Die Gefahr, die meine Arbeit in sich trägt, besteht darin, dass sie den Anschein erwecken könnte, es solle dem Geschehen von Auschwitz ein ‚Sinn‘ gegeben werden. Dies ist jedoch ein großes Missverständnis. Je länger ich mich mit dem Thema "Gottesfinsternis - der innerjüdische Diskurs um die Shoa" auseinandergesetzt habe, desto klarer ist mir geworden, dass die Fragen, die die Shoa aufwirft, offengehalten werden müssen und die möglichen Antworten immer fragwürdig bleiben müssen. Wie der Rabbiner Emil Fackenheim formuliert „können [wir] den Holocaust nicht verstehen, sondern wir können nur seine Unverstehbarkeit verstehen“ . Das impliziert jedoch nicht, dass wir uns der Notwendigkeit der Erinnerung entziehen können. Ganz im Gegenteil: gerade weil es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird, ist es umso wichtiger, dass wir uns an diese schlimme Zeit erinnern, uns mit ihr auseinandersetzen und unseren Kindern davon erzählen, damit die Shoa niemals in Vergessenheit gerät.
Inhalt
1.Einleitung
2. Holocaust oder Shoa ? – Begriffserläuterungen
3. Die Shoa – Büchse der Pandora
4. Jüdische Religiosität unter den Bedingungen der Shoa
4.1 Der Alltag der religiösen Juden
4.2 Praktizierung der jüdischen Religion in den Konzentrationslagern
4.3 Religiöse Tendenzen während der Shoa
5. Auf welche Weise lässt sich die Shoa rechtfertigen? Ein traditioneller Versuch des orthodoxen Judentums
5.1 Mipnej Chata´enu – Unserer Sünden wegen
5.2 Kiddusch haSchem – Die Heiligung des Göttlichen Namens
5.3 Shoa und Halacha
6. Der innerjüdische Diskurs um die Shoa: Die jüdischen Holocaust-Theologen
6.1 Gott starb in Auschwitz – Richard Lowell Rubenstein
6.2 Das verborgene Antlitz Gottes – Eliezer Berkovits
6.3 Der dritte Churban – Ignaz Maybaum
6.4 Das Verbot, Hitler nachträglich siegen zu lassen – Emil Ludwig Fackenheim
6.5 Mysterium Tremendum – Arthur Allen Cohen
6.6 Augenblicke des Glaubens – Irving Greenberg
7. Religiöse Deutungen und ihre zentralen Themen
7.1 Die Frage nach der Einzigartigkeit
7.2 Die Shoa und der Staat Israel
7.3 Gottesfinsternis? – Die Frage nach Gott
8. Fazit – Gegenwärtige Vergangenheit
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Ist das ein Mensch?
Ihr, die ihr gesichert lebt
In behaglicher Wohnung;
Ihr, die ihr abends beim Heimkehren
Warme Speise findet und vertraute Gesichter:
Denket, ob dies ein Mann sei,
Der schuftet im Schlamm,
Der Frieden nicht kennt,
Der kämpft um ein halbes Brot,
Der stirbt auf ein Ja oder Nein.
Denket, ob dies eine Frau sei,
Die kein Haar mehr hat und keinen Namen,
Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat,
Leer die Augen und kalt ihr Schoß
Wie im Winter die Kröte.
Denket, daß solches gewesen.
Es sollen sein diese Worte in euren Herzen.
Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet
In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen,
Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht;
Ihr sollt sie einschärfen euren Kindern.
Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen,
Krankheit soll euch niederringen,
Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.
Primo Levi[1]
Mit diesem Gedicht beginnt der Schriftsteller Primo Levi seine Erinnerungen an das Leben im Konzentrationslager Auschwitz-Monowitz darzulegen. Jedes Mal, wenn ich dieses Gedicht lese bekomme ich von dem Fluch, mit dem das Gedicht endet, ein Stechen in der Magengegend. Denn ich bekenne mich schuldig, dass ich nicht zu den Menschen gehöre, die Tag und Nacht über die Unmenschlichkeit und über die Millionen von jüdischen Opfern während der Shoa nachdenken. Ich denke, dass Levi genau das mit seinen Worten erreichen will, dass wir Menschen uns schuldig fühlen. Wir sollen sein Gedicht als schwierige und bleibende Herausforderung ansehen, als Mahnung zum Gedenken an das, was war und als Aufforderung für die Würde des Menschen einzu-treten. In der vorliegenden Arbeit versuche ich, mich dieser Notwendigkeit der Erinnerung zu stellen.
Auslöser für die Beschäftigung mit dem innerjüdischen Diskurs um die Shoa war ein Gespräch mit meinem Theologieprofessor Dr. Klaus Ebert, der mich auf die Idee brachte, die Nazi-Ära doch einmal von jüdischer Seite aus zu betrachten, auf welche Weise die Betroffenen selbst den Holocaust beurteilen und bewerten. Mit dieser Themenwahl habe ich mich selbst vor eine große Herausforderung gestellt, da ich mich bis dato nur mit der deutschen bzw. christlichen Sichtweise des Dritten Reiches auseinandergesetzt hatte. Gerade das hat mich aber an dem Thema gereizt, dass ich vorher noch nie mit der jüdischen Sichtweise der Shoa konfrontiert wurde.
Ich beginne meine Arbeit mit einigen Begriffserläuterungen, die für das weitere Verständnis von grundlegender Bedeutung sind. Anschließend stelle ich in einem kurzen Zeitraffer vor, was den Juden in den Jahren 1933 bis 1945 widerfahren ist. Nach diesem allgemeinen und historischen Teil steht im vierten Kapitel die jüdische Religiosität unter den Bedingungen der Shoa im Mittelpunkt. In diesem Kapitel beschreibe ich den Alltag der religiösen Juden während des Holocaust und erläutere, auf welche Weise und in welchem Umfang die Juden ihre Religion in den Konzentrationslagern praktizieren konnten. Zusätzlich skizziere ich die religiösen Tendenzen, die sich zur Zeit der Shoa abgezeichnet haben. Denn nur vor diesen Hintergründen, so meine Überzeugung, lassen sich das Ausmaß und die Schwere der Herausforderung ermessen, die die Shoa für die religiös und geschichtlich bestimmte Identität des Juden darstellt.
Bevor ich mich in Kapitel 6 eingehend mit dem innerjüdischen Diskurs um die Shoa beschäftige, ist es für ein besseres Verständnis notwendig, zunächst eine Skizzierung der zwei wichtigsten traditionellen jüdischen Formen der Rechtfertigung und Interpretation des Leidens in und an der Geschichte vorzunehmen. Denn das jüdische Verständnis vom Martyrium – Kiddusch haSchem und die jüdische Sünde-Strafe-Theologie – Mipnej Chata´enu finden sich als Erklärungs- und Interpretationsmuster nicht nur in den Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern, sondern sie bilden ebenso den Hintergrund für die Deutungen nach Auschwitz, auch wenn sich die Deutungen eher von diesen Rechtfertigungsformen distanzieren. Danach stelle ich im Rahmen der Rechtfertigung von Leid noch den Zusammenhang von dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, und der Shoa dar.
Im Anschluss daran stelle ich die geschichtstheologischen Interpretationen der Shoa von den sechs ‚Holocaust-Theologen‘ Richard Lowell Rubenstein, Eliezer Berkovits, Ignaz Maybaum, Emil Ludwig Fackenheim, Arthur Allen Cohen und Irving Greenberg ausführlich vor. Alle Theologen versuchen, sich der Sinnlosigkeit des Ereignisses zu stellen, indem sie das Verhältnis von Geschichte und Religiosität im Judentum reflektieren und die Beziehung zur Shoa herstellen.
In Kapitel 7, Religiöse Deutungen und ihre zentralen Themen, nehme ich die Fäden von Kapitel 6 wieder auf und werde, nun in Kenntnis der jüdischen ‚Holocaust-Theologie‘, die Fragen nach der Einzigartigkeit, nach der Beziehung zwischen Shoa und dem Staat Israel und nach Gott behandeln.
Zum Abschluss meiner Arbeit ziehe ich ein Fazit und werde zu einigen Teilen Stellung nehmen. Außerdem gebe ich einen Einblick in die Bedeutung der Shoa für das 21. Jahrhundert.
Die Gefahr, die meine Arbeit in sich trägt, besteht darin, dass sie den Anschein erwecken könnte, es solle dem Geschehen von Auschwitz ein ‚Sinn‘ gegeben werden. Dies ist jedoch ein großes Missverständnis. Je länger ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt habe, desto klarer ist mir geworden, dass die Fragen, die die Shoa aufwirft, offengehalten werden müssen und die möglichen Antworten immer fragwürdig bleiben müssen. Wie der Rabbiner Emil Fackenheim formuliert „können [wir] den Holocaust nicht verstehen, sondern wir können nur seine Unverstehbarkeit verstehen“[2]. Das impliziert jedoch nicht, dass wir uns der Notwendigkeit der Erinnerung entziehen können. Ganz im Gegenteil: gerade weil es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird, ist es umso wichtiger, dass wir uns an diese schlimme Zeit erinnern, uns mit ihr auseinandersetzen und unseren Kindern davon erzählen, damit die Shoa niemals in Vergessenheit gerät.
2. Holocaust oder Shoa ? – Begriffserläuterungen
Neben den Geschichtswissenschaften werden auch die Geistes- und Sozial- wissenschaften hauptsächlich von ihren zentralen Termini bestimmt. Je präziser diese entwickelt werden und in der Wissenschaft ihre Verwendung finden, desto höher ist der Grad des wissenschaftlichen Arbeitens. In diesem Zusammenhang erscheint es merkwürdig, „daß einer der zentralen Begriffe der Zeitgeschichte (…) bis in die jüngste Zeit nahezu unhinterfragt [bleibt], selten reflektiert [wird] und einmütig Anwendung findet: Holocaust“[3]. Dieser Begriff gehört längst zur Allgemeinbildung und jeder kennt seine Bedeutung – „die ideologisch vorbereitete und fabrikmäßig durchgeführte Ausrottung von sechs Millionen Juden im nationalsozialistischen Machtbereich in den Jahren 1933-1945“[4] – auch ohne, dass dem Begriff Holocaust immer diese erläuternde Beschreibung folgt.
Das Wort Holocaust ist eine Transliteration des griechischen Substantivs holokau(s)tos und des dazugehörigen Adjektivs holókauston, das sich aus holos = ganz, vollständig und kau(s)tos = verbrannt zusammensetzt. Die wörtliche Übersetzung lautet also vollständig verbrannt bzw. Verbranntes. Auf den ersten Blick scheint es sinnvoll, die Verbrennung der Juden in den Krematorien des Dritten Reiches als Holocaust zu bezeichnen, „ruft doch dieser Terminus Erinnerungen wach an den Geruch brennender Leiber in den Brandöfen der Nazis“[5]. Die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes ist jedoch eine andere. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde unter dem Begriff Holocaust ein religiöses Opfer verstanden. In der griechischen Bibelübersetzung, der Septuaginta, wird dieser Begriff über 200-mal gebraucht, um ein Opfer für Gott, meistens ein Tieropfer, zu bezeichnen. Die lateinische Übersetzung der Septuaginta, die Vulgata, übernimmt den im Lateinischen unbekannten Begriff als holocaustum. Die Lutherbibel übersetzt den griechischen Wortlaut dagegen mit Ganz- bzw. Brandopfer. Dieser findet in Gen 22,2-13 seine erste und einzige Verwendung als unausgeführtes Menschenopfer:
„Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebest, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde. (…) Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen (…)“ (Gen. 22, 2; 12).
Im Jahr 1944 wird das griechische Wort Holocaust zum ersten Mal als Be-zeichnung für den nationalsozialistischen Massenmord benutzt. Bedenkt man jedoch die einstige religiöse Bedeutung des Begriffs, wird schnell deutlich, dass dieser nur unzureichend wiedergeben kann, was in den Jahren 1933-1945 den Juden passiert ist. Mehr noch:
„Wenn man (..) das Etikett Holocaust benutzt, dann impliziert man eine teilweise religiöse Korrespondenz zwischen Juden und Nazis: Wenn die ersteren das Brandopfer sind, dann folgt zwangsläufig, daß letztere diejenigen sind, die das Opfer offerieren. Im Ergebnis überträgt man damit den Nazis eine quasi priesterliche Rolle.“[6]
Gott empfängt in dieser Ordnung das Opfer und schenkt demjenigen, der das Opfer bringt, seine Sympathie. Hieraus lässt sich die Annahme ableiten, dass Gott und die Nazis Komplizen in der Opferung der Juden sind.
Trotz dieser Bewandtnis wird der Begriff Holocaust in der Geschichts- wie auch in der Sozialwissenschaft für den Genozid am jüdischen Volk gebraucht. Ausschlaggebend hierfür ist die Unwissenheit der wahren Bedeutung des Terminus Holocaust. Allerdings steht dieser Begriff seit ein paar Jahren unter Kritik, da die religiösen Konnotationen immer mehr ans Licht rücken.
Natürlich gibt es auch andere Bezeichnungen für die Ermordung der Juden. So sind z.B. permanenter Progrom, jüngste Katastrophe, jüdische Katastrophe, großes Desaster, Vernichtung, Auslöschung oder Massaker solche Bezeich-nungen und zugleich auch Übersetzungen für das hebräische Wort Shoa (auch: Sho’ah, Schoa, Schoah). Denn frei übersetzt bedeutet Shoa Zerstörung oder Katastrophe. Als Synonym für Shoa wird auch häufig der Begriff Holocaust benutzt. Im Jahr 1985 wird aufgrund des neunstündigen Dokumentarfilms ‚Shoah‘ von Claude Lanzmann, der auch als ‚narrative Chronik des Holocaust‘ bezeichnet wird, der Begriff Shoa in den westeuropäischen Sprachgebrauch eingeführt. Ein weiterer Grund für die verbreitete Verwendung des Begriffs ist die Annahme, dass Shoa im Gegensatz zu Holocaust frei von allen religiösen Konnotationen ist. Allerdings lautet die ursprüngliche Bedeutung von ‚האוש‘: Schrei nach Hilfe und steht für ein biblisches Unheil[7]: „(…) Und die Kinder Israel seufzten über ihre Knechtschaft und schrien, und ihr Schreien [ hashoah ] über ihre Knechtschaft kam vor Gott“ (Ex. 2, 23). Somit besitzt auch der scheinbar religiös unbelastete Begriff Shoa seine biblischen Ursprünge und damit einen deutlichen religiösen Kontext[8], wodurch die Bedeutungsverschie-bung des hebräischen Wortes zu einem Begriff, der die Judenvernichtung umfassen soll, problematisch ist.
Auch wenn der Begriff Shoa vielleicht etwas flexibler und unbefangen verwendbarer erscheint, um die Ermordung der Juden zu benennen, weil er in der hebräischen Alltagssprache an Religiosität verliert, so ist es doch der Terminus Holocaust, der in 90% der gesamten internationalen Literatur vorherrscht.[9]
Zusätzlich zu den beiden genannten Begriffen findet in orthodox-jüdischen Kreisen häufig das hebräische Wort churban seine Verwendung, zur Benennung des Massenmords am jüdischen Volk. Den Versuch von Arthur A. Cohen, einen neuen Begriff für diese Zeit zu prägen, nämlich den des Tremendum, werde ich in Kapitel 6.5 näher erläutern.
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird außerdem häufig der Terminus Auschwitz als Synonym für die rassistische Ausrottungspolitik der National-sozialisten gebraucht.
Insgesamt betrachtet gibt es jedoch in keiner Sprache der Welt einen unbelasteten, nur den Mord der Juden betreffenden Begriff. Jeder ernsthafte Schriftsteller, der sich mit dem Problem Holocaust bzw. Shoa auseinandersetzt, wird zu einer ähnlichen Sichtweise kommen, wie der jüdische Autor Primo Levi: „Uns wurde bewußt, daß unserer Sprache die Worte fehlen, um diese Beleidigung, diese Zerstörung des Menschen zu beschreiben.“[10] Christoph Münz nennt es die „Vergeblichkeit jeder Bemühung, das Unbenennbare zu benennen“[11].
Im weiteren Verlauf meiner Arbeit werde ich vorwiegend mit dem hebräischen Begriff Shoa arbeiten, da es mir aufgrund meines Themas ‚Innerjüdischer Diskurs um die Shoa‘ und aufgrund der vorangegangenen Erläuterungen als
sinnvoll erscheint. Verwende ich jedoch mal die Bezeichnungen Holocaust oder Auschwitz, sind diese als Synonym zum Ausdruck Shoa zu verstehen.
3. Die Shoa – Büchse der Pandora
Die Shoa stellt in der Geschichte menschlicher Gräueltaten ein einzigartiges, ohne Parallelen vorkommendes Ereignis dar. Für diese Einzigartigkeit gibt es zwei Gründe: Einmal die extrem hohe Anzahl von Opfern und Tätern und zum Anderen das erste Gesetz, welches erlaubt, eine Menschenmasse aus der Gesellschaft auszusondern, diese Menschen als wehrlose Masse zu entmensch-lichen und zu quälen, um sie dann der systematischen Vernichtung zuzuführen. Dieses Gesetz wird am 15. September 1935 einstimmig vom deutschen Reichstag als sogenanntes ‚Nürnberger Rassegesetz‘ verabschiedet. Wie der Name ‚Rassegesetz‘ schon verrät, ist die Grundlage dieser methodischen Aussonderung eine „pseudowissenschaftliche Rassenlehre, die auch nicht einigermaßen einer kritischen Prüfung standzuhalten vermag“[12]. Die öffent-lichen Demütigungen der Juden beginnen jedoch schon zu einem früheren Zeitpunkt. Nachdem Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt wurde, findet nur acht Wochen später, am 1. April 1933, der eintägige Boykott gegen jüdische Geschäfte, Cafés und Arztpraxen statt, bei dem diese mit antijudaistischen Parolen beschmiert werden. In den darauffolgenden Wochen folgt die erbarmungslose Isolation, Erniedrigung und Verfolgung von Juden. Dazu gehören u.a. der totale Ausschluss aus dem Beamtentum (‚Gesetz zur Wieder-herstellung des Berufsbeamtentums‘ am 7. April 1933), das Zulassungsverbot für jüdische Ärzte, die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933, der Ausschluss aus kulturellen Berufen und die Rassentrennung an den Schulen. Nach dem ‚Nürnberger Rassegesetz‘ geht die rassistische Erniedrigung der Juden weiter: Reisepässe werden mit einem großen roten ‚J‘ gekennzeichnet, Synagogen werden in der Nacht zum 10. November 1933 beschädigt und niedergebrannt, Juden werden aus ihren Wohnungen vertrieben.[13] Schließlich führen ver-schiedene Befehle von den obersten Organen des Staates zur Vernichtung von knapp sechs Millionen Juden. Ab September 1939 wird die Verfolgung der Juden radikal verstärkt. Diese erste Phase „vom Überfall auf Polen im September 1939 bis zum Sieg über Frankreich im Juni 1940 ist gekennzeichnet durch die fortgesetzte Emigration der deutschen Juden sowie durch die massenhafte Flucht bzw. Deportation von Juden aus den eingegliederten polnischen Gebieten“[14]. Letzteres findet seinen Grund in dem ‚Führererlass‘ vom 7. Oktober 1939, in dem die Vernichtung der polnischen Intelligenz angeordnet wird. Eine weitere Verschärfung der Vernichtungsstrategien ent-steht mit der zweiten Phase, in der durch die Ghettoisierung das Problem der Unterbringung und Versorgung immer größer wird. Hierdurch wird die Bereitschaft zum Töten angekurbelt und die Suche nach einer wirksamen Form der Vernichtung beginnt. Die Demütigungen und Verfolgungen der Juden finden ihren Höhepunkt im Jahr 1941. Hitler fällt den Entschluss, die Juden aus dem „gesamten Reichsgebiet möglichst noch im laufenden Jahr in die annektierten polnischen Gebiete und dann weiter nach Osten zu deportieren“[15]. Als Vorbereitung auf diese Deportationen werden die Juden mit gelben Sternen gekennzeichnet. Zusätzlich wird ihnen die Staatsangehörigkeit und ihr Ver-mögen entzogen sowie ein Verbot zur Auswanderung verhangen.
Im Januar 1942 auf der Wannsee-Konferenz wird dann die sog. ‚Endlösung der Judenfrage‘ beschlossen. Daraufhin beginnen ab März die mit Zyklon B durchgeführten Mordaktionen in den Vernichtungslagern von Auschwitz, Bel-zec, Chelmno, Majdanek, Sobibor und Treblinka. Rudolf Höß, Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, beschreibt den Tötungsvorgang nach dem Krieg folgendermaßen:
„Die Juden mußten sich bei dem Bunker ausziehen, es wurde ihnen gesagt, daß sie zur Entlausung in die so bezeichneten Räume gehen müßten. Alle Räume, es handelte sich um fünf, wurden gleichzeitig gefüllt, die gasdicht gemachten Türen zugeschraubt und der Inhalt der Gasbüchsen durch besondere Luken in die Räume geschüttet. Nach Ablauf einer halben Stunde wurden die Türen wieder geöffnet, in jedem Raum waren zwei Türen, die Toten herausgezogen und auf kleinen Feldbahnwagen auf einem Feldbahngleis nach den Gruben gefahren.“[16]
Erschreckend ist die Tatsache, dass nicht nur einzelne engstirnige Personen diese Maßnahmen umsetzen, sondern dass sich der nahezu gesamte deutsche
Staat in den Dienst dieser Wahnidee stellt. In vielen Fällen ist die Triebfeder nicht das Böse schlechthin, sondern der vermeintliche Zwang zum Gehorsam, der zum Morden führt.
4. Jüdische Religiosität unter den Bedingungen der Shoa
Beschäftigt man sich mit dem jüdischen religiösen Leben unter der Naziherrschaft ist man hauptsächlich auf die Erinnerungen von den Über-lebenden der Shoa angewiesen bzw. auf persönliche Dokumente von Häft-lingen, wie Tagebücher, Gedichte oder auch Zeichnungen, die den Holocaust ‚überlebt‘ haben. Zusätzlich kommen noch die Responsen (Antworten eines Rabbiners auf Fragen zum jüdischen Religionsgesetz), auf die ich im nächsten Kapitel näher eingehen werde, als Quellen in Betracht. Diese Quellen reichen aus, um wenigstens einen Einblick in das religiöse Leben der Juden, vor allem in den nationalsozialistischen Konzentrations-lagern, zu bekommen.
Einen solchen Einblick möchte ich im Folgenden geben, wobei ich damit beginne, Anmerkungen zu einigen wichtigen Elementen im Alltag der Juden zu machen, die im Verlauf der Shoa tiefgreifenden Veränderungen ausgesetzt sind. Anschließend gehe ich darauf ein, wie die Juden unter den gegebenen Umständen versuchen, ihre religiösen Rituale einzuhalten. Als Letztes be-schreibe ich kurz die religiösen Tendenzen, die sich während der Zeit der Shoa entwickeln.
4.1 Der Alltag der religiösen Juden
Die Rassenideologie der Nationalsozialisten definiert Juden als Rasse und nicht als Religion oder religiöse Gruppierung. Dies bedeutet jedoch keine Bedeutungsverminderung für die jüdische Religion. Ganz im Gegenteil: Die Nazis sehen in der jüdischen Religiosität „die konzentrierte Essenz des Jüdischen“[17], welche es zu bekämpfen und zu vernichten gilt. Somit kommt zu der Vernichtung der physischen Existenz der Juden die Zerstörung des symbolischen Judentums hinzu. Denn viele religiöse Symbole stehen in den Augen der Nazis für das Judentum, auch wenn sie von ihnen nicht als religiös definiert werden. So sind z.B. Synagogen, Rabbiner, Gebete, Feiertage oder auch die koschere Nahrung gravierenden Umgestaltungen unterworfen. Durch die Einhaltung dieser neuen religiösen Vorschriften treten Probleme auf, die den Alltag der gläubigen Juden stark einschränken.
Aufgrund ihres hohen Stellenwertes und ihrer symbolischen Funktion im Judentum sind die Synagogen häufig Ziel von nationalsozialistischen Ausschreitungen und Pogromen. Denn sie sind der Ort, an dem Juden zusammen kommen, um sich mit ihrer Religion zu identifizieren und um Informationen und Nachrichten auszutauschen. Das bekannteste Beispiel für die Zerstörung von Synagogen ist die ‚Reichskristallnacht‘ am 9. November 1938, in deren Verlauf hunderte von jüdischen Gotteshäusern zerstört werden.
In Folge des materiellen Notstandes und der geistigen Krise gewinnen die Rabbiner an Ansehen, da der Bedarf an Hilfe und Unterstützung stark ansteigt. Für die Deutschen sind die Rabbiner die Bewahrer und Erhalter des Judentums und die öffentlichen Leitfiguren der Gemeinden schlechthin.[18] Aufgrund dessen werden die Rabbiner nicht selten von den Nazis als ‚Spitzel‘ in ihren eigenen Gemeinden eingesetzt oder auch zunehmend gefoltert und verfolgt.
Während der Krisenzeit der Shoa beten die religiösen Juden häufiger als sonst, weil sie auf diesem Weg ihre Gefühle zum Ausdruck bringen können. Im Januar 1940 ergeht jedoch ein Verbot, welches den Juden untersagt, in der Öffentlichkeit zu beten. Wer sich nicht daran hält, wird verurteilt und bestraft. Ein Jahr später dürfen öffentliche Gebete immerhin wieder am Sabbat und an den Feiertagen abgehalten werden, allerdings nur an bestimmten Orten.[19] So z.B. in wenigen Synagogen, die besonders an den jüdischen Feiertagen Rosh Haschana (Neujahr) und Jom Kippur (Bußtag) bis auf den letzten Platz besetzt sind. An diesen Tagen identifizieren sich die Juden ganz besonders mit ihrer Religion. So wundert es nicht, dass die Nazis ausgerechnet an den Feiertagen viele ihrer Maßnahmen gegen die Juden durchführen, wie z.B. der jüdischen Führung am Jom Kippur 1941 mitgeteilt wird, dass alle deutschen Juden in wenigen Tagen deportiert werden.
Die Einhaltung der Grundregeln auf dem Gebiet der Kaschrut (koschere Nahrung) gestaltet sich als das komplizierteste Alltagsproblem für die gesetzestreuen Juden. Denn durch das Verbot der Nazis, ohne Betäubung zu schlachten und durch die schrumpfenden Lebensmittelvorräte sind die Juden gezwungen, nicht-koschere Nahrung zu sich zu nehmen. Bei denjenigen, die die Vorschriften der Kaschrut auch weiterhin erfüllen, verschlechtern sich die physischen Kräfte aufgrund der rapiden Gewichtsabnahme.
4.2 Praktizierung der jüdischen Religion in den Konzentrationslagern
Das nationalsozialistische Lagersystem besteht über einen längeren Zeitraum und umfasst Hunderte von verschiedenartigen Lagern in ganz Europa. In nahezu allen Lagern sind der Vollzug jüdischer Religiosität und der Besitz von Ritualgegenständen sowie religiösen Schriften streng verboten. Ausnahmen bilden die Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden und Malines in Belgien, das Austauschlager in Bergen-Belsen und einige Arbeitslager. Hier ist es den jüdischen Häftlingen erlaubt, den Sabbat und einige jüdische Festtage zu feiern. Diese Fälle von angeblicher ‚Nachsichtigkeit‘ seitens der Nazis lassen vermuten, dass sie versuchen wollen, die Juden zu verwirren, um weitere Deportationen reibungslos abwickeln zu können. In den übrigen Lagern ist von dieser ‚Nachsichtigkeit‘ nichts zu spüren. Dort können die Juden ihre Religion nicht nur schwer bewerkstelligen, sondern sind auch erheblichen Gefahren ausgesetzt, wenn sie versuchen, an ihrer jüdischen Identität festzuhalten. Besonders die Rabbiner unter den jüdischen Häftlingen werden schikaniert. Beispielsweise müssen sie an Tagen des Sabbats außerordentlich schwere Aufgaben erledigen oder es wird ihnen an jüdischen Fastentagen eine zusätzliche Essensration zugeteilt. Filip Müller, Überlebender des Konzentra-tionslagers Auschwitz, berichtet, dass das
„Hohngelächter der SS-Schergen [immer] ertönte, wenn Häftlinge des Sonderkommandos unter ihrer Aufsicht in einem der Öfen im Krematorium III Gebetbücher und religiöse Schriften, aber auch andere Bücher verbrennen mußten, die von den Nazis als entartet angesehen wurden“[20].
Trotz dieser ganzen Erniedrigungen versuchen die gläubigen Juden so gut wie es geht, ihre orthodox-jüdische Lebensführung aufrecht zu erhalten. Werner Weinberg, Überlebender des KZ Bergen-Belsen, beschreibt die damit zusammenhängenden Probleme und Möglichkeiten so:
„In dem Augenblick, in dem orthodoxe Juden ihren Fuß ins Lager setzten, mußten sie sofort die meisten religiösen Gesetze und Gebote aufgeben. Sie wurden gezwungen, am Sabbat und an den Feiertagen zu arbeiten, sie konnten die Speisegesetze nicht einhalten, waren nicht in der Lage, die Gebete zur vorgeschriebenen Zeit zu verrichten, und es war ihnen unmöglich, die meisten Mitzwot [religiöse Pflichten], deren Ausübung ihnen wichtig wie das Leben selbst war, zu erfüllen. Hier erhebt sich eine quantitative Frage. Wenn es die Umstände einem frommen Juden unmöglich machten, 90% einer Mitzwah einzuhalten, hatte es da noch einen Sinn die restlichen 10% zu befolgen? Z.B. sollte man die vielen ins Einzelne gehenden Vorschriften für den Sabbat nach den Stunden der Zwangsarbeit noch halten und lag Verdienst darin, wenn man die allerunkoschersten Bestandteile aus der täglichen Suppenration entfernte? Sollte man vielleicht am Versöhnungstag fasten und am Pesach kein Brot essen? (…) Es gab aber auch Mitzwot, die der fromme Jude sogar im Lager erfüllen konnte. Er konnte seinen Kopf bedeckt lassen, es sei denn, er mußte die Kappe vor einem SS-Mann ziehen; jeder konnte bei den gebotenen Gelegenheiten die entsprechenden Segenswünsche murmeln, und das Lagerleben an sich sorgte schon dafür, daß Männer und Frauen die sexuellen Einschränkungen nicht übertraten.“[21]
Das religiöse Alltagsleben in den Konzentrationslagern wird hauptsächlich durch drei Voraussetzungen geprägt: Erstens von dem totalen Ausgeliefertsein an die SS, die den Tagesablauf der Häftlinge bestimmt, zweitens von dem Mangel an religiösen Gegenständen, wie Tefillin (Gebetsriemen), Gebets-bücher, Matzen (ungesäuertes Brot), Kerzen für den Sabbat etc. und drittens von der Angst, bei religiösen Handlungen entdeckt zu werden. Je nach Funktion und Struktur des Lagers, der Dauer der bisherigen Lagerhaft und des Charakters des Lagerkommandanten können diese Voraussetzungen von Lager zu Lager variieren. Es steht jedoch fest, dass unter diesen Umständen das regelmäßige Einhalten der jüdischen Rituale unmöglich ist. Es müssen die Gelegenheiten genutzt werden, die sich gerade bieten.
Eine Möglichkeit, die des Öfteren genutzt wird, ist das ‚Mitnehmen‘ von Gebetsriemen und -büchern. Hierbei gelingt es orthodoxen Mitgliedern der Sonderkommandos, die den Besitz der zuvor Ermordeten sortieren, solche religiösen Gegenstände vor der SS zu retten und selbst zu nutzen.[22] Den Mangel an religiösen Texten gleichen fromme Juden dadurch aus, dass sie sämtliche Gebetstexte und Passagen aus der Bibel und dem Talmud auswendig kennen. Eliezer Berkovits nennt diesen Vorgang ‚Oral Thora‘[23] (mündliche Thora), bei dem diese frommen Juden ihren Mithäftlingen die Thora wieder zugänglich machen.
[...]
[1] Levi (1991): 9.
[2] Fackenheim zitiert nach: Münz (1996): 79.
[3] Münz (1996): 100.
[4] Vgl. Schoeps (1992): 201.
[5] Garber/Zuckerman zitiert nach: Münz (1996): 101.
[6] Ebd., 103.
[7] Vgl. Bendel (2005).
[8] Vgl. Münz (1996): 107.
[9] Ebd., 109.
[10] Levi zitiert nach: Schoeps (1992): 201.
[11] Münz (1996): 110.
[12] Landesmann (1989): 189.
[13] Vgl. Gilbert (2000): 32-37, Mellenthin: Chronologie des Holocaust.
[14] Thamer (2000): 57.
[15] Ebd., 58.
[16] Ebd., 59.
[17] Rahe (1993): 90.
[18] Vgl. Michman (2002): 208.
[19] Ebd., 192f.
[20] Müller (1979): 105.
[21] Weinberg (1988): 163f.
[22] Vgl. Müller (1979): 56.
[23] Vgl. Berkovits (1979): 8.
- Quote paper
- Vanessa Becker (Author), 2008, Gottesfinsternis - Der innerjüdische Diskurs um die Shoa, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90785
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