Die Arbeit spürt der Entstehung der nationalsozialistischen Ideologie in den Diskursen der so genannten "völkischen Bewegung" im zweiten deutschen Kaiserreich nach, wobei insbesondere das diffuse Konglomerat sozialdarwinistischer, antisemitischer, rassistischer und nationalromantischer Diskurse sowie die vielfältigen Organisationsformen der "völkischen Bewegung" detailliert untersucht werden.
Im Mittelpunkt stehen diejenigen Organisationen und Strömungen, , in denen die politischen Ziele der völkischen Bewegung eine Überhöhung ins Transzendente erfahren - sei es als "arteigene" Interpretation des Christentums, als Germanenkult oder als esoterische Ariosophie. Die grundlegende These der Arbeit besteht darin, dass das antimoderne Denken, dass auf zahlreichen Wegen zum Gemeingut des deutschen Bürgertums im Kaiserreich wurde, bereits lange vor dem Aufstieg der Nationalsozialisten grundlegende Elemente ihrer Ideologie verfügbar und populär gemacht hatte, so dass der Nationalsozialismus bei seinem Aufstieg zur Macht in der Weimarer Republik auf bereits bestehende Diskurse zurückgreifen konnte, bzw. selbst genealogisch auf diese zurückzuführen ist.
Zugleich wendet sich die Arbeit jedoch auch gegen die These eines "Rückfalls" der völkischen Ideologie hinter die Moderne und verweist statt dessen auf den genuin modernen Charakter der antimodernen Diskurse als dialektischer Teil der Moderne im 19. Jahrhundert.
Dabei greift der Verfasser auf eine umfangreiche und aktuelle Literatur zurück.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Völkische Bewegung und ihre Ideologie
2.1. Völkischer Nationalismus
2.2. Vordenker der Völkischen Bewegung
2.3. Organisationen
a) Alldeutscher Verband
b) Antisemitische Parteien
c) Reichshammerbund
3. Völkische Religiosität
3.1. Quellen der Völkischen Religiosität
3.2. Völkisch-religiöse Gruppen
a) Germanengläubige Gruppen
b) Germanenorden
c) Lanz von Liebenfels und die Neutempler
d) Rudolf von Sebottendorf und die Thule-Gesellschaft
4. Fazit
5. Verzeichnis der verwendeten Literatur
1. Einleitung
Einleitend erscheint es mir sinnvoll, einige der zentralen Termini der vorliegenden Arbeit, insbesondere die bereits im Titel eingeführten Begriffe „Völkische Religiosität“ und „Antimodernismus“, näher zu umreißen. Auf die Begriffe „völkisch“ und „Völkische Bewegung“, die ebenfalls einer näheren Erläuterung bedürfen, werde ich im Kapitel 2 näher eingehen.
Der Begriff der „Völkischen Religiosität“ stellt im Rahmen dieser Arbeit eine Sammelbezeichnung für die unterschiedlichen metaphysischen Vorstellungen dar, die innerhalb der Völkischen Bewegung während des Kaiserreichs entwickelt und vertreten wurden. Allen diesen Ansätzen ist ihre enge Verbindung mit den politischen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Zielen der Völkischen Bewegung gemein; dennoch umfasst der hier verwendete Sammelbegriff bestimmte völkische Ausprägungen des christlichen Glaubens ebenso wie neuheidnischer Germanenglaube und verschiedene okkultistische und theosophische Strömungen.
Der Begriff „Antimodernismus“ beschreibt die unterschiedlichen Ausprägungen eines explizit gegen die „Moderne“ (Hier: Die Gesamtheit der weitreichenden sozialen, politischen, philosophischen, wissenschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Umwälzungen der westlichen Gesellschaften, die insbesondere ab dem späten 18. Jahrhundert, eng verbunden mit der philosophischen Aufklärung, der Französischen Revolution und der Industrialisierung, zu einer Revolutionierung aller traditionellen Lebensweisen führten.) gerichteten Denkens und Handelns, mit dem Ziel einer Rückgängigmachung der Umwälzungen der Moderne zugunsten eines konstruierten und idealisierten vormodernen Urzustandes. Der Antimodernismus ist durch seine Bezüge auf vermeintlich „natürliche“ und ursprüngliche Lebensweisen gekennzeichnet, die seine Vertreter nicht zuletzt im ländlichen Leben des Mittelalters zu erkennen glaubten. Antimodernes Denken ist nicht mit vormodernem Denken zu verwechseln – trotz der entschiedenen Ablehnung der Moderne ist das antimoderne Denken stets grundsätzlich modernen Strukturen verhaftet geblieben und
kann daher trotz seines Selbstverständnisses als Gegenbewegung eher als dialektischer Teil der Moderne angesehen werden.[1]
Dieser Arbeit liegt dabei die Hypothese zugrunde, dass die Religiosität der Völkischen Bewegung weder ihrer Funktion noch ihrer Form nach als authentische Religion begriffen werden kann, sondern als politisches Phänomen angesehen werden muss: Als Überhöhung eines völkisch-nationalistischen Antimodernismus bis in die Kategorien des Religiösen hinein.
Zahlreiche Historiker, darunter Mosse, Goodrick-Clarke und Auerbach, haben dargestellt, dass die Völkische Bewegung als unmittelbare ideologische Vorbereitung des Nationalsozialismus anzusehen ist und alle wesentlichen Merkmale der Ideologie des Dritten Reiches bereits in der Völkischen Bewegung angelegt waren. Obwohl ich dieser Einschätzung grundsätzlich zustimme, möchte ich in der vorliegenden Arbeit die völkische Herkunft des Nationalsozialismus weitgehend ausblenden und mich stattdessen einer Betrachtung der Völkischen Bewegung und ihrer Religiosität als eigenständigen Aspekten antimodernen Denkens widmen. Neben der Beschränkung des Umfangs dieser Arbeit stellt auch dies einen Grund für die Eingrenzung des Zeitraums auf die Jahre vor 1919 und damit auf die Zeit vor der der Gründung der NSDAP dar. Dennoch bildet die spätere Entwicklung völkischen Denkens einen Anlaß für die Auseinandersetzung mit der Thematik: Auch wenn viele der in dieser Arbeit dargestellten Organisationen und die sich in ihnen manifestierenden Weltanschauungen als weltfremd oder abstrus (in Extremfällen – wie beispielsweise bei Jörg Lanz von Liebenfels – sogar tendenziell psychopathologisch) erscheinen mögen, darf nicht übersehen werden, dass genau diese Vorstellungen und Akteure den Boden bereitet haben für den Nationalsozialismus, das Dritte Reich und seine Verbrechen. Gleichzeitig sei darauf hingewiesen, dass Spuren völkischen Denkens, wenn auch meist abgeschwächt, auch in der Gegenwart noch vorhanden sind und sich bisweilen erschreckender Popularität erfreuen. Dies gilt in besonderem Maße für den innerhalb der Völkischen Bewegung entstandenen modernen Antisemitismus, der anscheinend nicht von seiner Virulenz eingebüßt und sich zudem als der wahrscheinlich erfolgreichste kulturelle Export Europas in die arabische Welt erwiesen hat.[2]
2. Die Völkische Bewegung und ihre Ideologie
Bevor auf die verschiedenen Formen des religiösen Denkens innerhalb der Völkischen Bewegung eingegangen werden wird, sollen an dieser Stelle die Umrisse und die Entwicklung der Völkischen Bewegung in den Jahren von der Reichsgründung 1871 bis zur unmittelbaren Nachkriegszeit 1919 skizziert werden. Dabei möchte ich zuerst auf die geistesgeschichtlichen Grundlagen und die wichtigsten Vertreter eingehen, anschließend auf die wichtigsten Organisationen und Organisatoren der Völkischen Bewegung bis zur unmittelbaren Nachkriegszeit 1919. Die Darstellung der Völkischen Bewegung in dieser Arbeit erfolgt mit dem Ziel, einen Rahmen für die anschließende Darstellung der völkischen Religiosität zu schaffen und kann und will daher nicht alle Facetten der Bewegung abdecken. Daher sei an dieser Stelle auf das von Puschner/Schmitz/Ulbricht 1996 herausgegebene Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871 – 1918 verwiesen, das die wahrscheinlich umfassendste Darstellung leistet.
Der Begriff „völkisch“ kam zuerst in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der deutschnationalen Bewegung Österreichs in Umlauf.[3] Die politische Situation Österreich-Ungarns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war geprägt durch den Ausschluss aus dem Deutschen Bund 1866 und die Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 unter preußischer Führung und ohne Beteiligung der Donaumonarchie. Aufgrund der allmählichen Demokratisierung des Staates und der damit einhergehenden Emanzipation der verschiedenen Nationalitäten fürchteten zahlreiche Deutsch-Österreicher um den Primat der deutschen Kultur und Sprache in Österreich. Vor diesem Hintergrund ist auch das Entstehen eines deutschen, völkisch-kulturellen Nationalismus und der alldeutschen Bewegung in Österreich, die sich den Anschluss der deutsch dominierten Gebiete Österreichs an das Deutsche Reich zum Ziel nahm, zu betrachten.[4] Insbesondere die österreichischen Alldeutschen um Georg Ritter von Schönerer und dessen anti-katholische „Los-von-Rom“-Bewegung bildeten den geistesgeschichtlichen Hintergrund für die im weiteren Verlauf der Arbeit darzustellenden Wiener Ariosophen um Guido List und Jörg Lanz von Liebenfels.[5]
Im reichsdeutschen Kontext erschien der Begriff „völkisch“ erst um die Jahrhundertwende, zuerst in Zusammenhang mit dem Alldeutschen Verband, auf der politischen Bildfläche.[6] Die Wurzeln der Völkischen Bewegung reichen jedoch wesentlich weiter zurück und sind insbesondere in vier miteinander verknüpften geistesgeschichtlichen Erscheinungen des 19. Jahrhunderts zu suchen: Völkischem Nationalismus, Rassismus, Sozialdarwinismus und Rassenantisemitismus. Seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts begannen diese Tendenzen mehr und mehr miteinander zu verschmelzen, doch erst um die Jahrhundertwende hatte sich das Denken der Völkischen Bewegung in Deutschland zu einer immer noch heterogenen, doch in ihren grundlegenden Zügen weitestgehend einheitlichen völkischen Weltanschauung verfestigt.[7]
Obwohl sich, wie dargestellt, das Adjektiv „völkisch“ im reichsdeutschen Kontext erst nach der Jahrhundertwende durchsetzte, wird es im Rahmen dieser Arbeit, so wie in der Literatur üblich, auch zur Bezeichnung von historisch früheren Formen eines volkszentrierten, nationalistischen Denkens verwendet.[8]
2.1. Völkischer Nationalismus
Berding führt die Tradition des völkischen Nationalismus auf Ideen Gottfried Herders zum „Volk“ zurück, der unter dem Begriff des Volkes eine durch gemeinsame Sprache, Kultur und Tradition abgegrenzte ethnische Gruppe verstand.[9] Die uneindeutige Bedeutung des Begriffes „Volk“, die es ermöglichte, die Begriffe „Volk“, „Nation“ und „Rasse“ mehrdeutig und synonym zu verwenden, besaß daher auch Berührungspunkte mit den entstehenden Rassentheorien. Bis zur Jahrhundertwende waren Volkstums- und Rassenideologie in der völkischen Ideologie miteinander verschmolzen.[10]
Im frühen 19. Jahrhundert wurde die Idee des „Volkes“ vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege von politischen Romantikern und der deutschen Nationalbewegung aufgegriffen und politisiert – eine Schlüsselrolle kam hierbei frühen deutschen Nationalisten wie Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und nicht zuletzt dem „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn zu.[11] Die vermeintliche Wiederentdeckung einer großen gemeinsamen deutschen Vergangenheit trug zur Welle des deutschnationalen Patriotismus bei, die das zuvor aus zahlreiche Klein- und Kleinststaaten bestehende Deutschland, vor allem nach dem gewonnenen Deutsch-Französischen Krieg und der daran anschließenden Gründung des Kaiserreiches 1870/71, erfasste und durch den wirtschaftlichen Aufschwung der sogenannten Gründerjahre noch weiter verstärkt wurde.[12]
Der daraus entstehende völkische Nationalismus verklärte das Volk zu einer idyllischen und mythologischen Einheit und propagierte gleichzeitig den Überlegenheitsanspruch des deutschen Volkes über alle anderen Nationen. Mit der Mythologisierung und Überhöhung des deutschen Volkes ging auch die Vorstellung einher, die Deutschen ständen in der unmittelbaren Nachkommenschaft der Germanen, die zu einem historischen Idealbild konstruiert wurden.[13] Die Konnotation des Begriffs „Volk“ ging im völkischen Nationalismus weit über seine eigentliche Bedeutung hinaus, da allen Mitgliedern des Volkes nun eine eigene „metaphysische Wesenheit“ zugesprochen wurde, die die innerste Natur jedes dieser Menschen prägte.[14] Nicht zu Unrecht sieht Mosse den völkischen Nationalismus als eine „direkte Folgeerscheinung der Romantischen Bewegung des 19. Jahrhunderts“ an, die den Irrationalismus und Emotionalismus der völkischen Ideologie vorbereitet habe.[15]
2.2. Vordenker der Völkischen Bewegung
Im Laufe des 19. Jahrhunderts trugen zahlreiche Gelehrte, Autoren und Publizisten zur Entstehung einer völkischen Ideologie bei, die sich zum Ende des Jahrhunderts hin soweit verbreitet hatte, dass sie sich in der Gründung zahlreicher völkischer Verbände, Vereine und Parteien niederschlug. An dieser Stelle seien insbesondere vier der bedeutendsten Vordenker der Völkischen Bewegung kursorisch dargestellt: Der französische Adelige Joseph Arthur Comte de Gobineau (1816 – 1882), der die erste umfassende, wissenschaftlich auftretende Rassentheorie formulierte;[16] der Gelehrte Paul Anton de Lagarde (1827 – 1891), dessen Deutsche Schriften (1878) in ihrer irrationalistischen Überhöhung der deutschen Nation entscheidenden Einfluss auf die nationalistischen und völkischen Diskurse des Kaiserreichs zu nehmen vermochten und dessen Entwurf einer spezifisch deutschen Religion bei der Betrachtung der völkischen Religion von zentraler Bedeutung ist;[17] der Journalist Wilhelm Marr (1819 – 1904), „Erfinder“ des modernen Antisemitismus[18] und schließlich Houston Steward Chamberlain (1855 – 1927), dessen Hauptwerk Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts (1900) in seinem Rassismus Wissenschaftlichkeit und Mystizismus in einer Weise verband, die für die Völkische Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts kennzeichnend wurde.[19]
Joseph Arthur Comte de Gobineau (1816 – 1882) und die Entstehung der Rassentheorie
Joseph Arthur Comte de Gobineau, ein konservativ-royalistischer französischer Graf, veröffentlichte seine Rassentheorie in den Jahren 1853 bis 1855 als vierbändigen Essai sur L’Inégalité des Races Humaines.[20] Die meisten in diesem Werk vertretenen rassistischen Thesen waren bereits zuvor von anderen Autoren publiziert worden. Gobineau fasste die verschiedenen Thesen jedoch zu einer umfassenden, universalhistorischen Rassentheorie zusammen. Zentrales Element der Rassentheorie Gobineaus war der Versuch einer ursächlichen Erklärung des Kulturzerfalls: Dieser alle Kulturen betreffende Zerfall werde, so Gobineau, durch den Verlust ethnisch wertvoller Substanz durch Rassenmischung verursacht[21] – ein Ansatz der sich für nahezu alle späteren Rassentheorien ebenfalls nachweisen lässt. Gobineau postulierte ein einfaches hierarchisches System der Menschenrassen: Die menschliche Gattung teile sich in drei Grundrassen – weiße, gelbe und schwarze Menschen. Alle anderen Ausprägungen seien lediglich Abarten oder Mischformen dieser Grundrassen. Darüber hinaus seien die Menschen durch ihre rassische Zugehörigkeit auch in ihren Fähigkeiten und ihrem Wert unterschiedlich, die von Gobineau skizzierte Hierarchie weist hierbei den jeweils helleren Rassen eine höhere Wertigkeit zu.[22] Alle großen Leistungen der Menschheit seien dem hochwertigsten Zweig der weißen Rasse, den Ariern, zuzuschreiben; diese seien auch als einzige herrschaftsfähig und kulturschaffend. Gobineau schrieb daher auch die Schaffung aller außereuropäischen Kulturen prähistorischen arischen Eroberern zu, die den Unterworfenen auch ihr aristokratisches Herrschaftssystem aufzwangen. Gobineau schloss aus dieser These, dass sich im Schichtenaufbau einer Gesellschaft die rassische Herkunft widerspiegele und identifizierte den Adel als die Schicht, in der das arische Blut am stärksten repräsentiert sei. Im Gegensatz zu späteren Rassentheorien sah Gobineau den Prozeß der Rassenmischung und des damit verbundenen Zerfalls der Kulturen nicht als umkehrbar an – seine Rassentheorie war daher streng kulturpessimistisch ausgerichtet.[23] Die Rassentheorie Gobineaus war im Gegensatz zu späteren Theorien jedoch noch frei von sozialdarwininistischen Anschauungen; auch Antisemitismus fand sich bei Gobineau noch nicht.[24]
Vor dem Hintergrund der Entmachtung des französischen Adels nach der Revolution von 1789 und der royalistischen Position des Grafen Gobineau zeigt sich seine Rassentheorie auch als reaktionäre, kulturpessimistische Verteidigungsideologie, die aus dem Untergang des Adels auch den Untergang Frankreichs, und schließlich der Menschheit, prophezeite.[25] Insofern wird also bereits in dieser frühen Rassentheorie ein antimodernistisches Element deutlich, das einerseits versuchte, die Demokratisierung Frankreichs in Folge der politischen Aufklärung durch die Postulierung einer Herrschaft durch hierarchische Rassenstrukturen zu delegitimieren, sich andererseits jedoch einer modernen naturwissenschaftlichen Methodik und eines entsprechenden Vokabulars bediente. Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens wurden die Schriften Gobineaus im deutschen Sprachraum kaum beachtet. Dies änderte sich erst nach 1894 mit der Gründung der deutschen „Gobineau-Gesellschaft“ durch Ludwig Schemann, dessen Ziel einer Popularisierung Gobineaus vor allem beim Alldeutschen Verband und dem Wagner-Kreis, der nach dem Tod des Bayreuther Komponisten und Antisemiten von dessen Witwe Cosima weitergeführt wurde, auf Unterstützung stieß.[26]
Paul Anton de Lagarde (1827 – 1891), der „Gründer der völkischen Bewegung“[27]
Eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Verbreitung der völkischen Ideologie in Deutschland kam dem Orientalisten und Theologen Paul Anton de Lagarde (ursprünglich Paul Anton Bötticher) zu. Statt wie viele seiner nationalistischen Zeitgenossen in den „vielstimmigen Jubelchor über die nationale Einigung Deutschlands“[28] 1871 einzustimmen, verurteilte Lagarde die fehlende innere und geistige Einheit Deutschlands und kritisierte mit scharfen Worten den Materialismus der modernen Gesellschaft, die er als ausschließlich erwerbsorientiert, glaubens- und sittenlos wahrnahm. In seinen zahlreichen Aufsätzen, die 1878 und 1881 in den zweibändigen Deutschen Schriften zusammengefasst erschienen, forderte er stattdessen eine grundlegende Neugestaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems ebenso wie von Religion und Erziehung mit dem Ziel einer nationalen „Wiedergeburt“ Deutschlands.[29] Der Zersplitterung der deutschen Gesellschaft in zahlreiche divergierende politische, wirtschaftliche und kulturelle Strömungen wollte Lagarde eine integrative deutsch-christliche Religion entgegensetzen, in der ein von „allen dem deutschen Wesen widersprechenden Einflüssen gereinigtes Christentum“ mit dem „wahrem deutschem Volkstum“ verschmelzen sollte.[30]
Mosse merkt an, dass sich das rassistisch-biologistische Denken erst ab 1870 in Deutschland und in der Völkischen Bewegung auszubreiten begann - zu einer Zeit, in der Lagardes Weltbild bereits geformt war. Während Lagarde den von ihm verwendeten Begriff des Deutschtums vor allem als innere Einstellung und die Nation als Ideal begriff, gingen spätere Rezipienten davon aus, dass Lagarde bereits in rassenbiologischen Kategorien gedacht habe; die von ihm verwendeten Begriffe des Deutschtums und der Nation wurden entsprechend als Eigenschaften gedeutet, die er der arischen Rasse zugeschrieben habe. Trotz seiner Deutschtümelei und seiner chauvinistischen Überhöhung alles „Deutschen“ ist Lagarde daher insofern nicht in einem engeren Sinne als Rassist anzusehen, als dass seinem Denken keine systematische, biologistische Rassentheorie zugrunde lag.[31]
Der bedeutendste Beitrag Lagardes zum völkischen Denken findet sich in der von ihm propagierten „national-deutschen“[32] oder „germanischen“[33] Religion: Lagardes germanische Religion zeichnete sich weniger durch den Entwurf einer konkreten religiösen Praxis aus, sondern vor allem durch die Zurückweisung des traditionellen Christentums zugunsten einer mystischen Frömmigkeit.[34] Die spontane, dynamische Mystik des ursprünglichen Christentums sei durch die traditionelle Orthodoxie und den Dogmatismus, nicht zuletzt durch Paulus, unterdrückt worden und durch die Einführung von Gesetzen und Ritualen verloren gegangen. Als völkischer Denker ging Lagarde jedoch nicht davon aus, dass die mystische Beziehung zu Gott individuell zu erreichen sei: Da das Individuum seine Originalität aus dem Charakter seines Volkes ableite, sei die persönliche mystische Erfahrung Gottes nur im Rahmen des eigenen Volkes möglich.[35] Das deutsche Volk sei hierbei von Gott mit einer besonders „lebendigen, geistigen Offenbarung“ ausgestattet worden, die höher sei als die anderer Völker.[36] Lagarde schrieb der Rückbesinnung auf diese, den Deutschen als Volk offenbarten, Religiosität die Fähigkeit zu, die inneren Spaltungen der deutschen Gesellschaft zu überwinden und die geistige Einheit des Volkskörpers schaffen zu können.[37]
Hinter den abstrakt-theologischen Religionsentwürfen Lagardes, die im Rahmen dieser Arbeit nur oberflächlich behandelt werden können, treten deutlich zwei typische Aspekte der völkischen Ideologie hervor: Der Antimodernismus und die damit eng verknüpfte Judenfeindlichkeit. In seinem Ideal einer geistig und mystisch vereinten Nation und in seinen häufigen Bezügen auf ein romantisch verklärtes Mittelalter wird die antimoderne Stoßrichtung Lagardes deutlich. Ihre Personifizierung fand die Modernität in den Juden, denen er eine rein materialistische Geisteshaltung zuschrieb und vorwarf Träger von Sozialismus, Liberalismus und Kapitalismus zu sein.[38] Da der Glauben der Juden lediglich aus dogmatischer Schriftgläubigkeit und der strikten Befolgung von Gesetzen bestehe, sei es ihnen unmöglich, sich mit der lebendigen, germanischen Religion zu verbinden oder selbst Deutsche zu werden – ihre eigene nationale Religion machte sie zu einem unversöhnlichen, fremden Element auf deutschem Boden.[39] Obwohl Lagarde den rassistisch argumentierenden Antisemitismus entschieden ablehnte und sogar die Konvertierung einer begrenzten Anzahl von Juden zum Deutschtum für möglich erklärte,[40] sah er die ‚Judenfrage‘ als einen tödlichen Kampf an, an dessen Ende entweder die jüdische oder die deutsche Lebensweise den Sieg erringen müsse.[41]
Wenn Paul de Lagarde der Gründer der Völkischen Bewegung gewesen sei, so Mosse, könne man Julius Langbehn (1851 – 1907) als dessen Propheten bezeichnen.[42] Obwohl Langbehn, der sich selbst als „Apostel“ Lagardes bezeichnete,[43] kaum ideologiebildend in Erscheinung trat, kam ihm eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der völkischen Weltanschauung Lagardes im späten Kaiserreich zu. Sein populärstes Werk, Rembrandt als Erzieher (1890), in dem Langbehn vor allem Elemente der Deutschtumsideologie Lagardes in aphoristisch-prophetischem Duktus darstellte, erschien allein in den drei Jahren nach der Veröffentlichung 1890 in 43 Ausgaben.[44] Deutlicher als bei Lagarde tritt jedoch bei dessen „Apostel“ die rassische Komponente in den Vordergrund: Insbesondere der Antagonismus zwischen Judentum und Deutschtum wurde bei Langbehn zum unüberwindlichen Rassenkonflikt.[45]
[...]
[1] Zum dialektischen Verhältnis von Moderne und Antimodernismus siehe vor allem: Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1969.
[2] Küntzel, Matthias: Von Zeesen bis Beirut. Nationalsozialismus und Antisemitismus in der arabischen Welt, in: Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznaider (Hrsg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt am Main 2004, S. 271 – 293.
[3] Hartung, Günter : Völkische Ideologie, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871 – 1918, München, New Providence, London, Paris 1996, S. 23. (Im Folgenden: Hartung: Ideologie)
[4] Goodrick-Clarke, Nicholas : Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Wiesbaden 2004, S. 16f. (Im Folgenden: Goodrick-Clarke: Wurzeln)
[5] Goodrick-Clarke: Okkulte Wurzeln, S. 18, 20f.
[6] Hartung: Ideologie, S. 23.
[7] Hartung: Ideologie, S. 28.
[8] Zum Begriff „völkisch“ siehe vor allem Hartung: Ideologie, S. 23f.
[9] Berding, Helmut: Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988, S. 144. (Im Folgenden: Berding: Antisemitismus)
[10] Berding: Antisemitismus, S. 144f.
[11] Mosse, George L .: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1991, S. 22. (Im Folgenden: Mosse: Revolution)
[12] Haack, Friedrich-Wilhelm : Wotans Wiederkehr. Blut-, Boden- und Rasse-Religion, München 1981, S. 11. (Im Folgenden: Haack: Wotan)
[13] Berding: Antisemitismus, S. 145.
[14] Mosse: Revolution, S. 10.
[15] Mosse: Revolution, S. 21 – 25.
[16] Marten: Rassismus, S. 56ff.
[17] Mosse: Revolution, S. 40 – 61.
[18] Gilbhard, Hermann : Die Thule-Gesellschaft. Vom okkulten Mummenschanz zum Hakenkreuz, München 1994, S. 29. (Im Folgenden: Gilbhard: Thule)
[19] Mosse: Revolution, S. 104ff.
[20] Marten: Rassismus, S. 59.
[21] Marten: Rassismus, S. 60.
[22] Marten: Rassismus, S. 60.
[23] Marten: Rassismus, S. 60f.
[24] Mosse: Revolution, S. 101ff.
[25] Gilbhard: Thule, S. 24.
[26] Mosse: Revolution, S 102 – 104.
[27] Mosse: Revolution, S. 40.
[28] Paul, Ina Ulrike : Paul Anton de Lagarde, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871 – 1918, München, New Providence, London, Paris 1996, S. 45 – 94, hier: S. 46. (Im Folgenden: Paul: Lagarde)
[29] Paul: Lagarde, S. 46ff.
[30] Paul: Lagarde, S. 47.
[31] Mosse: Revolution, S. 42., siehe auch: Auerbach: Nationalsozialismus, S. 16f.
[32] Paul: Lagarde, S. 66.
[33] Mosse: Revolution, S. 42. Da eine umfassende Darstellung der Religiosität Paul de Lagardes an dieser Stelle nicht möglich ist, siehe hierzu vor allem: Mosse: Revolution, S. 42 – 45; Paul: Lagarde, S. 62 – 68; Palmer, Gesine: The Case of Paul de Lagarde, in: Uwe Puschner (Hrsg.): Anti-Semitism – Paganism - Voelkish Religion, München 2004, S. 37 – 55, hier: S. 44 – 53. (Im Folgenden: Palmer: Lagarde)
[34] Palmer: Lagarde, S. 45; Mosse: Revolution, S. 42.
[35] Mosse: Revolution, S. 43.
[36] Mosse: Revolution, S. 43.
[37] Paul: Lagarde, S. 68.
[38] Paul: Lagarde, S. 71.
[39] Mosse: Revolution, S. 47.
[40] Paul: Lagarde, S. 70; Mosse: Revolution, S. 48.
[41] Mosse: Revolution, S. 47.
[42] Mosse: Revolution, S. 40.
[43] Paul: Lagarde, S. 49.
[44] Behrendt, Bernd : August Julius Langbehn, der „Rembrandtdeutsche“, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871 – 1918, München, New Providence, London, Paris 1996, S. 94 – 114, hier: S. 95f. (Im Folgenden: Behrendt: Langbehn)
[45] Mosse: Revolution, S. 53ff.
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