Diese Arbeit ist Teil einer literaturwissenschaftlichen Dissertation, die in der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes in Saarbrücken eingereicht wurde. Die Arbeit entstand am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft. Das auffälligste Merkmal des Romans von Julio Cortázar ist die ungewöhnliche Kapitelkombinatorik, die die Lektüre des Lesers in einer großen Endlosschleife im Kreis herumführt. Im zweiten Teil des Romans irrt der Leser ohne Ausweg in diesem sinnlosen Textlabyrinth herum. In den immanent poetologischen Anmerkungen des Autors gibt es einige Hinweise, wie diese Irrfahrt zustande kam.
Der Roman scheint eine Art Literarisierung der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation und des Bohrschen Komplementaritätsprinzips. Der immanente Autor bringt den Leser auf diese Spur. In dieser komparatistischen Arbeit ist Rayuela von Julio Cortázar ein Vergleichsglied neben zwei weiteren Romanen. Das sind Der Zauberberg von Thomas Mann und der Ulysses von James Joyce. Unter dem Titel Offene Formen wurde die ganze Arbeit vom Grin Verlag in vier Bänden veröffentlicht. Das wachsende Misstrauen moderner Autoren in die epische Abbildbarkeit der empirischen Wirklichkeit führte in der neueren Gattungstradition des Romans zu einem immer stärkeren Vordringen offener, alinearer Erzählschemata. Gründe für dieses Abrücken von der kausallinearen Struktur des realistischen Erzählens liegen in einer zum Teil historisch bedingten weltanschaulichen Verunsicherung, die beispielsweise Thomas Mann während der Entstehungszeit des Zauberbergs die Unangemessenheit des traditionellen Formkanons als Mittel einer epischen Wirklichkeitsdarstellung häufig schmerzlich ins Bewusstsein rief.
Die widerstrebenden Kräfte des historischen Kontextes während der Zauberberg- Produktion bewirken - nach Mann - in künstlerischer Hinsicht eine "Erschütterung aller kulturellen Grundlagen", mit Blick auf das historische Umfeld während der Entstehungszeit des Ulysses von Joyce spricht Hermann Broch von der Epoche im "Zustand der organischen Unbekanntheit". Dementsprechend wandelt sich auch die Erzählform. Die realistische Schreibweise mit ihren teleologischen Implikationen scheint jede Bedeutung verloren zu haben. Was den Prozess einer erzähltheoretischen Umorientierung noch zusätzlich beschleunigt, ist das Interesse der Autoren für ideologisch-weltanschauliche Denkmodelle, Leitbilder und Theoreme, die die wachsende Bedeutung offener, alinearer Erzählstrategien fördern.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
4. Julio Cortázar, Rayuela
4.1 Physikalisches 'Weltbild' und Unbestimmtheit
4.2 Fiktionalisierungen der Romantheorie nach dem Vorbild der Tel Queliens
4.3. Aleatorische Poetik der Kapitelkombinatorik
4.3.1 Dialektik von Form und Offenheit
4.3.2 Oliveiras Bildungsreise
4.3.3 Kapitelkombinatorik als "destrucción de formas"
5. Tradition - Moderne - Postmoderne
Literaturverzeichnis
Vorwort
Der vorliegende Text ist Teil einer literaturwissenschaftlichen Dissertation, die in der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes in Saarbrücken eingereicht wurde. Die Arbeit entstand am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft. Das auffälligste Merkmal des Romans von Julio Cortázar ist die ungewöhnliche Kapitelkombinatorik, die die Lektüre des Lesers in einer großen Endlosschleife im Kreis herumführt. Im zweiten Teil des Romans irrt der Leser ohne Ausweg in diesem sinnlosen Textlabyrinth herum. In den immanent poetologischen Anmerkungen des Autors gibt es einige Hinweise, wie diese Irrfahrt zustandekam. Der Roman scheint eine Art Literarisierung der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation und des Bohrschen Komplementaritätsprinzips. Der immanente Autor bringt den Leser auf diese Spur. In dieser komparatistischen Arbeit ist Rayuela von Julio Cortázar ein Vergleichsglied neben zwei weiteren Romanen. Das sind Der Zauberberg von Thomas Mann und der Ulysses von James Joyce. Unter dem Titel Offene Formen wurde die ganze Arbeit vom Grin Verlag in vier Bänden veröffentlicht.
Das wachsende Mistrauen moderner Autoren in die epische Abbildbarkeit der empirischen Wirklichkeit führte in der neueren Gattungstradition des Romans zu einem immer stärkeren Vordringen offener, alinearer Erzählschemata. Gründe für dieses Abrücken von der kausallinearen Struktur des realistischen Erzählens liegen in einer zum Teil historisch bedingten weltanschaulichen Verunsicherung, die beispielsweise Thomas Mann während der Entstehungszeit des Zauberbergs die Unangemessenheit des traditionellen Formkanons als Mittel einer epischen Wirklichkeitsdarstellung häufig schmerzlich ins Bewusstsein rief. Die widerstrebenden Kräfte des historischen Kontextes während der Zauberberg - Produktion bewirken - nach Mann - in künstlerischer Hinsicht eine "Erschütterung aller kulturellen Grundlagen", mit Blick auf das historische Umfeld während der Entstehungszeit des Ulysses von Joyce spricht Hermann Broch von der Epoche im "Zustand der organischen Unbekanntheit". Dementsprechend wandelt sich auch die Erzählform. Die realistische Schreibweise mit ihren teleologischen Implikationen scheint jede Bedeutung verloren zu haben. Was den Prozess einer erzähltheoretischen Umorientierung noch zusätzlich beschleunigt, ist das Interesse der Autoren für ideologisch-weltanschauliche Denkmodelle, Leitbilder und Theoreme, die die wachsende Bedeutung offener, alinearer Erzählstrategien fördern.
4. Julio Cortázar, Rayuela
4.1 Physikalisches 'Weltbild' und Unbestimmtheit
Die Tendenz, den narrativen Zusammenhang der realistischen Schreibweise durch segmentierende und kombinatorische Erzählverfahren zu brechen, setzt sich in Rayuela von Julio Cortâzar fort. Die narrativen Segmente werden kürzer, ihre Zahl steigt und die Kombinationsmöglichkeiten, die der Neigung und Disposition des Lesers überlassen sind, werden umfangreicher und komplexer. Betrachtet man den in Rayuela immanent thematisierten weltanschaulichen Kontext der kombinatorischen Poetik - zu nennen sind naturwissenschaftliche, metaphysische, mythologische und Denkmodelle aus der fernöstlichen Philosophie - dann läßt sich auch in diesem Fall davon ausgehen, daß die poetologi- sche Entwicklung der neueren Gattungstradition keine autonome, allein innerliterarisehe Bewegung darstellt, sie ist vielmehr auf die komplexer werdenden Wirklichkeitskonzeptionen der Autoren zurückzuführen. Die wachsende Zersplitterung und Auflösung der geschlossenen Form erscheint so als die Folge eines wachsenden Interesses moderner Romanautoren an naturwissenschaftlichen Denkweisen, die mit einer Reihe von ' Negativ'-Kategorien wie Entropie, Unbestimmtheit und Komplementarität den Orientierungsrahmen für den spürbar steigenden Auflösungsprozeß des epischen Erzähl gegenständes bilden. Im methodischen Teil ist unter dem Stichwort "Kontextanalogien" auf das dieser Arbeit zugrundeliegende Theorem von der strukturellen Abhängigkeit der neueren Gattungstradition von "ideologisch-weltanschaulichen, politischen und soziologischen Fragestellungen" hingewiesen worden. Die drei Vergleichsglieder wurden deshalb speziell auf ihre "weltanschaulich-idelogisehen" Prämissen untersucht. Gerade was die Kontextualität anbelangt zeigt sich schon, daß die Autoren der drei ausgewählten Werke von ganz unterschiedlichen Denkmodellen und Orientierungspunkten ausgehen. Die wachsende Tendenz zur Offenheit, zur Alinearität, zur Abweichung und - bei Cortáâzar - zur bewußten "Zerstörung" der realistisch-linearen Schreibweise des Romans läuft parallel zu einem auffälligen Um- denkungsprozeß, der die weltanschaulich-ideologische Kontextua- lität der modernen Gattungstradition direkt berührt. Das Spektrum unterschiedlicher Wirklichkeitsauffassungen und Denkmodelle reicht dabei von Manns Orientierung an der Schopenhauerschen Metaphysik bis zu Cortazars Adaptation einiger Grundbegriffe des physikalischen Weltbildes, auf das der Roman werkimmament durch Schlüsselbegriffe wie "principio de indeterminacion / Unbestimmtheitsprinzip", "micro y macrocosmo / Mikro- und Makrokosmos", "el problema de las probabilidades / die Frage nach der Wahrscheinlichkeit", "analisis de probabilidades / Wahrscheinlichkeitsanalyse", "movimiento brownoideo / Brownsche Bewegung", "entropia / Entropie" u. a. hinweist. Morelli, der implizite Autor Rayuelas, beruft sich zur Begründung der Häufung naturwissenschaftlicher Termini auf eine Quelle: er verweist auf seine "lectura de Heisenberg / Lektüre von Heisenberg".Naturwissenschaftliche Termini, Vorstellungen und Denkmodelle dienten, bevor sie in die immanentpoetologisehe Diskussion des Romans selbst Eingang fanden, häufig als Analyseinstrumente zur kritischen Würdigung ausgewählter Werke der neueren Gattungstradition. Anzumerken ist an dieser Stelle, daß Hermann Broch schon eine Beziehung zwischen Joyce und der Relativitätstheorie hergestellt hat. Ausgangspunkt seiner Ulysses-Kritik mit naturwissenschaftlichen Kategorien war die These von der Integration des Autorstandpunktes, der in der epischen Welt des Ulysses wie in einem relativistischen Universum im Akt des Schauens mit in das Beobachtungsfeld einbezogen sei.1 Wie hoch der Stellenwert naturwissenschaftlichen Denkens im Bereich der Romanästhetik zu veranschlagen ist, wird daraus ersichtlich, daß Grundkategorien des physikalischen Weltbildes in zunehmendem Maß in die werkimmanente Diskussion der weltanschaulich-ideologischen Voraussetzungen vorwiegend des postmoderen Romans Eingang finden.2 Ein neueres Beispiel für den Einfluß physikalischer Termini auf den epischen Vermittlungsprozeß ist etwa Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht, in dem der Erzählvorgang in einen von "elektrischen Strömen, Stößen, Impulse, in einen von Redundanzen und Störgeräuschen zerhackten Informationsfluß" mündet, der dann letztlich "verkümmert zu wirbelnder Entropie".3
Der Wandel von Thomas Manns Orientierung an metaphysischen Denkmodellen zu Cortäzars Verständigung auf naturwissenschaftlich-physikalische Philosopheme verlief, was die weltanschauliche Kontextualität der neueren Gattungstradition anbelangt, nicht so reibungslos. Noch Thomas Mann hatte kein nachweisbares Verhältnis zur Naturwissenschaft, trotzdem er zu den führenden Promotoren etwa der Physik häufig direkten Kontakt hatte.
Während seines Princeton-Exils wohnte Mann in unmittelbarer Nachbarschaft Albert Einsteins und gemeinsam mit Louis de Broglie empfing er 1929 den Nobelpreis, ohne daß es dabei zu nachweisbaren Grenzüberschreitungen zwischen den beiden 'Kulturen' Literatur und Naturwissenschaft gekommen wäre.4 Auch die Fragen, die mit den "Zeitspintisierereien"5 im Zauberberg in Zusammenhang zu bringen waren, wurden mit Blick auf die scholastische Philosophie, die "Lehrer des Mittelalters" und die Schopenhauersche Mystik formuliert, der Bereich der Naturwissenschaft blieb dabei ausgeblendet. Mann verstand sich als "intelligenter Laie" , der allenfalls Analogien und Parallelen zwischen der "Zauberberg"-Zeitauffassung und der der Naturwissenschaft sah: "Auch ich verstand mich früher nur (durch Schopenhauer)", schreibt er in einem Brief vom 12.10.1932 an Käte Hamburger, "auf die 'Idealität' von Zeit und Raum, und kam auf ihre physikalische Beziehung, ohne Novalis, geschweige Einstein,6 ordentlich gelesen zu haben.Wir erinnern uns, daß der Strandspaziergänger Castorp beim Anblick des Meeres die Grenzen der in Zeit und Raum existierenden Vorstellungswelt sprengt und im Akt der intuitiven Anschauung das zeit- und raumlose "wahre Sein der Dinge" in der Sphäre des Willens erkennt. Dieser Erkenntnis liegt auch die Einsicht in die 'transzendentale Idealität' von Raum und Zeit zugrunde.
Der spürbaren Distanz Manns, zur Naturwissenschaft, liegen offenbar auch Überzeugungen, deren Ursprung nicht zuletzt wieder in der Schopenhauerschen Metaphysik zu suchen sind. Ausschlaggebend für den Künstler Thomas Mann ist sicher gewesen, daß die Metaphysik Schopenhauers die Naturwissenschaft als Erkenntnismittel zugunsten von Philosophie und Kunst übertrumpfte: sie richte ihr Erkenntnisinteresse ausschließlich auf die in Raum, Zeit und Kausalität verstrickten Phänomene, ohne den Blick über den Tellerrand der "Vorstellungswelt" in die Sphäre der ewigen Ideen zu erheben. Für Thomas Mann war das ein Mangel.
Nach Schopenhauer hat jede Wissenschaft ein bestimmtes Objekt und ein Organon zu seiner Erforschung: "So hat z. B. die Naturwissenschaft die Materie als Problem und das Gesetz der Kausalität als Organon: ihr Ziel und Zweck demnach ist, am Leitfaden der Kausalität, alle möglichen Zustände der Materie aufeinander und zuletzt auf einen zurückzuführen ..."7 ^. Während demnach die Naturwissenschaft ihr immer positivistisches Erkenntnisinteresse auf die sinnlose Kausalverkettung der Phänomene richtet, genießen Philosophie und Kunst durch die Fähigkeit zur intuitiven Anschauung das Privileg der Erkenntnis des Dinges an sich.
In Manns Distanz spiegelt sich nicht nur die schopenhauerorientierte Definition von Philosophie und Kunst als Erkenntnismittel par excellence, in ihr wird auch der Urkonflikt zwischen Geistes- und Naturwissenschaft spürbar, der in der nachpositivistischen Ära der Jahrhundertwende ausbrach. Richter zeichnet den wachsenden Entfremdungsprozeß zwischen den beiden "Kulturen" nach. Er hat seinen Ursprung in Wilhelm Diltheys theoretischer Grundlegung der Geisteswissenschaften, die ein fest umrissenes Profil nicht zuletzt durch den "scharf herausgearbeiteten Gegeno satz zu den Naturwisenschaften" 8 erlangten. Diese klare Konfrontationsstellung beider Disziplinen entsprang, aus der Perspektive der Geisteswissenschaften, dem Protest gegen die "Übertragung naturwissenschaftlicher Methoden auf die Verfahrensweise vor allem der geschichtlichen Disziplinen: dem Protest gegen den Positivismus im Sinne Auguste Comtes und den Empirismus John Stuart Mills."9
Unter den Vermittlungsversuchen10, die im Nachhinein unternommen wurden, widerlegen etwa die philosophischen Reflexionen Werner Heisenbergs den geisteswissenschaftlichen Vorwurf, die Naturwissenschaft bleibe bei einem Positivismus des 'Erklärens' stehen. In diesem Zusammenhang werden nicht nur philosophische Probleme11 diskutiert. Im Zentrum des Interesses stehen auch Fragen aus dem grenzüberschreitenden Gebiet zwischen Ästhetik und "exakter Naturwissenschaft". Möglichkeiten, die unterschiedlichen Standpunkte zu überprüfen, bot die Anfang der 80er beendete Snow-Leavis-Kontroverse über die Chancen einer Synthese zwischen den natur- und geisteswissenschaftlichen Kulturen, an der sich Literaten, Kritiker und Naturwissenschaftler gleichermaßen beteiligten. Wie groß das Interesse an dieser Diskussion gewesen ist, zeigt die beinahe unüberschaubare Welle von teilweise leidenschaftlichen Stellungnahmen. Diese Reaktionen sind 1959 von dem Romancier und Physiker Charles Percy Snow ausgelöst worden, der in seiner bekannt gewordenen "Rede Lecture" die These vertrat, daß die Kultur der wesentlichen Welt in zwei Hälften, in zwei Kulturen zerfalle: die geisteswissenschaftlich-literarische und die wissenschaftlich-technische.12 In dieser Tendenz zur wachsenden Entfremdung beider Sphären sieht Snow eine Gefahr für den technischen und sozialen Fortschritt der westlichen Kultur. Die Kündigung und Auflösung des ehemals gemeinsamen Standpunktes ging nach Snow von den literarisch Gebildeten aus. Sie besaßen weder den Wunsch noch die Fähigkeit, die sich aus dem Aufschwung der Naturwissenschaft abgeleitete "industrielle Revolution zu verstehen: "Die Intellektuellen, und ganz besonders die literarisch Gebildeten, sind geborene Maschinenstürmer."13
Der Literaturkritiker F. R. Leavis reagierte auf diese Schuldzuweisung besonders scharf. Er leugnet die Möglichkeit einer Synthese zwischen beiden Sphären.Wegen der Verschiedenheit der beiden Bereiche sei eine gegenseitige Durchdringung nicht möglich: "Gleichsetzungen zwischen so ungleichartigen Bereichen", schreibt Leavis, "sind ohne Bedeutung"14. Oppenheimer weist auf die wachsende Spezialisierung innerhalb der beiden Bereiche hin. Schon in terminologischer Hinsicht sei eine Übertragung einzelner etwa naturwissenschaftlicher Begriffe in den Bereich des "täglichen Lebens" problematisch. Dennoch sieht Oppenheimen in derselben Diskussion vor dem Hintergrund der Überzeugung von der "wechselseitigen Relevanz" beider Sphären ein Reservoir an Gemeinsamkeiten, das es zu nutzen gelte:
"Alle diese Themen - der Ursprung der Wissenschaft, ihre Form des Wachstums, ihre verzweigte, netzförmige Struktur, ihre zunehmende Entfremdung von dem allgemeinen Verständnis des Menschen, ihre Freiheit, der Charakter ihrer Objektivität und ihrer Offenheit - sind relevant für die Beziehung zwischen Wissenschaft und Kultur. Ich glaube, daß sie viel robuster, intimer und fruchtbarer sein könnte und sollte, als sie heute sind."15
Oppenheimer plädiert damit für einen Brückenschlag zwischen den beiden Kulturen. Es wird sich zeigen, daß die literarische Kultur in Einzelfällen die Möglichkeit zum Dialog mit dem naturwissenschaftlichen Bereich erkannt hat. Auf der Suche nach komplexeren, zeitgemäßeren und episch ausbeutbaren naturwissenschaftlichen Begriffen nutzt Julio Cortâ- zwar den "Charakter ihrer Objektivität und ihrer Offenheit", d. h. ihrer grenzüberschreitenden Allgemeinverbindlichkeit und die Möglichkeit, ihre Theoreme auch in nicht naturwissenschaftlichen Kontexten zu nutzen, zur Anpassung der großen epischen Form an das veränderte Wirklichkeitsverstehen der Moderne. das in zunehmendem Maß von naturwissenschaftlichtechnischen Kategorien geprägt ist.
Es fällt auf, daß die Naturwissenschaftler in dieser Kontroverse über die Möglichkeiten eines Dialogs zwischen der westlichen Kultur eher Ansätze zu positiven Kontakten sehen als die Literaten, die häufig deutlich formulierte Vorbehalte äußern. Aldous Huxley, sieht in der unterschiedlichen Sprachverwendung beider Kulturen ein eher trennendes als überbrückendes Element: die wissenschaftliche Sprache strebe nach Monosemie, die literarische nach Polysemie:
"Der Wissenschaftler ist bestrebt, jeweils nur eins zu sagen und es unzweideutig und mit größtmöglicher Klarheit zu sagen. Um das zu erreichen, vereinfacht und jargonisiert er ... Wenn der literarische Künstler es unternimmt, den Wörtern seines Stammes einen reineren Sinn zu geben, tut er das mit dem ausdrücklichen Zweck, eine Sprache zu schaffen, die fähig ist, nicht die einzige Bedeutung in einer bestimmten Wissenschaft zu vermitteln, sondern die vielfache Bedeutung menschlichen Erlebens ... Er (der Wissenschaftler) reinigt oder läutert nicht mittels Vertiefens und Er- weiterns, mittels Bereicherns durch anspielende Harmonie, durch Obertöne der Assoziation und Untertöne klangvoller Magie."16
Vor dem Hintergrund dieser konnotativ-offenen literarischen Sprachverwendung sind Kontakte zwischen den beiden Bereichen naturgemäß in nur eingeschränktem Maß möglich. Auf eventuelle Koinzidenzen zwischen literarischer einerseits und naturwissenschaftlicher Sphäre andererseits auf anderen als der sprachlichen Ebene geht Huxley nicht ein. Positive Beispiele einer naturwissenschaftlich-literarischen Durchdringung sieht er bei John Donne, William Wordsworth und Matthew Arnold. Mit Blick auf die Moderne kommt er allerdings zu negativen Ergebnissen: "Es würde einem schwerfallen, aus ihren Werken auf die einfache historische Tatsache zu schließen, daß sie Zeitgenossen des Elektronengehirns…"17 sind.
Über diese Kontroverse hinaus, die das Gegensätzliche aber auch das Gemeinsame der beiden Kulturen nachzuweisen bemüht ist, dringen schon seit Beginn der modernen Physik um die Jahrhundertwende Theoreme naturwissenschaftlichen Denkens in den Bereich der Geisteswissenschaften. Wie für Aldous Huxley ist für Hilde Domin und für Helmut Heißenbüttel18 die moderne Naturwissenschaft die fortschrittstreibende Kraft einer an sich entmenschlichten Welt geworden, in der ethisch-moralische Gesichtspunkte eine eher untergeordnete Rolle spielen. Max Born macht den Zusammenbruch aller ethischen Grundsätze für die moderne Krankheit der wachsenden Entfremdung zwischen naturwissenschaftlich-technischer und geisteswissenschaftlich-literarischer Intelligenz verantwortlich:
"Die wirkliche Krankheit sitzt tiefer. Sie besteht im Zusammenbruch aller ethischen Grundsätze, die sich im Laufe der Geschichte entwickelt und ein lebenswertes Leben gesichert haben, selbst in Zeitabschnitten wilder Kämpfe und weiträumiger Zerstörungen. Es genügt zwei Beispiele für die Auflösung überlieferter Ethik durch die Technik anzuführen: das eine betrifft den Frieden, das andere den Krieg." 19
Ungeachtet der sachlichen und ideologisch begründeten Stellungnahmen zur Möglichkeit eines Dialogs beider Bereiche sind schon sehr früh Elemente naturwissenschaftlichen Denkens in Literatur und Geisteswissenschaften nachweisbar.20 Naturwissenschaftliche Theoreme wie der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, das Entropiegesetz, werden nicht selten zum Gegenstand literarischer Darstellung. Vor dem Hintergrund einer angeblichen Feindschaft zwischen dem literarischen und dem naturwissenschaftlichen Lager gewinnt Cortazars Episierung naturwissenschaftlicher Theoreme und Verfahrensweisen den Rang eines Vermittlungsversuches zwisehen beiden 'Kulturen'.
Es stellt sich nun die Frage nach dem Nutzen der produktiven Rezeption naturwissenschaftlicher Gesetze für die neuere Gattungstradition? Unter der Vielzahl naturwissenschaftlicher Theoreme, die in Rayuela nachweisbar sind, finden sich zwei physikalische Theoreme von universaler Verbindlichkeit: der Entropiesatz oder der zweite Hauptsatz der Thermodynamik und die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation. Welche Erwartungen knüpft Cortázar an die Rezeption dieser beiden naturwissenschaftlichen Theoreme? Nach dem Zerbrechen des intentionalen Weltbildes, sind moderne Romanautoren auf der Suche nach adäquaten Denkmodellen, die in der Lage sind, den Anspruch des Romans nach Darstellung ganzheitlicher und totaler Wirklichkeitszusammenhänge auch in weltanschaulicher Hinsicht zu legitimieren. Thomas Manns metaphysische Wirklichkeitsanschauung verband die empirische Welt der Vorstellung und die metaphysische des Willens zu einem ganzheitlichen, wenn auch mythischen Weltkonzept. Die "Oxen"- Episode bezog Wirklichkeit nicht über ein philophisches Denkmodell in die Fiktion mit ein, sondern über die Vorstellung vom "Universum der Texte".21 Dieser Erzähltext modelliert kein Weltbild, hinter der Literatur findet sich nicht die wahre Wirklichkeit, sondern nur erneut wieder andere Texte, die durch ihre unendlich scheinende Staffelung und Verschachtelung die Vorstellung von der Unabbildbarkeit der Wirklichkeit evozieren. Im Gegensatz dazu nutzt Julio Cortázar den universellen Geltungsanspruch einzelner naturwissenschaftlicher Theoreme zur weltanschaulichen Absicherung des epischen Anspruchs auf ganzheitliche Wirklichkeitsdarstellung. Die Erwartung, die Cortazar an die Adaptation naturwissenschaftlicher Sätze knüpft, ist die, mit Hilfe des physikalischen Weltbilds den Totalitätsanspruch des Romans zu stützen.
Auch unter den Bedingungen der experimentellen Poetik der Postmoderne bleibt auch das Darstellungsziel des postmodernen Romans auf die Erfassung ganzheitlicher Wirklichkeitszusammenhänge gerichtet. Der Entropiesatz und die Vielfalt bietet sich dem Epiker aufgrund seiner umfassenden Gültigkeit an. Der Entropiesatz wird in Rayuela sowohl in thematischer als auch in struktureller Hinsicht wirksam: inhaltlich erscheint er als Topos der Ausweglosigkeit. Am eindrucksvollsten wird diese inhaltliche Bedeutung des Entropiesatzes durch die thematische Nähe zum "Strick" demonstriert, die naturgemäß die Assoziation 'Suicid' evoziert:
"La ambivalencia de la soga - dijo Oliveira -. Su function natural saboteada por una misteriosa tendencia a la neutralizaciôn. Creo que a eso le llama la entropia/Die Ambivalenz des Stricks, sagte Oliveira. Seine natürliche Funktion wird von einer geheimnisvollen Tendenz zur Neutralisierung sabotiert. Ich glaube, das ist das, was man Entropie nennt."22
Auf thematischer Ebene faßt die erzählte Geschichte die Gefahr psychologisch-sozialer Destabilisierung und den daraus erwachsenden ambivalenten Trostgedanken des Suicids. Auf struktureller Ebene wird der Entropiezuwachs des Romans durch die Kapitelkombinatorik ausgelöst, die die linerare Lektüre durch die alineare Kombinationstechnik in wachsendem Maß unterläuft. Im Folgenden wird im Wesentlichen die strukturelle Bedeutung des Entropiesatz für Rayuela zu prüfen sein. Gerade sie ist wesentlich für die Frage nach der offenen Form Rayuelas, eines Romans, dessen Darstellungsziel die "destruccion de formas (de formulas) literarias/die Zerstörung der literarischen Formen (Formeln)" darstellt. Die Orientierung am zweiten Hauptsatz der Thermodynamik dient Cortázar als Anregung zur Zerstörung der linearen Schreibweise und der wohlgeformten Geschichte.
Der erste und zweite Hauptsatz der Thermodynamik sind naturwissenschaftliche Gesetze von universaler Gültigkeit. Der erste, der Energiesatz, formuliert das Gesetz von der Erhaltung der Energie durch alle verschiedenen Umwandlungen hindurch, die ein physikalisches, chemisches oder biologisches System erfahren kann. Im 19. Jahrhundert galt das Prinzip von der Erhaltung der Energie vielen Physikern als äußerst bedeutsam, man erkannte darin das vereinheitlichende Prinzip der Natur wieder. Dem englischen Physiker James Prescott Joule zufolge vereinheitlichte sich die Natur durch das Gesetz von der Erhaltung der Energie: "In der Tat bestehen die Naturphänomene, seien es mechanische, chemische oder solche des Lebens, nahezu gänzlich in einer beständigen wechselseitigen Umwandlung von Anziehung durch den Raum lebendiger Kraft ... und Wärme. Auf diese Weise wird die Ordnung in unserem Universum aufrecht erhalten - nichts wird gestört, nichts geht jemals verloren, sondern die ganze Maschinerie, so kompliziert sie auch ist, funktioniert reibungslos und harmonisch. Und obwohl - wie in der schrecklichen Vision Ezechiels - ein Rad durch das andere geht und jedes Ding in der scheinbaren Verworrenheit und Verschlungenheit einer nahezu unendlichen Vielfalt von Ursachen, Wirkungen, Verwandlungen und Anordnungen kompliziert und verwickelt erscheinen mag, bleibt doch die vollendente Regelmäßigkeit erhalten - denn das Gesetz 22wird von dem unumschränkten Willen Gottes gelenkt."23
Das Prinzip der Erhaltung der Energie hatte auch im nicht naturwissenschaftlichen Bereich weitläufige Konsequenzen. Die individuelle Natur des Menschen einerseits und die der Gesellschaft andererseits werden als "energieumwandelnde Motoren" aufgefaßt, die Unterschiede zerstören, aber auch neue schaffen24. Die einheitliche Macht der Natur bleibt in dem nicht zu störenden Energiehaushalt verborgen, der weder Verbrauch noch Vernichtung, sondern nur Umformung kennt. Das ist nur ein Aspekt der Energieumwandlung - wenn man so will - der friedvolle und kontrollierbare, darunter verbirgt sich eine wesentlich aktivere Ebene, die den Aspekt der Erhaltung, Umwandlung oder Umformung weit hinter sich läßt. Aufbauend auf der Vorstellung, wonach Energie trotz verschiedener Umwandlungen, die ein physikalisches, chemisches oder biologisches System erfahren kann, erhalten bleibt, macht der Entropiesatz Aussagen über die Art und Weise dieses Erhal- tungs- und Verwandlungsprozesses: "Die Welt brennt wie ein Ofen", schreibt Prigogine, "die Energie bleibt zwar erhalten, wird aber zerstreut."25
Erinnern wir uns erneut an das Bild von der Welt als Maschine, deren energetischer Gesamthaushalt immer konstant bleibt, dann erweitert der zweite Hauptsatz der Thermodynamik diese Vorstellung von der Energieerhaltung dahin, daß der gesamte Energiehaushalt der Maschine Welt wohl immer konstant bleibt, das aber nur um den Preis ihrer irreversiblen Verschwendung und nutzlosen Zerstreuung einer bestimmten Wärmemenge, die etwa durch Reibung verloren geht. Der Begriff Entropie steht für das Maß an verwandelter, d. h. nicht mehr arbeitsfähiger Energie. Der zweite Hauptsatz heißt dann: "In einem geschlossenen System strebt die Entropie einem Maximum zu. Ist dieses Maximum erreicht, dann tritt der völlige Stillstand aller energetischen Prozesse ein." 26
Im Jahre 1865 vollzog Clausius den Sprung von der Technik zur kosmischen Bedeutung dieses Satzes. Das von ihm benutzte griechische Wort ‘Entropie1 bedeutet Änderung oder Entwicklung. Aufgabe der von dem Physiker Clausius eingeführten Funktion der Entropie ist, den Unterschied auszudrücken zwischen dem natürlichen Austausch von Energie und jenem Betrag der 'dissipierten', d. h. irreversibel vergeudeten Energie in geschlossenen Systemen etwa durch Wärmeverlust oder Reibung. Sie führt zu einer Entropiezunahme. Der Energie- und der Entropiesatz bezeichnen damit zwei unterschiedliche Aspekte ein und desselben energetinerischen Phänomens: den positiven Aspekt der qualitativen Vielfalt der Energie und den negativen Aspekt ihrer wachsenden Tendenz zur zur Zerstreuung und Entwertung. Dem Ordnungsprinzip steht das Prinzip der Unordnung gegenüber. Es steht ihm allerdings nicht gleichberechtigt und antagonistisch gegenüber, die Thermodynamik räumt dem Prinzip der Unordnung ein größeres Gewicht ein: die Entropie "wächst".
Der Entropiesatz kehrt die Vorstellung vom Streben der Natur oder der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit nach einem harmonischen Zustand der Ordnung um und propagiert die Vorstellung vom wachsenden Chaos.
Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik gehört zur Klasse der statistisch fundierten Sätze. Seine Gültigkeit beruht nicht auf logischer Notwendigkeit, sondern auf statistischer Wahrscheinlichkeit.27 Der angestrebte Gleichgewichtszustand ist damit nicht logisch notwendig, sondern in statistischer Hinsicht hoch wahrscheinlich. Begriffe wie Unordnung, Chaos, 'Wärmetod' u. ä. markieren den statistisch zu erwartenden Endpunkt dieses Entwicklungsprozesses komplexer Systeme.Als vor etwa hundert Jahren dieses physikalische Axiom in das Bewußtsein der Öffentlichkeit drang, löste es quasi apokalyptische Visionen aus. So kam es, daß die nüchternen Formulierungen der Physiker wie ein "kosmisches Memento mori" aufgefaßt werden konnten. Kein Tag verging, schreibt Henry Adams in seinem humoristischen Traktat The Degradation of the Democratic Dogma, an dem man in französischen und deutschen Zeitungen nicht "beunruhigende Diskussionen darüber finden konnte, daß es mit der Welt sozial in die Brüche ging; die Geburtenziffern waren im Fallen; - die Landbevölkerung nahm ab; - in der Armee verluderte die Disziplin; - die Selbstmorde wurden immer häufiger; - Verrücktheit und Schwachsinn nahmen zu; so auch die Krebskrankheit und Schwindsucht; - Anzeichen von Nervenerschöpfung, von abnehmender Vitalität; - Trunksucht und Drogen, - Sehschwäche bei Kindern - und so weiter, und so weiter".
Was die Rezeption dieses naturwissenschaftlichen Satzes um die Jahrhundertwende auch im außernaturwissenschaft1ichen Bereich noch forcierte, war, daß die Fin de siêcle-Stimmung gegen Ende des vorigen Jahrhunderts eine psychische Disposition schuf, die den Entropiesatz leicht in ihre eigenen Begriffe übersetzen konnte: Niedergang, Schwäche, Vitalitätsschwund, Langeweile,28 Mattigkeit u. ä. Über alle oben erwähnten Abgrenzungsversuche zwischen den 'beiden Kulturen', der naturwissenschaftlich-technischen und der literarischen, drang der zweite Hauptsatz der Thermodynamik dennoch tief in das Bewußtsein der Geisteswissenschaft ein. Die Bemühungen der Naturwissenschaftler, über Verdinglichungsmodelle auch dem Laien Zugang zu ihrem Bereich zu verschaffen, förderten den Transfer dieses Axioms in den geisteswissenschaftlichen Bereich.
Verallgemeinerungen wie 'Entdifferenzierung', Strukturverfall und Gestaltlosigkeit machten den Entropiesatz zu einem adäquaten Beschreibungsmoment auch außerphysikalischer, beispielsweise psychologischer oder historischer Phänomene und Ereignisse. Vor dem Hintergrund dieses Verfalls-, Destrukturie- rungs- und Entwertungsmodells konnte beispielsweise Oskar Spengler den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zum "Symbol des Niedergangs" und zum "Topos des Kulturpessimismus" machen. Der russische Physiker und Romanautor Evgenij Zamjatin bezog 1923 den Entropiesatz auf die psychologische Stituation seiner Zeitgenossen: "Die meisten Menschen leiden an einer ererbten Schlafkrankheit; den an dieser Krankheit (der Entropie) Leidenden darf man nicht erlauben zu schlafen, sonst tritt der letzte Schlaf, 29 der Tod, ein."29
In Gottfried Benns kurzem Prosastück Weinhaus Wolf ist der Bezug zu Spenglers kulturhistorischer Verfallstheorie ebenso spürbar wie die Rezeption des Entropiesatzes: "Die weißen Völker sind", schreibt der Essayist Benn, "im Ausgangsstadium, ganz gleich, ob die Theorien über ihren Untergang heute Geltung haben oder nicht. Die Auflösung ist greifbar, eine Rückführung auf frühere Zustände unmöglich, die Substanz ist abge30 geben, hier gilt das zweite Wärmegesetz."30
Die vielfache Anwendung des Entropiesatzes im geisteswissenschaftlichen Rahmen auf historische, ästhetische und psychologische Phänomene ergänzt und erweitert Julio Cortàzar in eine sehr moderne und reflektierte Richtung. Auch Cortazar deutet inhaltlich Entropie als Topos der Ausweglosigkeit, in dessen Assoziationshorizont der Suicidgedanke anspielungsweise in Andeutungen wie "Strick" gelegentlich auftaucht. Die Krisenhaftigkeit der immanent dargestellten Wirklichkeit der fiktiven Figuren zeigt sich dabei psychologisch nicht nur durch die assoziative Nähe zum Suicidgedanken, sondern auch in ihrem direkten Bezug zu der sie umgebenden All tagsrealität, die die einzelnen fiktiven Gestalten ohnehin als einigermaßen fremd empfinden. Das Thema Entfremdung taucht im zweiten Teil des Romans im Topos des Wahnsinns, inhaltlich des psychiatrisch Isolierten wieder auf. Eine weitere Variation des Entfremdungsthemas findet sich auf der Ebene der intertextuell en Verweise, auf deren theoretische Fundierung im Kapitel über die "Oxen"-Episode schon eingegangen worden ist.
Dient die Intertextualitätspoetik in der "Oxen" -Episode zur Brechung eines konstanten Themas im Horizont verschiedener literarischer und damit auch historisch-weltanschaulicher Kontexte, haben wir es in Rayuela mit einer ganz anderen Funktion von Intertextualität zu tun: sie spielt sich im wesentlichen auf der personalen Ebene der fiktiven Figuren ab. Der Text identifiziert die Personen und ihre psychologische und soziale Situation häufig mit der von Figuren aus anderen literarischen Prätexten. Im Gegensatz zur "Oxen"-Episode ist allerdings den Helden Rayuelas diese Anspielungsvielfalt selbst bewußt, sie kennen den literarischen Kontext, in dem sie die Intertextualitätspoetik des Romans ausdehnt. Diese Anspielungsvielfalt erhöht naturgemäß den Grad an Autoref1exivitat dieser Literatur, abgesehen von dieser strukturellen Dimension wirft sie allerdings auch ein Licht auf die psychologische Situation der Helden dieses Romans, die die sie umgebende Wirklichkeit immer schon als vermittelte, als schon gelesene Wirklichkeit auffassen. Dieser Entfremdungsvorgang, der den unmittelbar naiven Kontakt des Individuums zu seiner direkten lebensweltlichen Gegenwart löst und zerstört, ist eine weitere Variation des Topos von der Ausweglosigkeit: das 'intertextuelle' Bewußtsein der fiktiven Figuren evoziert die Vorstellung, als seien individuelle Wege versperrt, als sei die eigene Existenz lediglich die Variation früherer ästhetischer Existenzen: im Topos der Ausweglosigkeit interferieren die weltanschauliche, die intertextuelle und die Ebene der fiktiven Figuren Rayuelas .
Der Erzähler selbst weist darauf hin, daß sich die Figuren wie Gestalten aus Romanen verhalten: "La Maga había pretendido inocentemente hacer literatura/Die Maga benahm sich in aller Unschuld wie eine Romanfigur." Die Intertextualitätspoetik Rayuelas wählt dabei vorwiegend solche Charaktere aus, deren krisenhafte literarische Existenz31 in einem analogischen Verhältnis zu der der Helden des Romans stehen. Der Text bezieht sich im Horizont seines intertextuel1 en Verweissystems auf Rilkes Malte Laurids Brigge. Gregorovius berichtet von seinem Elternhaus, er erinnert sich an einen riesigen Salon, dessen Wände mit Teppichen behängt waren, die "hubieran hecho las delicias de Malte Laurids Brigge. Una de las alfombras representaba el plano de la ciudad de Ofir/das Entzücken von Malte Laurids Brigge gewesen wären. Einer der Teppiche stellte den Stadtplan von Ophir dar."32 Maltes Irrweg durch Paris, die literarische Anspielung auf die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn und der Stadtplan von Ophir, der Analogien zum "laberinto de calles/Straßenlabyrinth"33 von Paris, dem Schauplatz der Romanhandlung evoziert, sind Textelemente, die über die intertextuelle Anspielung direkt auf den Topos der Ausweglosigkeit Bezug nehmen, der "Rayuela" mit dem Entropiesatz in Verbindung bringt.
In diesem Zusammenhang ist nicht nur von Rilkes Malte die Rede, sondern beispielsweise auch von den Dramen Becketts, deren absurde Wirklichkeit als Hintergrund permanent mitgedacht ist: "Los dos (Traveler und Talita) le buscaban el lado humoristico, prometiéndose espectâculos dignos de Samuel Beckett/Sie versuchten beide, die Sache von der humoristischen Seite zu sehen, und versprachen sich Schauspiele, die eines Samuel Beckett würdig wären." 34 Der literarische Bezug zu Beckett erlaubt im System der intertextuellen Bezüge Rayuelas den Topos der Ausweglosigkeit im Zusammenhang einer als absurd empfundenen Wirklichkeit zu sehen.35
Neben Rilkes Malte, Becketts dramatischen Gestalten u. ä. existenziell betroffenen Figuren aus der literarischen Tradition spricht die Intertextualitätspoetik Rayuelas darüber hinaus von der "gran crisis karamazófica/der großen karamasowschen Krise"36, was als weiterer Hinweis gewertet werden kann, daß die Rayuela-Helden in einem fiktiven Wirklichkeitszusammenhang placiert sind, der als insgesamt krisenhaft, chaotisch und durch individuelle Interventionen kaum mehr sinnvoll zu gestalten ist.37
Der Entropiesatz wirkt aber nicht nur durch intertextuelle A n spielung auf die inhaltliche Ebene, er wird auch strukturell bedeutsam, indem er die wachsende Abweichung des neueren Romans von der linearen Schreibweise als Zerstörungsprozeß umdeutet, der bewußt gegen die tradierte epische Gestaltung der wohlgeformten Geschichte gerichtet ist. Die Poetik Rayuelas erweist sich besonders einfallsreich, ja trickreich, wenn es darum geht, die vom impliziten Erzähler Morelli angekündigte "destruccion de formas literarias" episch umzusetzen. Der Text strebt dabei die strukturelle Umsetzung des Labyrinth-Motivs an, das oben schon inhaltlich als Topos der Ausweglosigkeit erwähnt wurde. Rayuela bricht mit der linearen Episodenfolge der geschlossenen Romanform durch die Entwicklung und Umsetzung zum Teil sehr trickreicher Textstrategien, die vom Leser ein hohes Maß an Bereitschaft zum mechanischen Kombinieren verschiedener Textteile abverlangt. So trifft der Leser beispielsweise im 34. Kapitel auf einen Vertextungsmodus, der zunächst rätselhaft erscheint, sich dann aber nach wenigen Zeilen als interessante Variation der "destruccion de formas literarias" entpuppt. Dieses Kapitel kombiniert zwei autonome Texte A und B im Rhythmus des Zeilenschemas A1 B1 A2 B2 A3. Zwischen Zeile 1 und 2 von Text A schiebt sich die erste und die zweite Zeile des Textes B.
"En setiembre del 80, pocos meses después del fallecimiento y las cosas que lee, una novela, mal escrita, para colmo de mi padre, revolvi apartarme de los nogocios, cediéndolos una ediciôn infecta, uno se pregunta como puede interesarle/ Im September des Jahres 1880, wenige Monate nach dem Tode Und was sie für Sachen liest, ein Roman, schlecht geschrieb meines Vaters, beschloß ich, mich vom Geschäft zurückzuzie- und obendrein eine miserable Ausgabe, man fragt sich, wie sie sich für so etwas interessieren kann."38
Neben dieser Verschachtelung von Texten im Text finden sich etwa Sternchen-Sätze, wie sie zur Unterbringung von Anmerkungen in wissenschaftlichen Texten verwendet werden. Auch ihre Aufgabe ist es, die lineare Textmanifestation der geschlossenen Episodenfolge der erzählten Geschichte durch Arabesken, Ergänzungen und andere Beifügungen und Extrapolationen zu brechen. Die für die Lektüre konsequenzreichste Zerstörungsstrategie, de ren sich die Poetik Rayuelas bedient, ist die Kapitelkombinatorik, die die lineare Kapitelfolge der eigentlichen Rumpfgeschichte des Romans, die sich auf den Schauplätzen Paris und Buenos Aires abspielt, auf relativ mechanische Weise zerteilt.
Die Verschachtelungskombinatorik der Kapitelumstellungen wird gesteuert vom Der Lektürewegweiser/ "tablero de direccion", den Cortazar auf der ersten Seite des Romans entwickelt, betrifft nur die Lektüre des letzten Teils des insgesamt dreiteiligen Romans. Die Verschachtelungsstruktur, die der Kombinatorik zugrunde liegt, integriert aber erneut die beiden vorhergehenden Teile: sie werden also doppelt gelesen, was sich ändert ist die kontextuelle Zusammensetzung, die Kombination ihrer einzelnen Kapitel. Die Struktur des Romans beschreibt eine Schleife: sie beginnt linear und biegt sich mit dem beginnenden dritten Teil zurück und verläuft sich dann in einer endlosen Kreisbewegung. Das häufig inhaltlich thematisierte Labyrinth-Motiv bildet strukturell das Schema, das dieser Verschachtelungstechnik zugrunde liegt.
Die Lektüre beginnt mit Kapitel 1 und folgt einer linearen Kapitelfolge bis zum Ende des zweiten Teils, das mit Kapitel 56 endet. Der Leser setzt nun die Lektüre des Romans nicht mit Kapitel 57 fort, sondern mit 73 und folgt dann dem "tablero de direccion":
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Sieht man genauer hin, wird deutlich, daß die Linearität der Kapitelfolge der ersten beiden Teile des Romans
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noch gewahrt bleibt. Die einzig ausmachbare Veränderung liegt darin, daß die Kapitel des dritten Teils des Romans in willkürlicher Reihenfolge in die lineare Reihe 1 - 56 zwischengeschaltet werden. Die erste Absicht, die Cortazar mit dieser Schleifentechnik verbindet, ist relativ leicht zu erkennen: "destrucciôn de formas literarias". Die zweite Absicht wird erst deutlich, wenn der Rezipient tatsächlich bereit ist, der Kombinatorik zu folgen.
Es fällt auf, daß der Anteil der immanentpoetologischen Reflexionen unter den zwischengeschalteten Kapiteln des dritten Teils besonders hoch ist. Während die Textstruktur nun die in inhaltlich-thematischer Hinsicht relativ traditionell gehaltenen Teile 1 und 2 des Romans durch die Kombinationstechnik sukzessive zerstört, kommentiert sie durch den hohen Anteil an immanentpoetologisehen Reflexionen in den zerstörenden, zwischengeschalteten Kapiteln die Motive ihrer eigenen "destruccion de formas literarias". Rayuela wird dadurch naturgemäß zum Paradigma der autoflexiven Romankunst der Moderne. Der Roman vollzieht und thematisiert die Zerstörung der traditionellen Form an sich selbst. Er begründet dieses Zerstörungswerk mit Argumenten aus sämtlichen Bereichen der neueren Gattungstradition: weltanschauliche, produktionsästhetische, strukturelle und hermeneutische Probleme der neueren Gattungstradition werden in den immanentpoetologisehen Reflexionen Morellis angesprochen. Durch dieses Kombinationsverfahren thematisiert Cortázar die gesamte Aspekthaftigkeit der 'problematischen' Gattung Roman.
Im Moment wesentlich für den Zusammenhang zwischen der Verschachtelungstechnik und dem Entropiesatz ist der Aspekt des Entropiezuwachses, der wachsenden Tendenz zur Unordnung, die die Poetik Rayuelas mit der alinearen Kapitelkombinatorik verknüpft. Von der Linearität der beiden ersten Romanteile über die Alinearität des letzten Teils bis zur Kombination " 131 – 58 – 131 wird die Lektüre unabschließbar im Kreise herumführt. Cortazars Ziel, das er mit Strukturzerfall, Entropiezuwachs, Formzerstörung in Verbindung bringt, ist auf die Strukturierung des angestrebten "Antiromans" gerichtet. An diesen Aufbau knüpft er auch die Hoffnungen: der Spielraum des Lesers zur eigenen Initiative zu erweitern.
"A su mariera este libro es muchos libros, pero sobre todo es dos libros/Auf seine Weise ist dieses Buch viele Bücher, aber es ist vor allem zwei Bücher" heißt es im Vorspann zur Lektüreanweisung. Die wachsende Alinearität der Erzählstruktur sollte den Rezipienten zu eigener schöpferischer Tätigkeit ermutigen, die eigene Kombinatoriken schafft. Der Roman besteht aus zwei Bücher, weil er naturgemäß einerseits die autonome Schöpfung seines Autors ist, andererseits beabsichtigt dieser Autor, diesen Roman durch die rezeptionsabhängige Kombinatorik zu einer Schöpfung seines Lesers zu machen. Er räumt ihm alle Freiheiten ein, auch die des individuellen Arrangements des Erzählmaterials39. Damit wertet die Poetik Rayuelas den strukturellen Entropiezuwachs durchaus ambivalent: als Formzerstörug einerseits, aber auch als Möglichkeit zur Stärkung der schöpferischen Kraft des Lesers, der den chaogenen Zustand des Romans zu eigenen, dispositionsabhängigen Zusammenhängen neu arrangieren soll. Nach dem gattungspoetologischen Selbstverständnis Morellis, des impliziten Autors, ist Rayuela nichts anderes als eine Art Rohmaterial, eine Art „40 "materia en gestacion/Materie im Werden", deren "Work in Progress"-Qualität erst während der Lektüre durch den "Leser-Komplizen" ihre individuelle Ausprägung gewinnt
"Lo que el autor de esa novela", bekräftigt Morelli, "haya logrado para si mismo, se repetirá (agigantándose, quizá, y eso séria maravillosa ) en el lector cómplice/Was der Autor eines solchen Romans für sich selbst erreicht hat, wird sich in dem Leser-Komplizen wiederholen (gigantischer vielleicht, was wunderbar wäre). 41 ".
Nach der inhaltlich-strukurellen Analyse der Bedeutung des Entropiesatzes für den Roman komme ich nun zur ästhetischen Bedeutung der zweiten naturwissenschaftlichen Kategorie, die innerhalb der Romanpoetik Rayuelas eine wesentliche Rolle spielt: die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation.
Der Name Heisenberg wird im Roman häufig genannt und das "principio de indeterminacion" gilt in Rayuela als konstitutives Element der spezifischen Seinsart von Kunst. Die Intensität der Rezeption einzelner naturwissenschaftlicher Theoreme wird in der Häufung wissenschaftlicher Termini wie "Unbestimmtheit", "Wahrscheinlichkeit", "Wahrscheinlichkeitsanalyse", "Statistik", "Entropie", "Ambivalenz", "Unordnung", "Mutationen", "Kombinatorik", "Quanten" oder in Sequenzen wie "absolut nicht euklidisch" oder durch Namen wie Planck und Heisenberg deutlich. Die Annäherung an das naturwissenschaftlich-physikalische Weltbild hat sich befreiend und innovativ auf die Poetik des postmodernen Romans Rayuela ausgewirkt. Der Entropiesatz bot Cortäzar die Möglichkeit, die statisch-strukturel1e Wirklichkeitsauffassung zugunsten einer dynamischen einzutauschen42, die das 'Chaos' als den natürlichen, aufgrund statistischer Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Endpunkt aller historisch-soziologischen Entwicklungen ansieht. Öffnete der Entropiesatz eine neue Perspektive auf den Zustand und die Prozeßdynamik der historischen Entwicklungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit, dient die Ästhetisierung der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation vorwiegend der Neubestimmung des mimetischen Verhältnisses zwischen Fiktion und Realität. Und dem Verhältnis Leser Buch. Offen sind beide Relationen in der Perspektive der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation, weil sie von der Vorstellung ausgeht, daß das Verhältnis zwischen Ich und Welt, Subjekt und Objekt, Beobachter und Beobachtetem, Autor und empirischer Realität, Leser und fiktiver Welt nie endgültig zu determinieren, immer unscharf sein wird.
Offen ist diese Relation zwischen dem empirischen Ich des Beobachters und der Welt der Objekte deshalb, weil in den Begriffen der physikalischen Quantentheorie es unmöglich ist, alle beliebigen Eigenschaften auf eine Substanz zu beziehen, d. h. sie zu objektivieren: "die Annahme, diese Objektivierung sei m öglich, führt zu einer ganzen Reihe von logischen, mathematischen und physikalischen Widersprüchen." 43 Die Unbestimmtheitsrelation wendet sich von der Kantschen Erkenntnistheorie ab, wonach die reale Außenwelt aufgrund von Vorstellungen und Begriffe, die apriorisch gegeben sind, erfaßbar ist. Die Kategorien Raum, Zeit und Kausalität sind die Instrumente, mit deren Hilfe dem beobachtenden Subjekt die Möglichkeit geboten ist, die Welt als geordnetes Ganzes zu erfassen.
Die moderne Atom- und Quantenmechanik hat gezeigt, daß die Struktur der Materie keine unumstößliche Tatsache ist, und mit ihr auch der quantenhafte, sprunghafte Charakter elementarer Prozesse. Daher haftet jeder Beobachtung, die eine Wechselwirkung zwischen dem beobachtenden Subjekt und dem beobachteten Objekt involviert, eine Unbestimmtheit an, die es nicht erlaubt, den gegenwärtigen Zustand des Objekts oder des Systems vollständig zu determinieren. Es ist gerade dieser unvermeidliche Eingriff des Beobachters in die beobachtete Erscheinung, der den kontinuierlichen Zusammenhang der Erscheinungsreihe unterbricht. Daher kann man bei jedem gegebenen Zustand eines Systems nur statistische Voraussagen über die folgenden Zustände machen; das Resultat einer einzelnen Beobachtung ist akausal, ist undeterminierte Tatsache."44
Das Theorem von der Unbestimmtheitsrelation stärkt den subjektiven Anteil, die Position des empirischen Ich des Beobachters in dem physikalischen Objektivierungsverfahren. Die aus diesem Umstand abgeleitete "Unbestimmtheitsrelation besagt, daß der Beobachter und seine Apparatur integrale Teile des beobachteten Phänomens sind."45 Werner Heisenberg präzisiert: "Das ist allerdings ein sehr merkwürdiges Resultat, das zu zeigen scheint, daß die Beobachtung eine entscheidende Rolle spielt und daß die Wirklichkeit verschieden ist 46 je nachdem, ob wir sie beobachten oder nicht."46
Die Konsequenzen, die nach diesen experimentell gestützten Ergebnissen für ein zu formulierendes physikalisches Weltbild gezogen werden, sind weitreichend und für moderne Romanautoren, die auf der Suche nach adäquaten Wirklichkeitsmodellen sind, von besonderem Interesse. Die Vorstellung von dem erkenntnistheoretisch nie endgültig zu determinierenden, unscharfen Verhältnis zwischen Ich und Welt, Beobachter und Beobachtetem forciert die Auffassung von einer "offenen Welt, in der durch Aktivität Neues entsteht, in der Entwicklung Innovation, Schöpfung und Zerstörung, Geburt und Tod bedeutet ... Das Universum ist ein selbstangeregter Kreislauf. Während es expandiert, abkühlt und sich entwickelt, läßt es BeobachterPartizipation entstehen, was wir 'fühlbare Realität' des Universums nennen."47
Ergänzt wird diese Abkehr vom Kausalgesetz von dem dänischen Physiker Niels Bohr, er "drückt diesen Gedanken durch das Komplementaritätsprinzip aus, das als eine Erweiterung der Heisen- bergschen Unschärferelation betrachtet werden kann. ... Die verschiedenen möglichen Sprachen und Ansichten über das System sind komplementär. Sie handeln alle von der gleichen Realität, obwohl es unmöglich ist, sie auf eine einzige Beschreibung zu reduzieren. In dieser Unreduzierbarkeit der Ansichten über ein und dieselbe Realität kommt die Unmöglichkeit zum Ausdruck, einen göttlichen Standpunkt zu finden, von dem aus die gesamte Realität gleichzeitig überblickbar wäre ..., die Realität ist zu reich und in ihren Umrissen zu komplex, als daß eine einzige 48 Lampe Licht auf sie werfen könnte."48 Unter dem Stichwort "problema de realidad"/Realitätsproblem"49 thematisiert der Text auf unterschiedlichen Ebenen die Möglichkeiten einer Ästhetisierung der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation.
Auf personaler Ebene steht dabei der Streit zwischen dem deterministischen Philosophem von der Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Individuum und Welt, zwischen der Vorstellung von der "seguridad ontologica"/ontologisehen Sicherheit" einerseits und einer subjektivistisch verstandenen "ontologia empirica"/empirisehen Ontologie"50 andererseits im Zentrum der Diskussionen. Letztere Auffassung vom Sein trägt deutliche Spuren der fiktionalen Verarbeitung der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation. Neben diesen ontologischen Problemen denken die Rayuela-Helden auch über die ästhetische Bedeutung dieses naturwissenschaftlichen Theorems für die Kunst nach: La Maga stellt sich die Frage, "por qué el principio de indeterminacion era tan importante en la 1iteratura/warum das Unbestimmtheitsprinzip so wichtig sei in der Literatur"51. Bedenkt man den hohen Grad an Autoref1exivität dieses Romans ist in dieser Frage naturgemäß die Bedeutung dieses naturwissenschaftlichen Theorems für Rayuela selbst mitgedacht.
4.2 Fiktionalisierungen der Romantheorie nach dem Vorbild der Tel Queliens
Der hohe Anteil an immanentpoetologisehen Reflexionen in der erzählten Geschichte Rayuelas kann als direkte Konsequenz der Rezeption naturwissenschaftlicher Theoreme angesehen werden. Wie die Unbestimmtheitsrelation davon ausgeht, daß der Beobachter ein integriertes Element des beobachteten Phänomens darstellt, geht auch die Romanpoetik Rayuelas davon aus, daß der Romanautor als Schöpfer des Werkganzen in der Person Morellis dauernd präsent ist. Er kommentiert die Genese dieses ästhetischen Objekts während seines Entstehungsprozesses. Der Autor identifiziert sich damit immanent als integrales Element der Schöpfungsgeschichte des Kunstwerkes, dessen Charakter als etwas Gemachtes, als etwas Artistisches in den immanentpoetologisehen Reflexionen Morellis permanent mitgedacht wird. Die neuere Gattungstradition hatte naturgemäß schon vor der Entstehung Rayuelas (1963) ein gewisses Mißtrauen gegenüber den literarischen Konventionen des Romans hervorgerufen.
Das Mißtrauen der neueren Gattungstradition richtete sich gegen die Gewißheit, der realistische Gattungstyp könne durch seinen erzählerisch perspektivierten Vermittungsvorgang die außerliterarische Wirklichkeit adäquat erfassen. Im Gegensatz dazu beruft sich die traditionelle Romantheorie von den Ursprüngen ihrer Entstehungsgeschichte an zur epistemologisehen Grundlegung ihrer erzähltheoretischen Modelle auf die "seit Kant geläufige erkenntnistheoretische Auffassung".52
Cortäzar, der sich in epistemologischer Hinsicht an naturwissenschaftlichen Theoremen orientiert, und davon ausgeht, daß das Verhältnis zwischen Ich und Welt, Fiktion und außer literarischer Wirklichkeit erkenntnismäßig nie endgültig zu determinieren ist, mußte die Vorstellung von der Abbildbarkeit der Wirklichkeit durch die epische Form suspekt erscheinen. Im Gegensatz dazu wurde in Rayuela die offene Form zum Medium, das die Möglichkeiten der Gattung unter den Bedingungen dieser veränderten Voraussetzungen reflektiert: die Fragen, die sich stellen, betreffen das mimetische Verhältnis Fiktion – Wirklichkeit. Beide Punkte: erstens, die während der Entstehungszeit Rayuelas schon fortgeschrittene moderne Gattungstradition und, zweitens, die Verarbeitung naturwissenschaftlicher Theoreme haben dem postmodernen Romancier Cortázar die Notwendigkeit zum Abrücken von tradierten Positionen der Romanästhetik vorgegeben. In biographischer Hinsicht ist es nicht unwesentlich zu erwähnen, daß der Südamerikaner während der Entstehungszeit seines Romans im Pariser Exil lebte: es ist die Attraktivität der kulturellen Situation Europas, die eine gewisse Sogwirkung ausübte. Es waren nicht nur persönliche Vorlieben, die ihn zum freiwilligen Exil53 bewogen hatten, er traf zudem in ein geistig-kulturelles Milieu, das sich für die eigene Romanproduktion als äußerst fruchtbar erwies.
Die Wirkung des Nouveau Roman und vor allem die Einflüsse der Tel-Quel-Thesen sind Rayuela deutlich eingeprägt, Wolfgang Theile ordnet Rayuela der "poetologischen Literatur" zu. Cortâzar"54, schreibt Günther W. Lorenz zu demselben Thema, "hat mit diesem Roman das Terrain der hispanoamerikanisehen Literatur verlassen und sich dem 'nouveau roman' angeschlossen."55 Cortazar thematisiert selbst die Bezüge seines späteren Romans Libro de Manuel zu den Thesen der Tel-queliens, deren Hauptvertreter - beispielsweise Natalie Sarraute und Michel Butor - in Rayuela namentlilch genannt werden. Die Tel Queliens verweigern dem Roman jede über ihn hinausgehende Bedeutung. Er ist etwas Selbstbezogenes, das seinen eigenen Entstehungsprozess thematisiert. Einige Begriffe der immanent diskutierten Poetik Rayuelas wie das angestrebte Ziel der Schaffung des "Antiromans", die nicht nur rezeptionsästhetisch gemünzte Kategorie der Unbestimmtheit oder auch der "écriture"-Begriff gehören zum Kern der parallel zu Rayuela entstehenden neuen Konzeption des avantgardistischen französischen Romans.
Cortazar konnte während der Entstehung Rayuelas schon auf eine relativ fest umrissene romantheoretisehe Konzeption der Nouveaux Romanciers zurückgreifen. 1956 erschien Natalie Sarrautes Essayband zu theoretischen Fragestellungen des neuen Romans,56 in dessen Vorwort der Begriff und einige Punkte des Konzepts der Nouveaux Romanciers schon vorausgesetzt werden. 1963 faßt Alain Robbe-Grillet seine vorher verstreut erschienenen romantheoretischen Äußerungen in dem Band "Pour un nouveau roman"57 zusammen: diese Stellungnahmen sind ausdrücklich als "quelques réflexions critiques sur les livres que j'avais écrits" vom Autor ausgegeben worden. Dabei ist naturgemäß schon mitgedacht58, daß Robbe-Grillets Romane Les Gommes ( 1953), Le Voyeur ( 1955) La Jalousie (1957), Dans le Labyrinthe (1959) und L´Annèe dernière à Marienbad (1961), die schon vor der Entstehungszeit Rayuelas erschienen sind, neben denen von Natalie Sarraute und Butor mittlerweile zum Kanon des Nouveau Roman gehörten.
Was Cortazars Kontakte zum französichen Nouveau Roman noch begünstigt haben mag, ist, daß das Konzept der Avantgarde nach 1960 durch die Verbindung zu den Literatur- und Textwissenschaftlern um die Zeitschrift59 Tel Quel in eine neue Phase übergegangen ist. Die des theorieinteressierteren Nouveau Nouveau Roman. Zu den Mitgliedern der Gruppe Tel Quel gehören Philippe Söllers, Jean Thibaudeau, Michel Foucault, Julia Kristeva und Jean Ricardou, dessenEssaybände entscheidenden Einfluß auf das theoretische Selbstverständnis des Nouveau Nouveau Roman ausübte. Als zeitliche Zäsur zwischen den beiden Phasen, der des Nouveau Roman und des Nouveau Nouveau Roman60 wird allgemein das Entstehungsdatum der Zeitschrift Tel Quel im Jahre 1960 genannt.
Die sich rasch herauskristallisierenden Texttheoreme dieser Gruppe greifen schnell auf den Nouveau Roman61 über und übersetzen das Konzept der Nouveaux Romanciers in eine auch explizit formulierte Literaturtheorie. Deutliche Belege für die Bezugnahme Cortazars zu den Theoremen der Telqueliens sind die Übereinstimmungen zwischen einigen Schlüsselbegriffen der immanent diskutierten Poetik Rayuelas einerseits und den Kernpunkten der neuen Romantheorie andererseits. Im Folgenden wird es deshalb im Wesentlichen darauf ankommen, die für die Analyse der offenen Form Rayuelas bedeutsamen Punkte: das amimetische Verhältnis Fiktion-Wirklichkeit, der produktionstheoretisch relevante Aspekt von Morellis Suche nach der Form und das spezifische Leserbild des Romans als Folge des Umgangs mit den literaturtheoretischen Konzepten der Tel Queliens zu sehen.
Cortäzar kopiert dabei nicht, er integriert und übersetzt vielmehr die literatur-, roman- und texttheoretischen Vorstellungen der französischen Autoren des Neuen Romans in seine naturwissenschaftlich orientierten Wirklichkeitsvorstellungen. Rayuelas Kapitelkombinatorik ist ein Anzeichen jener Radikalisierungsstufe, die den Nouveau Nouveau Roman gegenüber seiner früheren, ersten Entwicklungsstufe kennzeichnet. Sie führt zur völligen Destruktion der in den beiden ersten Romanteilen aufgebauten Fabel. Trotz dieses wachsenden Strukturzerfalls nutzt Cortazar die offene Form, das alineare Textschema als breite Plattform, auf der Morelli die Bedingungen und Möglichkeiten der Gattung des avantgardistischen Romans diskutiert. Der eigentliche Kernpunkt der romantheoretischen Überlegungen der Nouveau Romanciers ist die "anti-représentâtion". Ge meint ist der darstellungsästhetische Aspekt des neueren Selbstverständnisses der Gattung. Im Umfeld dieses Begriffes tauchen Variationen wie62 "auto-détermination" auf. Das bedeutet Selbstbespiegelung des Werkes und Thematisierung der eigenen Entstehung. Der Argwohn gegen das ehemals mimetische Verhältnis des tradidionellen Romans gegenüber der außerliterarischen Realität scheint begründet.
Er ist die Folge einer individuell erfahrbaren Inkongruenz zwischen der Unüberschaubarkeit einer immer komplexer werdenden empirischen Realität und den vergleichsweise einfachen literarischen Konventionen des traditionellen Romans, die kaum mehr in der Lage sind, ihrer mimetischen Funktion gerecht zu werden.
"Inversement à des réalités différentes correspondent des formes de récit différentes", schreibt Michel Butor in dem Essay "Le roman comme recherche", "Or, il est clair que le monde dans lequel nous vivons se transforme avec une grande rapidité. Les techniques traditionnelles du récit sont incapables d'intégrer tous les nouveaux rapports ainsi survenus. Il en résulte un perpétuel malaise; il nous est impossible d'ordonner dans notre concience, toutes les informations qui l'assaillent, parce que nous manquons des 63 outils adéquats."63
Die Problematisierung der Beziehung zwischen Darstellung einerseits und Wirklichkeit andererseits im Theorem der "anti-représentation" greift Corta- zar in der Perspektive seiner naturwissenschaftlich geprägten Weitsicht auf.
Dem Mißtrauen der Telqueliens gegen die traditionelle Vorstellung von der Objektivierbarkeit des außerliterarisch Vorgegebenen kann er durch den Transfer der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation in diesen romantheoretischen Zusammenhang eine quasi-naturwissenschaftliche Rechtfertigung erhalten. Die Vorbehalte gegen das Mimesiskonzept sind in derneueren Gattungstradition schon verbreitet, originell ist aber Cortazars naturwissenschaftliche Einbettung dieses Vorbehalts. Butors Feststellung, wonach es dem Individuum unmöglich ist, alle in der empirischen Wirklichkeit gegebenen Beziehungen zu integrieren und Michel Foucaults Aussage zu demselben Thema während eines Kolloquiums des Tel Quel-Kreises 1964: "la réalité 64 n'existe pas ..., il n'existe que le langage"64, lassen sich leicht in die naturwissenschaftlich geprägte Vorstellungswelt Cortazars übersetzen. Gemeint ist die Auffassung von dem erkenntnistheoretisch nie endgültig zu determinierenden, unscharfen Verhältnis zwischen Beobachter und Beobachtetem, Ich und Welt, Fiktion und empirischer Wirklichkeit, die sich für ihn aus der erzähltheoretisehen Umdeutung der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelati on ergibt.
Diese und die folgenden immanent diskutierten Punkte knüpft Cortazar im Roman an eine fiktive Gestalt, eine Künstlerfigur, die dem werkimmanenten Romanautor in Gides "Les Faux Monnayeurs" - Edouard - nicht unähnlich ist. Daß Cortazar seinen Roman bewußt in die gattungsgeschichtliche Tradition der Künstlerromane stellt, wird auch dadurch deutlich, daß der Name Gides und der anderer Autoren dieses Gattungstyps im Horizont des intertextuellen Verweissystem Rayuelas häufig auftauchen: neben Rilkes Malte auch Hofmannsthals Der Brief des Lord Chandos65. Auch der intertextuelle Bezug zu Gides Les Faux-Monnayeurs dürfte als weiterer Beleg für die engen Kontakte zwischen Cortäzar und den Ideen der Tel Queliens gewertet werden, die sich zur Illustration der geforderten Destruktion der "logique de la fiction" häufig auf Gides Prinzip der gestaffelten Romanwirklichkeit, der "mise en abyme", berufen.66
Andere Beispiele sind etwa der Erzähler in Marcel Prousts Recherche und der Schriftsteller Karsch in Uwe Johnsons Drittem Buch über Achim. Gefördert und begünstigt wird diese inhaltliche Disposition des modernen Romans zur Thematisierung der Phänomene Kunst, Roman und Literatur über die Gestalt des werkimmanent agierenden Romanautors und durch das wachsende Theorieinteresse des moderen Gattungstyps. Unter dem Stichwort "Moreliana"67, das vorwiegend und gehäuft erst im dritten Teil des Romans auftaucht, fasst Cortäzar Morellis Reflexionen über die extra- und intraliterarischen Bedingungen der Gattung des postmodernen Romans zusammen.
Er ist vielmehr das poetische Prinzip selbst, die Identität des Romans.68 Ihm ordnet Cortäzar die für Rayuela relevanten romantheoretischen Reflexionen der Tel Queliens zu; Morelli macht sich die Erfahrungen in Romantheorie und Praxis der Nouveaux Romanciers zu eigen, kombiniert und vergleicht sie mit eigenen Erfahrungen und Lektüreerlebnissen. Auf diese Synthese zwischen Eigenem und Fremdem geht auch Morellis Übersetzung des Tel Quelien-Theorems von der "anti-représentation" , dem amimetischen Anspruch des avantgardistischen Romans.69
Wie die Nouveaux Romanciers setzt Morelli die spürbare Entlastung vom Dogma der Linearität des Romans strukturell um. Wie sie wird er zum Promotor einer neuen Schreibweise, die sich von den literarischen Konventionen distanziert: er geht sogar so weit, den literarischen Wert des Romans an die Zerstörung der epischen Konventionen zu knüpfen.
"Si la revelacion ultima era lo que quizâ lo esperanzaba mas, habâ que reconecer que su libro constituia ante todo una empresa literaria, precisamente porque se proponia como una destrucciôn de formas (de formulas) 1iterarias./Sei auch die höchste Erleuchtung das gewesen, was er vielleicht am meisten erhofft hatte, so sei doch sein Buch zweifellos in erster Linie ein 1 iterarisches Unternehmen, grade weil es sich die Zerstörung der literarischen Formen (Formeln) vorgenommen hatte. 70
Der postmoderne Roman bildet das außerliterarisch Vorgegebene nicht ab, er schafft vielmehr seine fiktive Wirklichkeit während seiner sprachlichen Realisierung.71 Dieser "écriture"-Begriff gibt den eigentlichen Impuls zur Autoreflexivität des sprachlichen Gebildes Roman. Er befreit den Text in mimetischer Hinsicht einerseits von dem Darstellungsimperativ, das außerliterarisch Vorgegebene abbilden zu müssen, er weckt andererseits in struktureller Hinsicht das Potential an Gestaltungsmöglichkeiten72 - die "productivité dite texte" - die der Sprache inhärent sind. Das von Cortázar konsequent angestrebte Ziel des freien Experimentierens mit der epischen Form bedingt naturgemäß auch das Zerbrechen der signifiant- signifie-Relation , den Signifikanten werden durch ihre wechselnden Kontexte entsprechende Signifikate zugeordnet.
Die Bezogenheit der epischen Sprache auf ihre medienspezifischen Darstellungsmöglichkeiten zieht eine Reihe von Konsequenzen für die Produktion, die Struktur und die Rezeption des postmodernen Romans nach sich. Prägte die narrative Kausalität im traditionellen Roman die geschlossene, lineare Form, wird im Gegensatz dazu nach dem avantgardistischen Selbstverständnis der Schreibprozeß selbst zum Problem. Der neuere Roman kann in diesem Sinn nicht weiter die strukturierenden Kräfte der teleologisch ausgerichteten Episodenfolge der realistischen Schreibweise in Anspruch nehmen. Die produktionstechnischen Folgen dieses Deautomatisierungsvor- gangs werden in Rayuela dadurch sichtbar, daß für den immanent agierenden Romanautor der Prozeß des Schreibens selbst zum Problem, d. h. zum Thema seines Romans wird. Im Kapitel 99, das überhaupt für die immanentpoetologisehe Diskussion des Romans sehr aufschlußreich ist, heißt es:
"En algûn pasaje (no sabla exactamente cuâl, tendria que buscarlo) Morelli daba algunas claves sobre un método de composiciôn. Su problema previo era siempre el resecamien to, un horror mallarmeano trente a la pagina en bianco, coincidente con la necesidad de abrirse paso a toda costa. Inevitable que una parte de su obra fuese una reflexion sobre el problema de escribirla/ In irgendeinem Absatz (er wußte nicht genau in welchem, er würde nachsehen müssen) gab Morelli einigen Aufschluß über eine Kompositionsmethode. Sein erstes Problem war stets das Austrocknen, ein Mal 1armésches Entsetzen angesichts eines weißen Blattes, verbunden mit der Notwendigkeit, sich um jeden Preis Bahn zu brechen. Es war unvermeidlich, daß ein Teil seines Werkes eine Reflexion über das Problem, es zu schreiben, darstellte."
[...]
1 Broch, James Joyce und die Gegenwart, S. 45f.
2 Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München (Hanser) 1983
3 Ebd., 32. Vgl. auch Calvino, "Notes towards a definition of the narrative form as a combinative process", 20th Century Studies, 1 (1970), 93-101.
4 Thomas Mann, Briefe I, S. 323.
5 Hilscher, "Thomas Manns Beziehungen zur Philosophie und Naturwissenschaft", 54.
6 Briefe I , 323.
7 Zit. nach Kurt Bloch, "Schopenhauer und die moderne Naturwis senschaft", Die Naturwissenschaften, 37 (1950), 145. Vergl. hierzu auch Hartmann, '“Schopenhauer und die heutige Naturwissenschaft", Schopenhauer-Jahrbuch, 35 (1964), 13-25.7
8 Richter, Literatur und Naturwissenschaft, 11.
9 Ebd.
10 Im Nachhinein gab es Vermittlungsversuche, die von beiden Lagern ausgingen. Vergl. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über zwei Kulturen. Kreuzer, Stuttgart 1966.
11 Vergl. hierzu Heisenbergs Aufsatz "Die Bedeutung des Schönen in der exakten Naturwissenschaft", Quantentheorie und Philosophie, 91-114.
12 Snow, "Die zwei Kulturen", Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, 11-25.
13 Ebd., 18.
14 Leavis, "Zwei Kulturen? Die 'Bedeutung' von C.P. Snow", Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, 44.
15 Oppenheimer, "Uber Wissenschaft und Kultur", Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, 89.
16 Huxley, "Rose und Nachtigall", Literarische und naturwissenschaftliehe Intelligenz, 97.
17 Huxley , Literatur und Wissenschaft, 66.
18 Vergl. auch die beiden Aufsätze Hilde Domin, "Eine Kultur oder keine Kultur. Der Zwei-Kulturen-Streit als Scheinkonflikt" und Heißenbüttel, "Die Schizophrenie des gesellschaftlichen Bewußtseins und ihre hypothetische Auflösung zu C.P. Snows 'Zwei Kulturen'", Literarische und naturwissenschaftliche Intel 1igenz, 108-128.
19 Born, "Die Zerstörung der Ethik durch die Naturwissenschaft", Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, 181
20 Metzner, "Die Bedeutung physikalische Sätze für die Literatur", Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geschichte, 53 (T979), 1-34
21 Pynchon, "Entropy", Kenyon Review, 22 (1960), 277.
22 Rayuela, 289/291.
23 Prigogine, Dialog mit der Natur, 117.
24 Ebd., 120.
25 Metzner, "Bedeutung physikalischer Sätze für die Literatur", 3.
26 Grünbaum, "Die Anisotropie der Zeit", Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaft, 490. "Mann kann gleichberechtlgt'“, schreibt Grünbaum, "von einem Gleichgewichtszustand oder einem solchen sehr hoher Entropie sprechen". Ebd.
27 Zit. nach Arnheim, Entropie und Kunst, 18.
28 Vgl. hierzu auch die oben schon erwähnte Studie zur Rezeption des Entropiesatzes im außerphysikalischen Bereich von Metzner, "Bedeutung physikalischer Sätze in der Literatur", 9ff.
29 Ebd., 4.
30 Benn, Weinhaus Wolf, Gesammelte Werke in vier Bänden, II, 149.
31 Rayuela, 42/42.
32 Ebd., 161/163.
33 Ebd., 47/47.
34 Ebd., 314/315.
35 Laas und Schröder, Samuel Beckett, 39-49.
36 Rayuela , 225/226.
37 Vgl. auch Louis Parkinson Zamora, "European Intertextuality in Vargas Llosa and Cortazar", Comparative Literature Studies, 19 (1982), 21-38.
38 Rayue1a , 227/228.
39 Dieser rezeptionsästhetisch relevante Aspekt ist von der frühen Rayuela-Kritik als die eigentlich romanhistorisch bedeutsame Leistung dieses epischen Werkes herausgestrichen worden. Einer der frühen "Rayuela"-Rezensenten, Carlos Fuentes, selbst einer der bedeutendsten südamerikanischen Romanautoren, schreibt 1966 in der Zeitschrift "Mundo Nuevo": "Una 'tabla de instrucciones ' compléta la estructura solo para empezar a transfigurar1 a : la novela puede ser leida una primera vez de corrido, y una segunda vez siquiendo la tabla de instruccio- nes. Pero esta segunda lectura solo abre la puerta a una ter- cera, y, sospechamos al infinito de la verdadera lectura." Vgl. dazu auch die weiteren Ausführungen Fuentes' unter dem Titel " ‘Rayuela’: La novela como caja de Pandora", Mundo Nuevo, 9 (1966), 67-69.
40 Rayuela , 453/457.
41 Ebd., 454/457.
42 Ebd., 339/341.
43 Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 13.
44 Sambursky, "Kant in der Perspektive der Physik des 20. Jahrhunderts", Naturerkenntnis und Weltbild, 251.
45 Ebd., 320.
46 Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, 53.
47 Prigogine, Dialog mit der Natur, 2Q4f.
48 Ebd., 267.
49 Rayue1a, 191/193.
50 Ebd., 159/161.
51 Ebd., 41/41.
52 Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik, 26.
53 Theile, "Poetik und Wirklichkeitsbewußtsein im lateinamerikanischen Roman. Asturias, Cortâzar", Immanente Poetik des Romans, 131.
54 Lorenz, Die zeitgenössische Literatur in Lateinamerika, 163.
55 Vgl. zu den Kontakten zwischen Rayuela und Nouveau Roman auch Pollmann, Der Neue Roman in Frankreich und Lateinamerika, 211-218.
56 Sarraute, L'ere du soupçon, 1956.
57 Robbe-Grillet, Pour un nouveau roman, 1963.
58 Ebd., 4
59 Vgl. hierzu die Einleitung von Heitmann, "Der Roman und das Erzählen. Die heutige französische Theoriebildung", Der französische Roman, I, 24ff.
60 Ricardou, "Esquisse d'une théorie des générateurs", Positions et Oppositions sur le roman contemporain, 193-151. Problèmes du nouveau roman 1971. 711 Ricardous Konzept eines avantgardistischen Romans, vgl. auch Hempfer, "Nouveau Roman und Literaturtheorie. Zu einigen Arbeiten zum Nouveau Roman", Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 82 (1972), 71
61 Zu den unterscheidenden Merkmalen zwischen Nouveau Roman und Nouveau, Nouveau Roman vgl. den Aufsatz von Wehle, "Proteus im Spiegel. Zum 'reflexiven Realismus' des Nouveau Roman", Nouveau Roman, 1-30.
62 Ricardou, Pour un théorie de nouveau roman, 263f.
63 Butor, Essais sur le roman, 10.
64 Heitmann, Der Roman und das Erzählen, 28f.
65 In der Bibliothek Morellis findet Ronald im 102. Kapitel einen Zettel mit einer Notiz aus Hofmannsthals Brief des Lord Chandos.
66 Hempfer, Post Strukturale Texttheorie und narrative Praxis, 95.
67 Der Autor selbst legt Wert darauf, daß der Leser Morellis erzähltheoretische und romanästhetische Äußerungen zu einer relativ kohärenten Aussage über die Bedingungen des modernen Erzählers zusammenfügen kann. Cortazar hat die Stellungnahmen Morellis gesondert in einem isolierten Bändchen herausgegeben. Vgl. dazu Cortazar, La Casilla de los Morelli. Barcelona 1973.
68 Vgl. hierzu auch die Prosastücke "Morelliana, siempre" und "Casilla del camaleon", La vuelta al dia en ochenta mundos, H 1, 55ff .
69 Vgl. zu dem Thema Realismusbegriff der Tel Queliens auch Butters, "Abenteuer des Schreibens, statt des Schreibens von Abenteuern. Jean Ricardou zur Theorie des 'nouveau roman'". Erzählforschung, III, 275-293.
70 Rayuela , 491/492.
71 Zu den philosophischen Implikaten des "êcirture"-Begriffs als "weltkonstituierendes Prinzip schlechthin", vgl. Hempfer, Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, 26.
72 Vgl. Heitmann, Der Roman und das Erzählen, 2.
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- Dr. Paul Forssbohm (Author), 1988, Formen des Offenen. "Der Zauberberg" von Thomas Mann, die "Oxen of the Sun"-Episode im "Ulysses" von James Joyce und "Rayuela" von Julio Cortázar (Band 4), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/901478
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