Diese Arbeit befasst sich mit den Entwicklungen in der polnischen Sprache in der Zeit nach 1989. Es werden Einflüsse der politischen und gesellschaftlichen Transformation und Demokratisierung sowie der westlich orientierten Massenkultur auf die Sprache näher beleuchtet. Da die einzelnen Entwicklungsprozesse in einer Sprache nicht isoliert und in einem präzise abgezeichneten zeitlichen Rahmen verlaufen, wird an einigen Stellen auf Entwicklungsstufen vorheriger historischer Zeiträume verwiesen, die eine wesentliche Bedeutung für die Aussagen und Thesen dieser Arbeit haben. Es wird die Phase des Sprachpurismus nach 1918 sowie die darauf folgende Festlegung einer Norm für die Standardsprache.
Des Weiteren werden soziolinguistische Einflüsse der Demokratisierung beleuchtet, die sich auf das Bewusstsein der Polen, ihrer Einstellung zu sich und der Welt sowie auf ein verändertes Wertesystem auswirken. Diese Einflüsse finden auch in der polnischen Sprache ihren Ausdruck.
Es werden die allgemeine Tendenz zur Umgangssprache in der polnischen Standardsprache und die damit verbundene Vereinfachung des sprachlichen Systems angesprochen. Die Mode zur Umgangsprache wurde 1989 als Gegenpol zur Nowomowa „Neusprache“, der ideologisierten Sprache des alten Systems, durch die Medien verbreitet.
Es werden Aspekte der Mediensprache vor dem Hintergrund einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft beleuchtet. Deutlich wird, wie sich Medien einerseits vor dem Hintergrund des Kampfes um die Quoten diverser sprachlicher Mittel bedienen und andererseits als Übermittler von sprachlichen Innovationen fungieren.
Die zuvor sehr traditionsbewusste Einstellung der Polen zu ihrer Sprache verändert sich nun mithilfe eines kreativen und spielerischen Sprachgebrauchs.
Ferner wird expliziter und konkreter auf Veränderungen in der Sprache eingegangen, die zum einen interne und zum anderen externe Gründe haben. Als interner Einfluss auf die Sprachentwicklung wird der allgemeine durch Fortschritt in der Wirtschaft, Technik und der Medien sowie die Städteexpansion bedingte Bedarf nach neuen Bezeichnungen genannt. Externe Einflüsse auf die Sprachentwicklung haben sich in Form von Fremdentlehnungen und der allgemeinen Tendenz zur Übernahme von fremden Mustern sowie deren Eingliederung ins polnische System ausgewirkt.
INHALT
1. Einführung
2. Allgemeine Veränderungen: Geschichte, Gesellschaft und Sprache
2.1 Sprachpurismus und Sprachnormierung als wichtige Voraussetzungen für weitere Veränderungen in der polnischen Sprache des 20. Jahrhunderts
2.2 Gesellschaft, Wertesystem und nationales Bewusstsein: Das Weltbild der Polen und die Sprache
3. Abkehr von den Sprachnormen: Das neue Primat der Umgangssprache
3.1 Vermischung der Sprachkodes Umgangssprache und offizielle Sprache
3.2 Liberalisierung in den Anredeformen
3.3 Massenmedien im Wettbewerb um den Verbraucher
4 Konkrete Bestimmungen einiger Veränderungen im sprachlichen System
4.1 Intern beeinflusste Entwicklungen: Demokratisierung, Expansion der Subsprachen und die Universalisierung des grammatischen Systems
4.1.1 Gesellschaftliche und politische Veränderungen bewirken einen Bedarf nach neuer Lexik
4.1.2 Einfluss der Subsprachen auf die Standardsprache
4.1.3 Universalisierung- und Vereinfachungsmechanismen im System
4.2 Extern beeinflusste Entwicklungen
4.2.1 Fremdentlehnungen und die Übernahme von fremden Mustern
4.2.2 Der Einfluss von Fremdentlehnungen auf die erhöhte Produktivität bestimmter Morpheme
5. Schlusswort
Bibliographie
1. Einführung
Diese Arbeit befasst sich mit den Entwicklungen in der polnischen Sprache in der Zeit nach 1989. Es werden Einflüsse der politischen und gesellschaftlichen Transformation und Demokratisierung sowie der westlich orientierten Massenkultur auf die Sprache näher beleuchtet. Da die einzelnen Entwicklungsprozesse in einer Sprache nicht isoliert und in einem präzise abgezeichneten zeitlichen Rahmen verlaufen, wird an einigen Stellen auf Entwicklungsstufen vorheriger historischer Zeiträume verwiesen, die eine wesentliche Bedeutung für die Aussagen und Thesen dieser Arbeit haben.
Massenkultur bezeichnet alles von Musikkultur bis zur Popliteratur, von Showbusiness bis Mode, Design, Trendsportarten, Film, Teilen der Fernsehkultur oder Politik, was nicht als Kultur im Sinne von Kunst, Musik und Literatur im Sinne der definierten Elite (Hochkultur) wahrgenommen wird.1 Massenkultur funktioniert nach bestimmten Mechanismen. Einerseits dem der Ambivalenz und der Aufhebung scheinbarer Gegensätze wie Massen- und Elitenkultur, Kunst und Kapitalismus oder Virtualität und Realität. Andererseits strebt die Massenkultur stets nach Neuem, nach dem up- to- date- sein und dem Modeprinzip. Bei der Hervorbringung von Massenkultur und ihrer Verbreitung spielen die Medien eine zentrale Rolle.2
Zu dem gegenwärtigen Demokratisierungsprozess in Polen zählen eine demokratische Verfassung, individuelle Bürgerrechte und Partizipation, freie und geheime Wahlen, eine freie Presse und eine interessierte Öffentlichkeit. Die politische Transformation einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft bringt den Wettbewerb, berufliche Aufstiegschancen sowie das Recht auf individuelle Entwicklung und Verfolgung unterschiedlicher Lebensstile mit sich. Vor allem bedeutet die Demokratisierung den Zugang zu Massenmedien und das Recht auf Bildung. So kann man die politische Transformation und Demokratisierung in Polen als Fundament der Entwicklungen in der Sprache sehen, während die Einflüsse der westlich orientierten Massenkultur als ihr Motor fungieren. Die Demokratisierung hat durch die Liquidierung der Zensur und Liberalisierung des Umgangs mit der Sprache die Voraussetzung für die Veränderungen geschaffen. Die für die Massenkultur typischen Merkmale der ständigen Erneuerung und der Grenzüberschreitungen haben womöglich die Dynamik in der Veränderung der polnischen Sprache ausgelöst. Diese Dynamik wird von dem Transport der Veränderungen durch die Medien verstärkt.
Diese Arbeit befasst sich mit den Veränderungen in der polnischen Standardsprache, die sich in Folge der nach 1989 eingetretenen dynamischen Entwicklungsphase manifestierten. Es werden die für die heutige Entwicklung der polnischen Sprache ausschlaggebenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts beleuchtet, die sich auf die Phase des Sprachpurismus nach 1918 beziehen, sowie die darauf folgende Festlegung einer Norm für die Standardsprache. Den Bedarf für die Festlegung einer allgemeingültigen Norm für die Standardsprache löste die Popularisierung der mittleren und höheren Bildung und die damit verbundene Vermischung von Subsprachen mit der Standardsprache aus.
Des Weiteren werden soziolinguistische Einflüsse der Demokratisierung beleuchtet, die sich auf das Bewusstsein der Polen, ihrer Einstellung zu sich und der Welt sowie auf ein verändertes Wertesystem auswirken. Diese Einflüsse finden auch in der polnischen Sprache ihren Ausdruck. Vor dem Hintergrund, dass eine Sprache immer auch das Bewusstsein der Sprecher und der Sprachgemeinschaft widerspiegelt, müssen die Veränderungen auf der sprachlichen Ebene im Kontext eines Wandels des Bewusstseins der polnischen Bevölkerung betrachtet werden.
Es werden die allgemeine Tendenz zur Umgangssprache in der polnischen Standardsprache und die damit verbundene Vereinfachung des sprachlichen Systems angesprochen. Die Mode zur Umgangsprache wurde 1989 als Gegenpol zur Nowomowa „Neusprache“ í der ideologisierten Sprache des alten Systems í durch die Medien verbreitet.
Ein wichtiger Bestandteil umgangssprachlicher Einflüsse in der Sprache stellt die Veränderung der Höflichkeits- und Anredeformen dar, die zu einer vermehrten Überschreitung von Distanz und Tabus führt.
Im Folgenden werden Aspekte der Mediensprache vor dem Hintergrund einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft beleuchtet. Es wird deutlich, wie sich Medien einerseits vor dem Hintergrund des Kampfes um die Quoten diverser sprachlicher Mittel bedienen und andererseits als Übermittler von sprachlichen Innovationen fungieren. Es wird die veränderte, zuvor sehr traditionsbewusste Einstellung der Polen zu ihrer Sprache beleuchtet, die sich nun in einem kreativen und spielerischen Sprachgebrauch äußert.
Ferner wird expliziter und konkreter auf Veränderungen in der Sprache eingegangen, die zum einen interne und zum anderen externe Gründe haben. Als interner Einfluss auf die Sprachentwicklung wird der allgemeine durch Fortschritt in der Wirtschaft, Technik und der Medien sowie die Städteexpansion bedingtem Bedarf nach neuen Bezeichnungen genannt. Es werden konkrete Beispiele aus der Phraseologie genannt, die den Einfluss von Subsprachen auf die Standardsprache dokumentieren.
Mit Hilfe von Beispielen aus der Flexion, Syntax und Phonetik wird beschrieben, wie die umgangssprachliche Tendenz und unkonventionelle Einstellung zur Sprache Veränderungen durch zunächst fehlerhaften Sprachgebrauch in der polnischen Sprache ausgelöst haben, deren Folgen sich nach und nach durch die allgemeine Neigung zur Vereinfachung des Systems manifestierten.
Externe Einflüsse auf die Sprachentwicklung haben sich in Form von Fremdentlehnungen und der allgemeinen Tendenz zur Übernahme von fremden Mustern sowie deren Eingliederung ins polnische System ausgewirkt. Der hohe Anstieg von Fremdentlehnungen im Polnischen hat mitunter Veränderungen im grammatischen System verursacht, auf die näher eingegangen wird.
Der Begriff Anglizismus umfasst in dieser Arbeit die Einflüsse der englischen Sprache, die im starken Zusammenhang mit der amerikanischen Kultur, insbesondere durch den amerikanischen Lebensstil stehen.
Beispiele und Zitate aus der polnischen Sprache sind kursiv gekennzeichnet, auf die entweder im Text oder in der Fußnote eine nicht-kursive deutsche Übersetzung folgt. Das Zeichen „~“ steht für eine sinngemäße Übersetzung.
2. Allgemeine Veränderungen: Geschichte, Gesellschaft und Sprache
Die derzeitigen Veränderungen in der polnischen Sprache dürfen nicht isoliert von den historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts gesehen werden, denn diese haben die Voraussetzungen für derzeitige Entwicklungen geschaffen.
Im Folgenden wird die Phase nach der Unabhängigkeitserlangung im Jahre 1918 beleuchtet, in der es seitens der Sprachpuristen Bemühungen gab, die Sprache von stark verbreiteten Fremdeinflüssen zu befreien. Zu der Zeit hatte die Befreiung der Sprache von Fremdentlehnungen für die Polen eine große Bedeutung, da sie eine Befreiung von den Besatzungsmächten symbolisierte. Diese Bereinigung der polnischen Sprache war bereits das Fundament für die Schaffung einer neuen Sprachnorm. Zunächst war die Bestimmung einer polnischen Sprachnorm der höheren Intellektuellenschichten, der so genannten Inteligencja vorbehalten, die sich stets um die Erhaltung eines hohen Stils bemühte. Dies änderte sich mit der Popularisierung der Bildung, die eine Vermischung des hohen Stils mit den regionalen Dialekten und Fachjargons bewirkte. Die daraus folgenden maßgeblichen Entwicklungen in der Sprache wurden Mitte des 20. Jahrhunderts in neuen Wörterbüchern und Grammatiken festgehalten, so dass eine neue Norm für die nun allgemeine Standardsprache entstand.
Auf gesellschaftlicher Ebene bewirkte der Demokratisierungsprozess nach 1989 Veränderungen im polnischen Bewusstsein, die gleichfalls ihren Ausdruck auf sprachlicher Ebene fanden. Diese Veränderungen beinhalteten eine Wandlung der Sicht auf die eigene nationale Identität und die eigenen Wertvorstellungen, die sichüber den kulturellen Bezug zu den Nachbarstaaten definieren lassen. Polen scheint sich tendenziell mehr mit den Wertvorstellungen des Westens zu identifizieren, dass heißt mit West-Europa sowie USA. Dieses Wertesystem beinhaltet die Werte der westlichen Demokratien wie Freiheit, Liberalismus, Individualität, Marktwirtschaft und Konsum.
2.1 Sprachpurismus und Sprachnormierung als wichtige Voraussetzungen für weitere Veränderungen in der polnischen Sprache des 20. Jahrhunderts
Um ein besseres Verständnis für die neueren Entwicklungen in der polnischen Sprache zu ermöglichen, werden im Folgenden einige wesentliche Entwicklungsstufen in der polnischen Sprache im 20. Jahrhundert angesprochen.
Die Entwicklung der polnischen Sprache hat seit dem Umbruch 1989 und den dazu gehörenden politischen Umwälzungen in den ehemaligen Ostblockstaaten dynamische Züge angenommen.
Irina Bajerowa nennt in ihrem Aufsatz Podstawy rozwoju polszczyzny XX wieku einige wichtige historische Einflüsse des 20. Jahrhunderts auf die polnische Sprache. Sie ist der Ansicht, dass die Bereinigung der polnischen Sprache von Fremdeinflüssen, die Schaffung einer standardsprachlichen Norm sowie die erneute Bereicherung der Sprache durch neue Lexik die Basis für die sprachliche Evolution des Polnischen im 20. Jahrhundert bildet. Die polnische Sprache war vor der polnischen Unabhängigkeit 1918 von preußischen und russischen Einflüssen betroffen. Wichtige Grundlage für die spätere Auseinandersetzung der Polen mit der eigenen Sprache war zunächst die Pflege der Literatursprache während der Zeit der Fremdherrschaft, insbesondere durch die so genannte Inteligencja. Die Inteligencja existierte seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Polen und stellte die gebildete Schicht oder auch Elite Polens dar, die es sich zur Aufgabe machte, Kulturgüter zu schaffen und zu erhalten. Die Zeit während der Fremdherrschaft 1772 bis 1918 war die Blütezeit der polnischen Romantik. Die Literatur wurde zur wichtigsten inneren Kraft und zum Symbol des Zusammenhalts der Polen während dieser schwierigen Zeit. Bajerowa betont, dass die Phase der Fremdeinflüsse durch die deutschen, österreichischen und russischen Besatzungsmächte eine wichtige Entwicklungsstufe darstellt, denn diese ermöglichte erst die danach folgende Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein für die eigene nationale Sprache und Identität.3
Der Fremdeinflüsse versuchte man sich mit der beginnenden Unabhängigkeitseuphorie nach 1918 zu entledigen. Der Kampf der Sprachpuristen gegen Germanismen und Russizismen zog sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hin.
Die erste Normierung der Orthographie trat in der Zeit der Veröffentlichungen der Akademia Umiej tno ci in den Jahren 1830 und 1891 auf.4 Es fand ebenso in der Phonetik ein Normierungsprozess statt, um eine Vereinfachung der Sprache zu erzielen. Dies bewirkte den Verlust von schwer auszusprechenden Formen wie pisek „Verschwörung“, ro(laü „ausschütten“.5 Wichtige Entwicklungen in der Flexion fanden in der Zeit um die Jahrhundertwende statt, und konkurrierende Formen respektive Archaismen verschwanden nach und nach aus dem Sprachgebrauch. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden wichtige Entwicklungen in der Normierung der Morphologie und Syntax statt. Es verschwanden im großen Umfang Homonyme und Wörter, die unklar in der Bedeutung waren oder alsüberflüssig erachtet wurden. Es entstand die allgemeine und bis heute wirkende Tendenz der Universalisierung, Kürzung und Vereinfachung des sprachlichen Systems.
Andrzej Markowski hat in seinem Aufsatz Ewolucja normy w polszczy(nie XX wieku6 die drei wichtigsten Phasen der Entwicklung der polnischen Sprachnorm im 20. Jahrhundert zusammengefasst. Zusammenfassend ist für die Entwicklung der polnischen Sprache folgendes festzuhalten:
1. Die Sprache der gebildeten Schicht oder Inteligencja war durch eine alte und stabilisierte Form charakterisiert, die vor dem Ersten Weltkrieg galt.
2. Die Sprache der Allgemeinheit besaß eine neue und dynamische Form, die für die Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg kennzeichnend war.
3. Die Sprache der Allgemeinheit, die sich in „offiziell“ und „inoffiziell“ einteilen lässt und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute betrifft.
Anfang des 20. Jahrhunderts galt die Sprache der Inteligencja als Sprachnorm. Hierbei ist in erster Linie die alltägliche Umgangssprache gemeint, die jedoch von gewählter Ausdrucksweise und grammatischer Korrektheit gekennzeichnet war. Die Sprache der Inteligencja bildete die Grundlage zur Kodifizierung der damaligen polnischen Sprachnorm, zum Beispiel in Form von Grammatiken und Wörterbüchern. Die Popularisierung der mittleren und höheren Bildung in der Zwischenkriegszeit bewirkte viele Veränderungen in der Sprache, die zu einer neuen Sprachnormierung führten. Diese Entwicklungen haben mit der Vermischung von Subsprachen und der allgemeinen Standardsprache zu tun. Die Popularisierung der Bildung und der Sprache waren bereits Vorläufer und Vorbereiter der heutigen Massengesellschaft und Massenkultur. Die breite Bevölkerungsschicht erhielt Zugang zur Bildung und zu der Sprache der gebildeten Schicht sowie zu den der Inteligencja vorbehaltenen Berufsgruppen. Die der Mittelschicht nun ermöglichte Unabhängigkeit in den Bereichen der Bildung und Arbeit führte zur Vermischung von Standardsprache sowie regionalen Subsprachen und Jargons. In dieser Phase ist es zu dynamischen Entwicklungen in der Sprache gekommen. Als Folge dieser Entwicklungen kam es zu einer Standardisierung und Normierung der allgemein gesprochenen polnischen Sprache. In elitären Kreisen wurde nun von der Krise der Sprache gesprochen:
Napáyw jest tak wielki i gwaátowny, *e dawne warstwy inteligencji, które w ci gu wielu pokole przechowywaáy tradycj j zyka kulturalnego, dzi nie mog tych nowych *ywioáów w siebie wcháonü i na swoj modá przerobiü. To nie mogáo pozostaü bez wpáywu na j zyk. Na usypany od wieków l d staáy polskiego j zyka literackiego uderzyáa gwaátown siá nowa fala, która tu i ówdzie zalewa wytwory dawnej tradycji i wyrzuca na powierzchni nowe obyczaje. Powstaje *ywioáowa walka mi dzy starym a rodz cym si wiatem. )aden z nich jeszcze nie zwyci *yá, pojednanie nie nast piáo, panuje niepewnoü i zamieszanie, j zyk przechodzi kryzys.7
Dieses Zitat von Stanisáaw Szober spiegelte die hitzige Auseinandersetzung der Traditionalisten und Sprachästhetiker mit den sehr plötzlichen populistischen Entwicklungen in der polnischen Sprache wider. Die Veränderungen in der Sprache, so fasst Markowski zusammen, äußerten sich in einem Zuwachs an Lexik, die für die Sprache der Intellektuellen untypisch war. Es entstand eine Opposition zwischen der Sprachnorm der Intellektuellen, der mowa inteligencka: mówiona/swobodna sowie pisana/staranna „die Sprache der Inteligencja: gesprochen/frei sowie geschrieben/bemüht“ und der neuen Norm der allgemeingültigen Standardsprache, der norma ogólno-spoáeczna: u*ytkowa/nowa „die allgemeingültige Sprachnorm: angewandt, neu“.8 Diese Norm der allgemeinen Standardsprache stellte zum ersten Mal die Sprache aller gesellschaftlichen Schichten dar. Sie beschränkte sich nicht mehr ausschließlich auf die Sprachanforderungen eines kleinen Kreises Intellektueller und Künstler.
Szober veröffentlichte im Jahr 1937 das Nachschlagewerk Sáownik ortoepiczny9, in dem er sich als einer der ersten um die Kodifizierung einer einzigen Sprachnorm bemühte. Er bezeichnete in der Einleitung die im Polnischen negativ besetzten Provinzialismen oder auch Regionalismen wie ten smycz „Hundeleine“, unnötige Entlehnungen, zum Beispiel szukaü za czym „etwas suchen“ und alle Formen, die ausschließlich von der ungebildeten Schicht benutzt wurden wie ta brzytew „Rasiermesser“, als inkorrekt und schloss sie aus der Standardsprache aus.
Trotz der neuen Entwicklungen und der allmählichen Abkehr von den sprachlichen Traditionen der Inteligencja, sind diese Traditionen dennoch als ein wichtiger Bestandteil in vieler Hinsicht erhalten geblieben. So hat es mithilfe traditioneller Elemente und vieler Neuerungen eine Entwicklung zu einer modernen Sprachnorm gegeben. Markowski betont zudem, dass die Entstehung dieser allgemeingültigen standardsprachlichen Norm eine Entwicklung auf der umgangssprachlichen Ebene nicht ausgeschlossen hat. Zum ersten Mal wurden umgangssprachliche Einträge in Wörterbüchern mit einbezogen und mit der Abkürzung „pot“ = potoczny, potocznie „umgangsprachlich“ markiert.10
Antonia Grybosiowa deutet ihrem Aufsatz O wspóáczesnym stosunku do normy j zykowej auf die Einflüsse auf die polnische Sprache in der Nachkriegszeit. Sie beleuchtet die Veränderungen in der polnischen Sprache, die auf die Anfänge der sprachlichen Integrationsprozesse in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzuführen sind.11 Zu dieser Zeit gab es eine Migrationswelle vom Land in die Kleinstadt und von der Kleinstadt in die Großstadt. Um sich in das neue Umfeld zu integrieren, waren die „Zuwanderer“ in den Städten gezwungen, sich auf der sprachlichen Ebene anzupassen. Dies führte zu einer Vermischung von Dialekt und allgemeingültiger Sprache, und es entstand eine Art Übergangskategorie: der dörfliche beziehungsweise regionale Substandard. Die Vermischung der Sprachkodes fand allerdings nicht nur zwischen Dialekten und allgemeingültiger Sprache statt. Grybosiowa spricht die Vermischung von Fachjargons innerhalb verschiedener Berufsgruppen an. Durch die Migration vom Land in die Stadt waren die Menschen in besonderem Maße herausgefordert, sich um eine neue Arbeit zu bemühen. Arbeitswechsel kamen sehr häufig vor und es war durchaus verbreitet, die eigene Spezialisierung außer Acht zu lassen und sich in völlig neue Berufsfelder zu integrieren. Dies begünstigte die Vermischung verschiedener Fachjargons.
Die Popularisierung der Bildung und auch die Weiterentwicklung der Medien wie Radio und später auch Fernsehen in der ersten Hälfte und Mitte des 20. Jahrhunderts bildeten die Grundlage für die heutige Massengesellschaft. Die Entstehung von Bildungsanstalten und die Ermöglichung der Bildung für breite Bevölkerungsschichten vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die Auswirkung der Festlegung einer neuen und liberalisierten Sprachnorm. Die heute stattfindende Tendenz zur Umgangssprache und die Ablösung von den starren Normen der polnischen Standardsprache ist die Folge der Popularisierungsprozesse in einer Massengesellschaft, die ihre Wurzeln in der Popularisierung der Bildung in der Zwischenkriegszeit sowie in den Integrationsprozessen in der Nachkriegszeit hat.
Markowski betont, dass man die heutige Anerkennung der Umgangssprache und der Dialekte und Mundarten als Folge der verstärkten Entwicklung zur Massenkultur und des mit ihr verbundenen Populismus sehen kann. Eine massenorientierte Kultur wird sich immer an dem sprachlichen Bedürfnis eines „Massen-Durchschnittes“ orientieren. Eine Demokratie unterstützt ebenso zwangsläufig die Massenkultur, da sie auf der Zufriedenstellung der Mehrheit beruht.
2.2 Gesellschaft, Wertesystem und nationales Bewusstsein: Das Weltbild der Polen und die Sprache
Der Begriff j zykowy obraz wiata „sprachliches Weltbild“ oder auch JOS ist zu einem bekannten Begriff in der polnischen Sprachwissenschaft der letzten Jahre geworden. Dieser Begriff steht im Zusammenhang mit einer holistischen Herangehensweise an die Sprachwissenschaft, die im ständigen Dialog zu anderen humanistischen Forschungsgebieten wie Kulturwissenschaften, Soziologie und kognitiver Psychologie steht. Die Betrachtung der Sprache unter dem Aspekt, dass sie auch als Ausdruck eines Weltbildes fungiert, wirft nach Jerzy Bartmi ski ein differenzierteres Licht auf die linguistischen Forschungsgebiete wie Grammatik, Semantik, Lexik und Syntax.12 Der Begriff JOS ist mit Erscheinen des Buches Encyklopedia wiedzy o j zyku polskim von Walery Pisarek im Jahre 1978 in Polen bekannt geworden. Parallel zu diesem Werk hat Bartmi ski im Jahre 1980 das Buch Sáownik ludowych stereotypów j zykowych veröffentlicht und beschäftigt sich seitdem mit der ethnolinguistischen Seite der polnischen Sprachwissenschaft.
Bartmi ski geht zunächst davon aus, dass man jeden, der ein Weltbild konzipiert, kulturell definieren kann. Jedes Individuum einer Gesellschaft konzipiert ein Weltbild, indem es sich selber wahrnimmt, bezeichnet und charakterisiert und sich in Beziehung zu dem Umfeld und den Traditionen stellt. Die Sprache als Spiegel der Verfassung ihrer Sprachgemeinschaft zeigt die Einstellung der Sprechenden zu sich, ihrer Kultur und der Welt. Die Einstellung der Polen zu ihrer Nation und ihren Nachbarn ist in diesem Kontext ein wesentlicher Aspekt. Es zeigt sich, dass die gesellschaftlichen Veränderungen, wie die Orientierung am westlichen Lebensstil, deutlich an der Sprache abzulesen sind.
Bartmi ski thematisiert in seinem Aufsatz O j zykowym obrazie wiata Polaków ko ca XX wieku das Thema des polnischen Weltbilds und dessen Einfluss auf die Entwicklungen und Veränderungen der Phraseologismen in der polnischen Sprache. Er beleuchtet das Thema unter folgenden sechs Aspekten:
1. Konzeption der eigenen Identität (Autostereotype) durch die Frage: Wer sind wir (die Polen)?
2. Konzeption der Wahrnehmung der anderen (Heterostereotype) mit der Frage: Wer sind sie (die anderen)?
3. Konzeption und Bestimmung unseres Platzes in der Welt.
4. Konzeption der Zeit, in der wir leben.
5. Konzeption unserer Werte in unserer Welt.
6. Bestimmung der Ausdrucksformen, die wir benutzen, unter Berücksichtigung der Kriterien Stil und Gattung.13
1. Eine im Jahre 1993 in Spotkania durchgeführte soziologische Studie ergab, dass 71,9 % von befragten Studenten die Frage Wer 14 bist du? mit Ich bin Pole. beantworteten. 69,6 % antworteten mit Frau oder Mann, 63,7 % antworteten Mensch, 32,7 % Katholik oder Protestant, 16,4 % Einwohner der Region X, 14,2 % Erdbewohner und 11 % Europäer. Das Bild, das die Polen von sich selber haben, spiegelt sich stark in den Phraseologismen und Sprichwörtern wider, die sie benutzen. Und so ist ein Auto-Porträt der Polen zu sehen, das nach Tokarski viele traditionelle Eigenschaften hat wie die rycersko-szlacheckie Eigenschaften des adligen, mutigen und vaterlandstreuen Ritters und eines gen Westen strebenden Katholiken mit gewissen sarmackimi Eigenschaften, welche die Bedeutung der negativen dekadenten Art der Adeligen haben.15 Bartmi ski hebt weiter hervor, dass die im Gebrauch befindlichen Phraseologismen meistens bereits vergangene Charakterzüge widerspiegeln. Einige Beispiele hierzu:
- (1600) Co Niemiec to kupiec, co Polak to *oánierz/szlachcic. „So wie der Deutsche ein Kaufmann ist, so ist der Pole ein Soldat/Adeliger.“
- (1699) Francuz zmy li, Niemiec zrobi, Polak gáupi wszystko kupi. „Der Franzose erfindet, der Deutsche tut es, und der dumme Pole kauft es.“
- (1832) Polak jako maápa: co ujrzy, to chce mieü. „Der Pole ist wie ein Affe: was er sieht, will er haben.“16
Im heutigen Polen existiert eher die Anlage zur Mythologisierung der eigenen Rolle, die sich oftmals in auffällig beflügelter Wortwahl äußert:
- Polska- przedmurzem chrze cija stwa „Polen - der Schutzwall des Christentums.“
- Polski los „Das polnische Schicksal“
- Polak, jedyny obro ca Maryi „Der Pole - der einzige Verteidiger Marias.“
- Hej, kto Polak na bagnety! „Der Pole, wie er mit dem Degen kämpft!“17
In soziolinguistischen Studien aus dem Jahre 1969 zählten die polnischen Befragten ihre Herkunft wie auch den Patriotismus, die Geselligkeit und Gastfreundschaft sowie Mut zu ihren wichtigsten Haupteigenschaften.18 Joanna Szadura erweiterte diese Eigenschaften mithilfe ihrer Studien einerseits um das historische Wissen, Katholizismus, Stolz, Freiheitsgebundenheit, Romantik, Aufopferungsgabe, andererseits um Faulheit und Alkoholmissbrauch.19
In den psycho-soziolinguistischen Studien der Jahre 1993-1994 sprachen sich die Studenten für folgende positive polnische Stereotype aus:
- psychisch-intellektuelle Eigenschaften wie Mut, Stolz, Intelligenz, Bildung, Klugheit;
- soziale Eigenschaften wie Geselligkeit, Ehrlichkeit, Unabhängigkeit;
- idealistische Eigenschaften wie Patriotismus, Religiosität.
Andererseits zählen zu den negativen Stereotypen dieser Studie: Alkoholismus, Faulheit, Hang zum Verschwenderischen.
Die positiven Attribute geben Eigenschaften eines kultivierten und christlichen Europäers wieder, und die negativen Eigenschaften, die im Gegensatz zu diesen stehen, beziehen sich auf niedrig angesehene, dem polnisch-bäuerlichen Umfeld zugeschriebene Eigenschaften.
2. Gleichermaßen wichtig für Selbstbestimmung und Identität der Polen ist die Bestimmung der „anderen“, von denen sie sich unterscheiden. So sind die Polen nicht nur geprägt durch ihr Selbstbild, sondern auch durch das Bild, welches sie von ihren Nachbarn haben. Für Bartmi ski haben der nationale Ethnozentrismus sowie die eigene Geschichte und die Tradition eine so hohe Bedeutung, wie auch das Streben der Polen in Richtung Modernismus im westlichen Stile. Hier betont der Autor, dass die wichtigsten Konzeptionen der Zukunft Polens mit den Deutschen und Russen zusammenhängen. Danach kommen die Juden, Amerikaner, Franzosen, Italiener, Tschechen, Ukrainer, Litauer und Slowaken. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Bezugswerte zu den Deutschen positiv, zu den Russen jedoch negativ ausfallen. 10 % der Polen hatten eine negative Einstellung zu den USA, aber 74 % zu Russland.20 Am positivsten fallen in Polen Stereotype von Deutschen und Juden aus. Am negativsten fallen Stereotype der Russen, dann in der Reihenfolge der Ukrainer, Tschechen, Slowaken, Litauer und am Ende der Skala die der Weißrussen aus. Den Deutschen ordnet man folgende Eigenschaften zu: arbeitsam, wirtschaftlich denkend, nationalistisch, sparsam, stolz, patriotisch, gebildet. Hervorstechend sind die Züge: wohlhabend und hochmütig. Den Juden sagt man folgende Eigenschaften nach, die denen der Deutschen ähneln: hochmütig, sparsam, wirtschaftlich denkend, religiös, wohlhabend, intelligent, arbeitsam, gebildet, patriotisch. Den Russen schreibt man die Eigenschaften eines „Trinkers“ sowie „Brutalität“, „Armut“ und „Schlampigkeit“ zu; dem Ukrainer sagt man nach, er sei „Patriot“, „Nationalist“, „unnachgiebig“ und „stolz“; die Slowaken werden mit „patriotisch“ und „fröhlich“ beschrieben; die Tschechen werden als „fröhlich“, „gesellig“ und „patriotisch“ charakterisiert; die Litauer als „traurig“, „sauber“, „patriotisch“ und „nationalistisch“.
Der kulturelle Kontrast zwischen den Deutschen und den Russen lässt sich kaumübersehen. Auch die Opposition zwischen Europa und Asien, zwischen West und Ost, wird hier sehr deutlich. Der Autor weist hier einmal auf den Unterschied zwischen den zugeordneten Eigenschaften der Tschechen und der Russen hin. Dem Tschechen werden die eher den Europäern zugeordneten Eigenschaften nachgesagt, wie „sauber“, „arbeitsam“ und „gesellig“, während den Russen und Asiaten eher Eigenschaften zugeschrieben werden, wie „arm“, „schlampig“ und „brutal“.21
Bartmi ski macht anhand der Studien deutlich, von welchen Nationalitäten die Polen ein positives Bild haben, an dem sie sich möglicherweise orientieren. Die Studien machen deutlich, dass die Polen ein positives Bild von West-Europäern haben. Der erstrebte Beitritt in die EU spiegelt diese Tendenz deutlich wider.
3. So wie sich das nationale Selbstbild als Konzeption in der Sprache widerspiegelt, so spielt auch die Konzeption der Zeit in der Sprache eine wesentliche Rolle. So bezieht sich Bartmi ski mit der Konzeption der Zeit auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Entwicklungen, auf die Veränderungen in der Gesellschaft und ihren Einfluss auf das Bewusstsein, das Verständnis und auf die Sprache. Hierzu gehört auch die Frage nach der Bedeutung der politischen Ereignisse und ihrer Einordnung in die Geschichte. Bartmi ski weist auf die Problematik der Auseinandersetzung der Polen mit den gegenwärtigen Ereignissen der Geschichte hin und zeigt, wie die polnische Sprache in vielerlei Hinsicht darauf hindeutet. Er bezieht sich auf die geschichtlichen Ereignisse nach der Wende und dem Mauerfall, die auch eine Wende in der polnischen Geschichte bedeuteten. Ein Schlagwort für diese Periode beziehungsweise Wendepunkt zu finden hat sich im Polnischen nicht durchgesetzt:
We wspóáecznym j zyku polskim nie mamy dot d jednej powszechnie przyj tej ‘diagnostycznej’ nazwy dla gáównego wydarzenia, które otworzyáo nowy okres narodowych dziejów, takiej, jaka utaráa si w j zyku czeskim („aksamitna rewolucja”), rosyjskim („pieriestrojka”, „glasnost”) czy niemieckim („Wende”).22 Das Scheitern, die Ereignisse der politischen Wende 1989 in einen handhabbaren Begriff zu fassen, bemerkt die Zeitung Gazeta Telewizyjna, als sie den Titel zu Jolanta KesslerChojecki’s Film Tamtego 1989 roku kommentiert:
’Tamtego 1989 roku’ - troch toporny tytuá, który ujawnia nasz wspóln bezradnoü w nazwaniu i opisie jednej z najwa*niejszych dat tego stulecia, a z pewnosci jednej z najlepszych rzeczy, która nam si przydarzyáa. Do 1989 roku o wolno ci i niepodlegáo ci nawet marzyü byáo trudno, bo wyobra(nia musi mieü jaki punkt zaczepienia. To si nie mogáo zdarzyü. A byáo oczywiste, *e tu si nigdy nic nie zmieni, przynajmniej póki nie rozleci si ZSRR - a to po pierwsze, nie jest mo*liwe za naszego *ycia, po drugie, mo*e si dokonaü strasznym kosztem jakiej wojny lub innej zawieruchy. Taki byá powszechny stan umysáów. (...) Mamy ‘rok 1989’. Skromniej nazwaü tego ju* nie mo*na.23
Das Fehlen einer eigenen Bezeichnung für dieses für die Polen so wichtige historische Ereignis deutet auf die Schwierigkeiten, die die Polen in der Auseinandersetzung 24 mit ihrer Geschichte haben.
4. Veränderungen und Verschiebungen in der Raumkonzeption werden ebenso in der Sprache widergespiegelt. Hier nennt Bartmi ski mehrere Anhaltspunkte. Zunächst spricht er die Ost-West-Achse an. Während Ost für die Polen eine negative Konnotation hat, hat West eine positive. In der Gazeta Wyborcza heißt es nach der Öffnung der Grenzen: „Nasz poci g jedzie na zachód ku kierunku stabilizacji, demokracji i dobrobytu .” „Unser Zug fährt in Richtung Westen, in Richtung Stabilisierung, Demokratie und Wohlstand.“
Er nennt die Brisanz des Themas Europa in den Zeitungen. Alles drehe sich zurzeit um Europa. Hier einige Beispiele aus der reichhaltigen Neuformation von Wörtern mit dem Präfix <euro->: eurocentrizm „Eurozentrismus“, euroczek „Euroscheck“, eurodolar „Eurodollar“, eurogrupa „Eurogruppe“, eurokomunizm „Eurokommunismus“, eurokonto „Eurokonto“, eurokrata „Eurokrat“, eurokuchnia „Euroküche“, euromarket „Euromarkt“, euroobligacja „Euroverpflichtung“, eurorakieta „Eurorakete“, euroregion „Euroregion“, euroskeptyk „Euroskeptiker“. Der Begriff europa wird nicht nur unter geographischen, sondern auch unter politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Aspekten gebraucht.25 Die Werte, die die Polen heutzutage als positiv bewerten, sind í ähnlich die der Amerikaner und West-Europäer í eng mit der einer westlich-marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft verknüpft. Arbeit, Geld und Erfolg stehen für den Polen an erster Stelle des Wertesystems, alte Begriffe wie trud/mozóá „Mühe, Anstrengung“ haben an Popularität verloren, Begriffe wie sukces „Erfolg“ haben an Popularität gewonnen. Auch das Wort oszcz dnoü „Sparsamkeit“ bekommt im Gegensatz zu alten Zeiten besonders in der Politik einen immer höheren Wert. Die Redewendung zastaw si , a postaw si „~ leih dir Geld, Hauptsache der Tisch ist für die Gäste gedeckt“ wird beliebter. Weitere Adjektive wie byü mobilnym „mobil sein“, byü rzutkim „dynamisch sein“, byü pomysáowym „einfallsreich sein“, byü ambitnym „ambitioniert sein“ gehören nun in das Alltagsvokabular.26
Des Weiteren wird die Raumkonzeption durch die Position bestimmt, die sich Polen selbst in Europa gibt. Polen zählt sich nicht zum idealisierten Westen, mit dem man in der Annäherungsphase ist, und auch nicht zum osteuropäischen Raum, dem die Polen nicht viel Beachtung schenken, sondern zum zentralen Europa (Europa rodkowa). Die Raumkonzeption der Polen ist auch von der Verschiebung der Betrachtungen und Bestimmungen des politischen Zentrums in Bezug zu Regionen und Peripherien beeinflusst. Vor 1989 war Moskau als Stadt das Zentrum des Geschehens, nun sind es Paris oder New York. Neue Begriffe wie metropolia „Hauptstadt“ (statt stolica) spiegeln das wider. Hinzu kommen Veränderungen in der Raumkonzeption auf der Ebene des Patriotismus und Regionalismus. Der frühere polnische Patriotismus weicht dem neuen europäischen Patriotismus. Es konkurrieren Begriffe wie Europa jako ojczyzna „Europa als Vaterland“ und Europa ojczyzn „Europa als Land der ‚Vaterländer’“. Der Patriotismus verlagert sich ins Regionale, in die nähere Umgebung und in den häuslichen Bereich, hier entsteht die Idee der Begriffe swojaki „~vertraute Menschen“, rodaki „Landsleute“, ziomki „~Landsleute auf regionaler Ebene“.27
5. Das gesellschaftliche Wertesystem als wichtiges Objekt der Sprachwissenschaften spielt
auch für Polen als ein neues Mitglied der Europäischen Union eine große Rolle, insbesondere weil Europa sich als moralische Einheit sieht. „Europa jest ciaáem moralnym, nie kosmicznym i geograficznym.“28 „Europa ist eine moralische Verkörperung, nicht kosmisch und nicht geographisch.“ Da Polen nun ein Teil des westlichen Europas ist, muss es sich mit dem westlichen wie auch dem eigenem Wertesystem erneut auseinandersetzen und seinen neuen Platz in Europa finden. In diesem Prozess befindet sich Polen seit 1990 und setzt sich beispielsweise mit Fragenüber die Abtreibung im Zusammenhang mit christlichen Werten auseinander.29
Im heutigen polnischen Wertesystem genießen - nach Bartmi ski - Begriffe wie Liebe und Familie, Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Arbeit, Glaube, Wahrheit, Vaterland, Gastfreundlichkeit und Geselligkeit, Gemeinschaftssinn und Demokratie einen hohen Stellenwert. Geschwächt wurde im Gegensatz dazu der Begriff Solidarnoü, der im Laufe der Jahre eine negative Konnotation bekam. Zunächst Inbegriff der Freiheit und Unabhängigkeit verwandelte sich seine Bedeutung in den Inbegriff des Misserfolgs und Scheitern einer Freiheitsbewegung.
Begriffe wie lud „Volk“, naród „Volk“, partia „Partei“, suwerennoü spóáeczna „gesellschaftliche Souveränität “, pa stwo „Staat“, wáadza „Macht“ haben ihre frühere Bedeutung verloren und verändert. Die damalige Bedeutung der Begriffe wie Regierung, Partei und Staatsmacht hatte immer eine negative Konnotation und wurde mit Ohnmacht und Unterdrückung durch das damalige politische System verbunden. Bartmi ski betont an dieser Stelle noch einmal die enge Verbindung zwischen Sprache und Wertesystem. Die Sprache kann man als Ausdruck eines existierenden Wertesystems sehen.
6. Zuletzt spricht Bartmi ski auch die multimedialen Kommunikationsmittel an, welche sich in den letzten Jahrzehnten durch die Computerisierung stark verbreitet haben. Die entstandene Kommunikations-Plattform des Internets bringt einerseits Veränderungen in den Konventionen mit sich, die mitunter bis hin zum Tabubruch in den Umgangsformen führen. Die Unverbindlichkeit und Anonymität eines Chats trägt stark zu einem veränderten sozialen und sprachlichen Verhalten bei. Andererseits bietet die Internet- Plattform Zugang zu Informationen zu unterschiedlichen Fachgebieten.
[...]
1 Hochschule Mannheim Fakultät der Gestaltung (24.02.1007)
2 Wikipedia. (24.02.2007)
3 Bajerowa, Irina. (2001:21)
4 Bajerowa, Irina. (2001:22)
5 Bajerowa, Irina. (2001:23)
6 Markowski, Andrzej. (2001:65-71)
7 Szober, Stanisáaw. (1937a:65): „Der Zustrom war so groß und rapide, dass frühere Schichten der Inteligencja, welche im Laufe der Generationen die Traditionen der gehobenen Sprache bewahrte, um heute die neuen Elemente nicht aufsaugen und sie zum eigenen Muster zu verwandeln. Das konnte nicht ohne Wirkung auf die Sprache bleiben. Auf den seit Jahrhunderten festen Boden der polnischen Literatursprache schlug mit abrupter Kraft eine neue Welle, die hier und da die Auswüchse der alten Traditionenüberschwemmt und neue Gewohnheiten an die Oberfläche bringt. Es entsteht ein harter Kampf zwischen der alten und neuen Welt. Noch hat keine von beiden den Kampf gewonnen und es hat noch keine Vereinigung stattgefunden, es herrscht Unsicherheit und Verwirrung, die Sprache durchlebt eine Krise.“
8 Markowski, Andrzej. (2001:68)
9 Szober, Stanisáaw. (1937b)
10 Markowski, Andrzej. (2001:70)
11 Grybosiowa, Antonia. (2003:52)
12 Bartmi ski, Jerzy. (2001:28)
13 Bartmi ski, Jerzy. (2001:34)
14 Spotkania. (1993/15)
15 Tokarski, Jerzy. (1990)
16 Bartmi ski, Jerzy. (2001:35)
17 Bartmi ski, Jerzy. (2001:35)
18 Káoskowska, Antonina. (1969)
19 Szadura, Joanna. (1993)
20 aus Bartmi ski, Jerzy. (2001:39). Gazeta Wyborcza: 4 XI 1999
21 Bartmi ski, Jerzy. (1995)
22 Bartmi ski, Jerzy. (2001:41): „In der heutigen polnischen Sprache gibt es bis keinen ‚diagnostischen’ Begriff für das Hauptereignis, welches eine neue Periode nationaler Geschichte eröffnete, einen solchen Begriff, wie er sich im Tschechischen („aksamitna rewolucja“), im Russischen („pieriestrojka“, „glasnost“) und im Deutschem („Wende“) durchsetzte.“
23 aus Bartmi ski, Jerzy. (2001:41). GT: 3-9 XII 1999: „’Damals 1989’ - ein etwas klobiger Titel, der uns unsere gemeinsame Ratlosigkeit in der Bezeichnung und Beschreibung eines der wichtigsten Ereignisse dieses Jahrhunderts vors Gesicht hält, und mit Sicherheit eines der besten Dinge, die uns passieren konnten. Bis 1989 war es sogar schwierig, von Freiheit und Unabhängigkeit zu träumen, denn die Vorstellungskraft muss ja einen realistischen Anhaltspunkt haben. Das konnte nicht passieren. Aber es war sogar selbstverständlich, dass sich hier niemals etwas ändern wird, solange die Sowjetunion nicht auseinander fällt - und das war erstens zu unseren Lebzeiten nicht möglich, zweitens konnte es sich als hoher Preis eines Krieges oder anderer „Kriegswirren“ erweisen. So war der letzte Geisteszustand.“
24 aus Bartmi ski, Jerzy. (2001:44), GW: 13-14 I 2001
25 aus Bartmi ski, Jerzy. (2001:45)
26 Majkowska, Gra*yna & Satkiewicz, Halina. (1999:184)
27 Bartmi ski, Jerzy. (2001:47)
28 Bartmi ski, Jerzy. (2001:47)
29 Bartmi ski, Jerzy. (2001:48)
- Arbeit zitieren
- Magister Agnes Weinberger (Autor:in), 2007, Die polnische Sprache im Wandel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89483
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