Ein im Zusammenhang mit der Vertiefung der Europäischen Union häufig genanntes Problem ist das des Demokratiedefizits. In der Tat dürfte außer Frage stehen, dass im Verlauf der letzten Jahrzehnte der Rat der Europäischen Union bzw. der Europäische Rat zunehmend Machtbefugnisse im Bereich der Legislative akkumuliert hat, die damit umgekehrt den nationalen Parlamenten entzogen wurden (Maurer 2002a: 37). Zwar wurden gleichzeitig auch die Befugnisse des Europäischen Parlaments erheblich ausgeweitet, jedoch keineswegs so stark, dass es den Verlust an demokratischer Legitimation kompensieren könnte, der durch den Bedeutungsverlust der nationalen Parlamente entstand (Maurer 2002a: 368). Neben den offensichtlichen Handlungsoptionen wie einer Rückverlagerung von Politikfeldern von EU-Ebene auf
nationale Ebene oder einer weiteren massiven Aufwertung des Europäischen Parlaments gibt es grundsätzlich auch die Möglichkeit, dass die nationalen Parlamente ihren Bedeutungsverlust in legislativer Hinsicht durch eine Verstärkung ihrer Kontrollfunktion gegenüber ihrer jeweiligen Regierung kompensieren (Maurer 2002a: 214). Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, sich der Frage zuzuwenden, wie es den Parlamenten der nordischen EU-Mitglieder, nämlich Schweden, Finnland und Dänemark, gelungen ist, durch entsprechende Ausweitung ihrer Kontrollfunktion gegenüber ihren Regierungen, ein demokratisches Defizit zu vermeiden oder doch zumindest vergleichsweise gering zu halten. Die folgende Arbeit wird zeigen, dass es den Parlamenten dieser drei Mitgliedsstaaten gelungen ist, erheblichen Einfluss auf Entscheidungsprozesse der Europäischen Union zu erreichen und zu erhalten. Nach einer Darstellung dieser starken Stellung werden die Gründe hierfür erörtert und schließlich ein Vergleich zwischen den untersuchten drei nordischen Parlamenten
gezogen. Obwohl die anderen beiden nordischen Staaten, Norwegen und Island, keine Mitglieder der
europäischen Union sind, wäre es durchaus naheliegend, diese in die vorliegende Arbeit mit
einzubeziehen, da beide Länder Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums sind. Norwegen
ist darüber hinaus auch dem Schengener Abkommen beigetreten und ist faktisch assoziiertes
Mitglied der GASP (Claes 2004: 264). Aus diesem Grund muss etwa Norwegen etwa 95%
des europäischen acquis communautaire übernehmen (Sverdrup 2004: 26). Zweifellos ist
daher auch Norwegen, und in geringerem Maße Island, vom Prozess der der Europäisierung
betroffen.
Gliederung
1 Einleitung
2 Darstellung der starken Stellung der nordischen Parlamente in EU-Angelegenheiten
2.1 Dänemark als Vorreiter und Vorbild
2.2 Antizipation als wesentliches Prinzip des nordischen Verfahrens
2.3 Transparenz
3 Gründe für die starke Stellung der nordischen Parlamente gegenüber ihrer Regierung
3.1 Minderheitsregierungen als Grundlage für starke Parlamente
3.2 Konsenskultur
3.3 Informationspolitik der Regierungen
3.4 Zugriff auf regierungsunabhängige Informationsquellen
3.5 Personelle Besetzung der EU-Ausschüsse
3.6 Hohe Arbeitsleistung der EU-Ausschüsse
3.7 Einbeziehung der Interessengruppen
3.8 Skepsis der Bevölkerung gegenüber der Europäischen Integration
4 Unterschiede zwischen den nordischen Parlamenten in Hinsicht auf ihre Mitwirkung bei europäischen Entscheidungsprozessen
4.1 Stellung der Ausschüsse im System
4.2 Verbindlichkeit und Flexibilität der Mandate
5 Probleme bei der parlamentarischen Kontrolle
5.1 Arbeitsüberlastung der Parlamentarier
5.2 Grenzen der Kontrollmöglichkeit durch das Parlament
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Ein im Zusammenhang mit der Vertiefung der Europäischen Union häufig genanntes Problem ist das des Demokratiedefizits. In der Tat dürfte außer Frage stehen, dass im Verlauf der letzten Jahrzehnte der Rat der Europäischen Union bzw. der Europäische Rat zunehmend Machtbefugnisse im Bereich der Legislative akkumuliert hat, die damit umgekehrt den nationalen Parlamenten entzogen wurden (Maurer 2002a: 37). Zwar wurden gleichzeitig auch die Befugnisse des Europäischen Parlaments erheblich ausgeweitet, jedoch keineswegs so stark, dass es den Verlust an demokratischer Legitimation kompensieren könnte, der durch den Bedeutungsverlust der nationalen Parlamente entstand (Maurer 2002a: 368). Neben den offensichtlichen Handlungsoptionen wie einer Rückverlagerung von Politikfeldern von EU-Ebene auf nationale Ebene oder einer weiteren massiven Aufwertung des Europäischen Parlaments gibt es grundsätzlich auch die Möglichkeit, dass die nationalen Parlamente ihren Bedeutungsverlust in legislativer Hinsicht durch eine Verstärkung ihrer Kontrollfunktion gegenüber ihrer jeweiligen Regierung kompensieren (Maurer 2002a: 214). Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, sich der Frage zuzuwenden, wie es den Parlamenten der nordischen EU-Mitglieder, nämlich Schweden, Finnland und Dänemark, gelungen ist, durch entsprechende Ausweitung ihrer Kontrollfunktion gegenüber ihren Regierungen, ein demokratisches Defizit zu vermeiden oder doch zumindest vergleichsweise gering zu halten. Die folgende Arbeit wird zeigen, dass es den Parlamenten dieser drei Mitgliedsstaaten gelungen ist, erheblichen Einfluss auf Entscheidungsprozesse der Europäischen Union zu erreichen und zu erhalten. Nach einer Darstellung dieser starken Stellung werden die Gründe hierfür erörtert und schließlich ein Vergleich zwischen den untersuchten drei nordischen Parlamenten gezogen.
Obwohl die anderen beiden nordischen Staaten, Norwegen und Island, keine Mitglieder der europäischen Union sind, wäre es durchaus naheliegend, diese in die vorliegende Arbeit mit einzubeziehen, da beide Länder Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums sind. Norwegen ist darüber hinaus auch dem Schengener Abkommen beigetreten und ist faktisch assoziiertes Mitglied der GASP (Claes 2004: 264). Aus diesem Grund muss etwa Norwegen etwa 95% des europäischen acquis communautaire übernehmen (Sverdrup 2004: 26). Zweifellos ist daher auch Norwegen, und in geringerem Maße Island, vom Prozess der der Europäisierung betroffen. Dennoch ist eine Vergleichbarkeit zwischen Norwegen und Island einerseits und den drei nordischen Mitgliedsstaaten andererseits kaum gegeben. Denn während Vollmitglieder im Gesetzgebungsprozess auf europäischer Ebene mitentscheiden, haben die Länder die lediglich Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums sind, letztlich kaum eine realistische Chance, nennenswerten Einfluss auf die Entscheidungsprozesse der EU zu nehmen. Die Möglichkeit EU-Vorschriften im EWR-Rat abzulehnen ist eher als hypothetisch anzusehen. Tatsächlich hat die norwegische Regierung kaum eine andere Option als die Neuerungen des Acquis Communautaire, die ihr jeden Monat bei entsprechenden Treffen auf Beamtenebene weitergegeben werden, umzusetzen (Sverdrup 1998: 154). Da der norwegischen Regierung dabei selbst kaum Handlungsspielraum bleibt, ist es dem norwegischen Parlament auch entsprechend nicht möglich, den durchaus vorhandenen Verlust an legislativen Kompetenzen durch Ausweitung der Kontrolle ihrer Regierung auszugleichen. Wenig verwunderlich ist daher auch, dass zwar auf Regierungsebene ein EU-Ausschuss gegründet wurde (Sverdrup: 1998: 158) – das Storting bisher jedoch darauf verzichtet hat einen eigenen EU-Ausschuss ins Leben zu rufen. Stattdessen wurde lediglich eine Kommission eingerichtet, die aus den Mitgliedern des Außenausschusses und den 6 Vertretern Norwegens in der Gemeinsamen Parlamentskommission von Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten der EWR-Mitgliedsstaaten besteht. Diese Kommission wird zwar von der Regierung vor Sitzungen des EWR-Rats konsultiert, kann jedoch keinerlei bindende Empfehlungen aussprechen (Myhre-Jensen/Floistad 1997: 110f). Das isländische Althingi hat völlig auf die Errichtung eines zusätzlichen parlamentarischen EU-Gremiums verzichtet (Bogason 1997: 119). Aus diesem Grund wird auf eine umfassende Einbeziehung Norwegens und Islands in diese Arbeit verzichtet.
2 Darstellung der starken Stellung der nordischen Parlamente in EU-Angelegenheiten
2.1 Dänemark als Vorreiter und Vorbild
Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Staaten gelingt es den Parlamenten Dänemarks, Schwedens und Finnlands erheblichen Einfluss auf die Verhandlungspositionen ihrer jeweiligen Regierung auszuüben. So verfügen alle drei Parlamente über einen eigenen EU-Ausschuss, der nicht nur über außerordentlich weitgehende Auskunfts- und Informationsrechte gegenüber der Regierung verfügt, sondern auch vor jeder Ministerratssitzung von den betroffenen Ministern konsultiert werden muss. Diese Ausschüsse, die am Freitag vor der Ministerratssitzung am Montag zusammentreten, haben die Möglichkeit, Verhandlungspositionen der Minister zu bestätigen oder auch zu überstimmen bzw. zumindest maßgeblich zu beeinflussen. Vorreiter für diese Mandatierung als Grundprinzip der nordischen EU-Ausschüsse war der dänische EU-Ausschuss (bis 1994 Marktausschuss). Dieser, mit dem EU-Beitritt Dänemarks, 1973 gegründete Ausschuss nahm, aufgrund seiner weitreichenden Kompetenzen, insbesondere seines Rechts, Minister mit einem expliziten Verhandlungsmandat auszustatten, unter den bis dahin fünf existierenden nationalen EU-Ausschüssen in Belgien, Italien, Niederlande und Deutschland (Bundestag und Bundesrat) (Maurer 2002a: 316), eine absolute Sonderstellung ein. Obwohl die Arbeitsüberlastung des Ausschusses auch aufgrund der zunehmenden Komplexität der europäischen Rechtssetzung stark zugenommen hat, ist das dänische Folketing zweifellos noch immer das nationale Parlament mit dem größten Einfluss auf seine Regierung (Christiansen/Togeby 2006: 9). Von grundlegender Bedeutung ist dabei, dass die dänische Regierung den EU-Ausschuss umfassend und frühzeitig über alle europäischen Projekte und Kommissionsvorschläge informieren muss. Auch können die Abgeordneten jederzeit schriftlich Auskunft zu allen die EU betreffenden Fragen verlangen. Am Freitagmorgen vor der Ministerratssitzung informieren die zuständigen Minister dann den Ausschuss über ihre Verhandlungsposition. Soweit sich im Ausschuss keine Mehrheit dagegen findet ist diese Position genehmigt – andernfalls muss die Position entsprechend geändert werden. Die dort ausgehandelten Standpunkte sind dann verbindliche Verhandlungsmandate für die Minister (Maurer 2002a: 259f). Sowohl der schwedische Reichstag als auch die finnische Eduskunta haben sich nach ihrem EU-Beitritt 1994 am dänischen Vorbild orientiert (Maurer 2002a: 270ff). Obwohl diese Parlamente nicht ganz die Bedeutung des dänischen Folketings erreicht haben, wird auch ihnen ein vergleichsweise großer Einfluss auf die nationalen Verhandlungspositionen zuerkannt.
2.2 Antizipation als wesentliches Prinzip des nordischen Verfahrens
Vollständige und rechtzeitige Information sind unabdingbare Voraussetzungen, damit ein Parlament bzw. sein Europaausschuss nennenswerten Einfluss auf die EU-Politik nehmen kann. Der große Einfluss der nordischen Parlamente auf den EU-Entscheidungsprozess ergibt sich so auch nur zu einem geringen Teil daraus, dass sie Verhandlungspositionen der Regierung in der, den Ministerrat vorgeschalteten Anhörungen, explizit verwerfen. Bedeutsam ist vielmehr, dass möglicher Widerstand des Parlaments aufgrund der Möglichkeit einer Ablehnung durch selbiges von der Regierung bzw. ihren Beamten antizipiert wird (vgl. Zier 2005: 293). So kalkulieren beteiligte Referenten und Beamte schon bei Erstellung von Positionspapieren für die EU-Kommission oder eben den EU-Ausschuss die voraussichtliche Auffassung der EU-Ausschüsse mit ein (Laursen 2001: 107). Grundsätzlich gilt, dass der Einfluss der EU-Ausschüsse umso größer ist, je früher er zu einem bestimmten Projekt tätig werden kann. So kommt es in Dänemark nur extrem selten zu Konflikten bei der Mandatierungssitzung selbst. Zwar werden Mandate häufig umformuliert aber liegt erst einmal eine Verhandlungsposition der Regierung vor, so wird diese nur in knapp 10% der Fälle wesentlich verändert (Laursen 2001: 106). Eine direkte Ablehnung einer Position im Ausschuss kommt indes fast nur bei neuen Ministern vor. In 9 von 10 Fällen gäbe es dagegen eine breite Mehrheit der vier europafreundlichen großen Parteien (Sozialdemokraten, Sozialliberale, Liberale und Konservative) (Zier 2005: 294). In den bei weitem meisten Fällen gelingt es den dänischen Ministern bzw. ihren Referenten jedoch, vorab eine informelle Einigung herbeizuführen (Dosenrode 1998: 54).
2.3 Transparenz
Alle EU-Ausschüsse bemühen sich um größtmögliche Transparenz in ihren Entscheidungen. In Dänemark gibt die Regierung ihre Verhandlungsposition dem Ausschuss nur mündlich bekannt, um keinen Nachteil bei EU-Verhandlungen zu haben (Zier 2005: 277). In Schweden und Finnland ist die Position der Regierung meist bereits durch die Memoranden zu den relevanten EU-Vorlagen bekannt. Die Sitzungen, bei denen Mandate vergeben werden, sind allesamt nichtöffentlich (Maurer 2002a: 272; Maurer 2002a: 259f; Raunio 2001: 180). Sowohl die Protokolle der dänischen und schwedischen EU-Ausschüsse, als auch die des finnischen Großen Ausschuss werden grundsätzlich veröffentlicht – allerdings haben die jeweiligen Regierungen stets die Möglichkeit, Vertraulichkeit zu verlangen. Darüber hinaus gibt es in Schweden eine Wartefrist von zwei Wochen bis zur Veröffentlichung (Maurer 2002a: 322f). Als grundsätzliches Problem lässt sich feststellen, dass es einen Zielkonflikt zwischen möglichst großer Einflussnahme, die idealerweise nichtöffentlich stattfindet, und der Transparenz der durch das Parlament ausgeübten Kontrolle gibt (Zier 2005: 359).
3 Gründe für die starke Stellung der nordischen Parlamente gegenüber ihrer Regierung
3.1 Minderheitsregierungen als Grundlage für starke Parlamente
Sucht man nach Gründen für die im europäischen Vergleich außerordentlich starke Stellung der nordischen Parlamente, so ist natürlich zum einen festzuhalten, dass sowohl Dänemark als auch Schweden über ein parlamentarisches Regierungssystem verfügen, in dem die für die Außenpolitik zuständige Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängt. In Finnland gibt es zwar die Institution des vom Parlament weitgehend unabhängigen Staatspräsidenten, der durchaus Kompetenzen in der Außenpolitik beansprucht, die Tendenz scheint jedoch auch dort dahin zu gehen, dass der Premierminister die Federführung in der Europapolitik an sich nimmt. Als Indiz dafür lässt sich etwa werten, dass der finnische Premier Vorsitzender des EU-Ausschusses auf Regierungsebene ist (Auffermann 2003: 199). In Dänemark und Schweden wird der Einfluss des Parlaments auf die Regierung noch verstärkt durch das häufige Auftreten von Minderheitsregierungen (vgl. Bergman 1997: 381). Minderheitsregierungen führen tendenziell dazu, dass der klassische Dualismus zwischen Regierung und der Mehrheit der regierenden Parteien im Parlament einerseits und der Opposition andererseits aufbricht und stattdessen ein Dualismus zwischen Regierung und Parlament entsteht. So sind etwa die dänischen Parlamentarier gegebenenfalls auch eher bereit Minister der eigenen Partei zu sanktionieren wenn sie versuchen, sich der parlamentarischen Kontrolle zu entziehen (Zier 2005: 69). Dass etwa der dänische EU-Ausschuss ernst genommen wird, lässt sich auch daran ablesen, dass er binnen zwei Jahren (Oktober 1999 – Oktober 2001) 337 Ministerbesuche zu verzeichnen hatte. Der EU-Ausschuss des Deutschen Bundestags kam in den Jahren 1999 und 2000 gerade einmal auf 19 (Zier 2005: 252). Zudem sind in Dänemark bei jeder Sitzung ein Beamter des Premierministers und des Außenministers anwesend (Laursen 2001: 103). Aber auch in Schweden und Finnland ist es üblich, dass der Minister persönlich kommt, meist in Begleitung eines hohen Beamten (vgl. Hegeland 2001: 384). In Dänemark und Schweden ist das Prinzip des negativen Parlamentarismus der Minderheitsregierungen begünstigt, also durchaus als wichtige Voraussetzung für die starke Position der Parlamente zu werten. Kaum Minderheitsregierungen finden sich dagegen in Finnland – hier scheinen demnach andere Gründe entscheidend zu sein.
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- Quote paper
- Martin Lochner (Author), 2006, Vergleich des Einflusses der Parlamente der nordischen EU-Mitgliedsstaaten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90292
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