menschen“, Zeitschrift für Neue Kunst, Monatsblatt, Dresden, Dezember 1918. Zitiert nach Pollatschek, Walther: Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs. Ein Spiegel der Geschichte des Volkes, Henschelverlag Berlin, 1958, S. 51.
18 Brief an Gustav Gerstenberger, 23.Oktober 1916. In: Wolf, Friedrich: Briefe. Eine Auswahl. Herausgegeben von Else Wolf und Dr. Walther Pollatschek. Aufbau-Verlag Berlin, 1958. S.57ff.
19 Vgl. Kändler, Klaus: Drama und Klassenkampf. S. 303.
20 Wolf, Emmi; Struzyk, Brigitte: Auf wie viel Pferden bin ich geritten...Der junge Friedrich Wolf. S. 364
21 Mit Veda werden im Hinduismus die heiligen Schriften bezeichnet. Vgl. Enzyklopädie: Der Brockhaus. Band 23, 19. völlig neu bearbeitete Auflage. S.A. Mannheim. 1986. S. 82-83.
22 Wolf, Emmi; Struzyk, Brigitte: Auf wie viel Pferden bin ich geritten...Der junge Friedrich Wolf. S. 364
23 ebd. S. 364.
24 Wolf, Friedrich: Gesammelte Werke. Dramen. Band 1. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1960, S.109.
25 Schopenhauer vertrat mit dem irischen Philosophen George Berkeley die Auffassung, dass eine von der Wahrnehmung unabhängige Außenwelt nicht existiere. Durch das Aufgreifen neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelte Schopenhauer eine Physiologie der Wahrnehmung. Nach seiner Konzeption existiere die Erscheinungswelt nur insoweit, als sie wahrgenommen werde und im menschlichen Bewusstsein sei, also als Vorstellung. Vgl. Enzyklopädie: Der Brockhaus. Band 19, S. 494-495.
26 Wolf, Emmi; Struzyk, Brigitte: Auf wie viel Pferden bin ich geritten...Der junge Friedrich Wolf. S. 365.
27 ebd. S. 365.
28 Wolf, Friedrich: Gesammelte Werke. Dramen. Band 1. S. 79-80.
29 ebd. S. 79-80.
30 Wolf, Friedrich: Gesammelte Werke. Dramen. Band 1. S. 93.
31 Vgl. ebd. S. 51-52.
32 Pollatschek, Walther: Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs. Ein Spiegel der Geschichte des Volkes, Henschelverlag Berlin, 1958, S. 51.
33 Vgl. Jehser, Werner: Friedrich Wolf. Sein Leben und Werk. S. 22.
34 Vgl. Walzel, Oskar: Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod. 2. Auflage, Askanischer Verlag Berlin, 1920, S. 475.
35 ebd. S. 475.
36 Vgl. ebd. S. 476.
37 Pollatschek, Walther: Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs. S. 55.
38 Pollatschek, Walther: Friedrich Wolf. Eine Biographie. Aufbau-Verlag Berlin, 1963. S. 55.
39 Pollatschek, Walther: Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs. S. 55.
40 ebd. S.56.
41 ebd.S.56.
42 Vgl. ebd. S. 55.
43 Wolf, Friedrich: Gesammelte Werke. Dramen. Band 1. S. 104.
44 ebd. S. 79-80.
45 Kändler, Klaus: Drama und Klassenkampf. S. 298.
46 Wolf, Friedrich: Gesammelte Werke. Dramen. Band 1. S. 107.
47 ebd. S.107-108.
48 Vgl. Pollatschek, Walther: Friedrich Wolf. Eine Biographie. S.54.
49 Wolf, Friedrich: Gesammelte Werke. Dramen. Band 1. S. 110.
50 Vgl. Pollatschek, Walther: Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs. S. 56
51 Vgl. ebd. S. 56.
52 Wolf, Friedrich: Gesammelte Werke. Dramen. Band 1. S. 101.
53 Pollatschek, Walther: Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs. S. 56.
54 Vgl. ebd. S. 96.
55 Pollatschek, Walther: Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs. S.98.
56 Brief an Bertold Viertel 25. April 1948. In: Wolf, Friedrich: Briefe. S.174.
57 Pollatschek, Walther: Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs. S.315.
58 Pollatschek, Walther: Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs. S. 315.
59 ebd. S. 315.
60 ebd. S. 316.
61 Wolf, Emmi; Struzyk, Brigitte: Auf wie viel Pferden ich geritten … Der junge Friedrich Wolf. S. 220.
62 Vgl. Pollatschek, Walther: Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs. S.318-319.
63 Frankfurter Zeitung am 3. November 1919, eingesehen im Theatergeschichtlichen Institut in „Schloß Wahn“.
- Quote paper
- Sarah Kachel (Author), 2007, Friedrich Wolf - Sein Dramenwerk in der Weimarer Zeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91021
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