In dieser Arbeit sollen folgende Forschungsfragen untersucht werden: Welche Merkmale hat pädagogische Diagnostik und welche diagnostischen Methoden können unterschieden werden, um Lernvoraussetzungen und Lernfortschritte zutreffend zu diagnostizieren? Inwiefern kann eine diagnostische Expertise zu einem adäquaten Umgang mit heterogenen SuS-Populationen beitragen, um einen guten Unterricht, im Sinne von sich verbessernden Lernleistungen der SuS, zu gewährleisten?
Vor allem berufliche Schulen sind von einer zunehmenden Heterogenität innerhalb ihrer Schülerinnen- und Schülerpopulation geprägt. Diese Tatsache bietet Lehrkräften enorme Chancen und Potentiale für die Gestaltung eines gewinnbringenden und lernwirksamen Unterrichts. Um die positiven Effekte der Heterogenität für die Unterrichtsgestaltung nutzen zu können, müssen die entsprechenden Heterogenitätsmerkmale von der Lehrperson erkannt werden. Neben impliziten Diagnosen, welche als eher ungenau gelten, gibt es explizite Diagnostik-Verfahren, die den Lehrerinnen und Lehrern bei der Urteilsbildung über die individuellen Vielfältigkeitsmerkmale ihrer Schülerinnen und Schüler helfen können. Studien bestätigen einen positiven Zusammenhang zwischen den diagnostischen Fähigkeiten von Lehrkräften in Kombination mit einer adäquaten pädagogisch-didaktischen Umsetzung und den Lernleistungen der Lernenden. Daher ist es die Aufgabe der Lehrerinnen- und Lehrerbildung auf eine gute Förderung dieser Fähigkeiten zu achten.
Inhaltsverzeichnis
1. Problemstellung
2. Merkmale beruflicher Schulen
3. Der Heterogenitätsbegriff und dessen Merkmale
3.1 Heterogenität im Allgemeinen
3.2 Schulische Heterogenität
3.2.1 Vertikale Heterogenität
3.2.2 Horizontale Heterogenität
3.3 Heterogenität an beruflichen Schulen
3.3.1 Alter der Schülerinnen und Schüler
3.3.2 Herkunft der Schülerinnen und Schüler
3.3.3 Vorbildung der Schülerinnen und Schüler
3.4 Chancen und Potentiale von Heterogenität – Erkenntnisse aus der Forschung
4. Diagnostik
4.1 Die pädagogische Diagnostik
4.2 Implizite versus explizite Diagnostik
4.3 Anlässe für explizite Diagnostik
4.3.1 Feststellen von Lernvoraussetzungen der SuS
4.3.2 Leistungsmessung als Diagnostik des Lernstandes bzw. der Schulleistung in verschiedenen Sachfächern
4.3.3 Leistungsmessung als Diagnostik des Lernprozesses /-verlaufs und des Lernfortschritts
4.3.4 Diagnostik im Rahmen der Unterrichtsplanung
4.3.5 Analyse des eigenen Unterrichts
4.3.6 Überprüfung der eigenen Bewertung und Zensurengebung
4.3.7 Diagnostik der Ausgangslage vor jeder längerfristigen Förderung/Nachhilfe
4.3.8 Diagnostik bei wichtigen Schullaufbahnentscheidungen
4.3.9 Diagnostik bei Lernproblemen
4.3.10 Diagnostik von sozialen Kompetenzen und Sozialverhalten
4.4 Ziele der pädagogischen Diagnostik
4.5 Rechtliche und ethische Voraussetzungen für explizite Diagnostik
4.6 Das diagnostische Vorgehen
4.6.1 Die Notwendigkeit von Standards in der Diagnostik
4.6.2 Der diagnostische Prozess
4.6.2.1 Prozessmodell nach Hesse & Latzko (2017, 64) in Anlehnung an Lukesch (1998 )
4.6.2.2 Prozessmodell nach Vogt (2011, 3)
4.6.2.3 Kritik an dargestellten Prozessmodellen und der „diagnostische Optimismus“
4.6.3 Diagnostische Methoden
4.6.3.1 Die diagnostische Beobachtung
4.6.3.2 Die diagnostische Befragung/das diagnostische Gespräch
4.6.3.3 Der diagnostische Test
5. Zur diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften
5.1 Empirische Befunde
5.1.1 Zusammenhang zwischen diagnostischer Kompetenz und Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler
5.1.2 Urteilsgenauigkeit von Lehrkräften
5.2 Typische Beurteilungsfehler
5.2.1 Halo-Effekt
5.2.2 Tendenz zur Mitte
5.2.3 Extremisierungstendenz
5.2.4 Pygmalion-Effekt und Logischer Fehler
5.2.5 Referenzfehler
6. Qualitätssteigerung diagnostischer Urteile
6.1 Unterscheidung diagnostische Kompetenz und diagnostische Expertise
6.2 Aus- und Weiterbildung diagnostischer Expertise
6.2.1 Erste Phase der Lehrerinnen- und Lehrerbildung
6.2.1.1 Ziele der universitären Ausbildung
6.2.1.2 Die Fallarbeit zur Förderung der Diagnosekompetenz
6.2.2 Zweite Phase der Lehrerinnen- und Lehrerbildung
6.2.2.1 Die Stellung der pädagogischen Diagnostik innerhalb der zweiten Phase
6.2.2.2 Das Tagebuch zur Förderung der Diagnosekompetenz
6.2.3 Dritte Phase der Lehrerinnen- und Lehrerbildung
6.2.4 Schlussfolgerung aus den drei Phasen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Danksagung
Mit der vorliegenden Master-Thesis endet mein Studium der Wirtschaftspädagogik an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Personen bedanken, die mich dazu animiert haben, mich noch einmal beruflich zu verändern und meinen Traumberuf des Lehrers zu verfolgen. Die Entscheidung nach acht Jahren im Berufsleben noch einmal ein Vollzeitstudium zu beginnen viel keineswegs leicht.
Ich danke meiner Verlobten Manuela, meiner Schwester Katharina, meiner Mutter sowie meinem guten Freund Daniel für die motivierenden Worte, die die Entscheidung zumindest teilweise erleichtert haben. Ein ganz besonderer Dank gilt auch all den Auszubildenden, die ich während der Zeit in meinem früheren Beruf kennenlernen, betreuen und schulen durfte. Erst durch die Arbeit mit Euch erkannte ich, welche Freude mir die lehrende Tätigkeit bereitet.
Manuela möchte ich auch für die seelische Unterstützung danken, wenn es im Studium mal etwas turbulenter wurde. Danke auch für Deine Hilfe bei der Klausurenvorbereitung und für das Korrekturlesen meiner Arbeiten.
Zu guter Letzt verdienen auch meine Kommilitonen und Freunde Jonas, Michael, Daniel und Sebastian ein herzliches Dankeschön für zwei sehr schöne Jahre in Bamberg mit viel Spaß und schönen Erlebnissen, die in Erinnerung bleiben.
Abstract
Vor allem berufliche Schulen sind von einer zunehmenden Heterogenität innerhalb ihrer Schülerinnen- und Schülerpopulation geprägt. Diese Tatsache bietet Lehrkräften enorme Chancen und Potentiale für die Gestaltung eines gewinnbringenden und lernwirksamen Unterrichts. Um die positiven Effekte der Heterogenität für die Unterrichtsgestaltung nutzen zu können, müssen die entsprechenden Heterogenitätsmerkmale von der Lehrperson erkannt werden. Neben impliziten Diagnosen, welche als eher ungenau gelten, gibt es explizite Diagnostik-Verfahren, die den Lehrerinnen und Lehrern bei der Urteilsbildung über die individuellen Vielfältigkeitsmerkmale ihrer Schülerinnen und Schüler helfen können. Studien bestätigen einen positiven Zusammenhang zwischen den diagnostischen Fähigkeiten von Lehrkräften in Kombination mit einer adäquaten pädagogisch-didaktischen Umsetzung und den Lernleistungen der Lernenden. Daher ist es die Aufgabe der Lehrerinnen- und Lehrerbildung auf eine gute Förderung dieser Fähigkeiten zu achten.
Especially vocational schools are characterized by an increasing heterogeneity within their students. This fact offers teachers enormous opportunities and potential for the design of profitable and learning-oriented lessons. In order to be able to use the positive effects of heterogeneity on the learners‘ performance, teachers have to recognize their students‘ individual heterogeneous characteristics. In addition to implicit diagnoses, which are considered to be rather imprecise, there are explicit diagnostic methods which can help teachers in the assessment process on the individual diversity characteristics of their students. Studies confirm a positive correlation between the diagnostic abilities of teachers in combination with an adequate pedagogical-didactic implementation and the learning performance of the learners. Therefore, the task of teacher training must be to ensure a good development of these skills.
1. Problemstellung
Im deutschen Schulwesen gehört das Thema Heterogenität zum alltäglichen Phänomen des Unterrichtsalltags. Sowohl Lehrkräfte als auch Schülerinnen und Schüler (SuS) erfahren im Schulalltag, wie sehr sich Lernende bezüglicher verschiedener Merkmale voneinander unterscheiden (Bräu & Schwerdt 2005, 19). Da grundsätzlich alle SuS unterschiedlichster Vorbildungs-Vita in die Berufsausbildung münden können, stehen vor allem berufliche Schulen vor der Aufgabe, sich mit Heterogenität auseinandersetzen zu müssen (Westhoff & Ernst 2011, 49ff.). Doch nicht nur die Vorbildung stellt ein Unterschiedlichkeitsmerkmal dar. Albrecht, Ernst, Westhoff & Zauritz (2014, 8) haben eine Fülle von Heterogenitätsaspekten von SuS in der beruflichen Bildung definiert. Diese Vielfalt der SuS bezüglich verschiedenster Merkmale, wie etwa Lernvoraussetzungen, kulturelle Besonderheiten, Interessen usw., sollte nicht als Hindernis gesehen werden, das durch das Anstreben von Homogenisierung vermieden werden soll, auch wenn dies noch sehr häufig als vorherrschende Meinung an deutschen Schulen anzutreffen ist (Bräu & Schwerdt 2005, Rebel 2011, 16, Tillmann & Wischer 2006, 44). Demgegenüber stehen nämlich Studienbefunde, die heterogenen Lernendengruppen große Chancen und Potentiale zuschreiben (Goldberg, Passow & Justmann 1969, 44, Haenisch & Lukesch, 1980, 256, Wocken 1999, 319).
„Ein Bestandteil für ein professionelles und produktives Handeln mit der Vielfältigkeit von [Schülerinnen und] Schülern (…) ist die Fähigkeit der Lehrkraft, heterogene Voraussetzungen durch eine geschulte Diagnosekompetenz wahrzunehmen, um somit die bestmögliche Förderung zu ermöglichen“ (Trautmann & Wischer 2011, 114). Helmke deklarierte die Diagnosekompetenz sogar zur Katalysatorvariable für guten Unterricht (Helmke 2007, 94). Die PISA-Studie 2000 deckte jedoch auf, dass nur zehn Prozent der leseschwachen SuS durch die Lehrkraft als solche erkannt werden konnten (Spinath 2005, 86). Die zunehmende Heterogenität an beruflichen Schulen und die damit verbundene Erfordernis nach diagnostischen Kompetenzen bzw. diagnostischer Expertise von Lehrkräften motivierte den Autor dieser Arbeit, sich intensiver mit dem Thema der pädagogischen Diagnostik auseinanderzusetzen. Konkret sollen folgende Forschungsfragen untersucht werden:
Welche Merkmale hat pädagogische Diagnostik und welche diagnostischen Methoden können unterschieden werden, um Lernvoraussetzungen und Lernfortschritte zutreffend zu diagnostizieren?
Inwiefern kann eine diagnostische Expertise zu einem adäquaten Umgang mit heterogenen SuS-Populationen beitragen, um einen guten Unterricht, im Sinne von sich verbessernden Lernleistungen der SuS, zu gewährleisten?
Welche Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung diagnostischer Expertise bestehen, um eine Qualitätssicherung im beruflichen Bildungswesen zu verfestigen.
Um die obigen drei Forschungsfragen zu bearbeiten, sollen zunächst Ursachen und Arten von Heterogenität aufgezeigt werden. Empirische Befunde sollen zudem die Chancen und Potentiale einer heterogenen Schülerinnen- und Schülerschaft deutlich machen. Anschließend wird die Diagnostik mit ihren Merkmalen und Methoden näher betrachtet. Dabei stützt sich der Autor für seine theoretischen Ausführungen zur Diagnostik neben anderer Literatur überwiegend auf das Werk „Diagnostik für Lehrkräfte“ von Hesse & Latzko (2017), da dieses als Standardliteratur auf diesem Fachgebiet gesehen werden kann. Diverse Studien sollen im Anschluss die Bedeutung diagnostischer Fähigkeiten für einen adäquaten Umgang mit heterogenen SuS und die Gestaltung eines lernwirksamen Unterrichts verdeutlichen. Im weiteren Verlauf werden empirische Befunde zur diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften geschildert. Dabei wird auch auf die Güte von diagnostischen Urteilen sowie auf typische Beobachtungsfehler eingegangen. Im letzten Kapitel zur Aus- und Weiterbildung diagnostischer Expertise werden Möglichkeiten der einzelnen Phasen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung aufgezeigt, um die Qualität diagnostischer Urteile im deutschen Schulwesen nachhaltig zu verbessern. Die vorliegende Arbeit schließt mit einem Fazit ab, in dem zentrale Ergebnisse bezüglich der aufgestellten Forschungsfragen dargestellt werden.
2. Merkmale beruflicher Schulen
Das folgende Kapitel definiert den Begriff „berufliche Schule“ und gibt einen Überblick über die einzelnen Arten beruflicher Schulen.
Die Bezeichnung „berufliche Schulen“, auch berufsbildende Schulen genannt, umfasst in Bayern insgesamt sieben Schularten. Dazu zählen die Berufsfachschule, die duale Berufsschule, die Fachakademie, die Fach- und die Berufsoberschule sowie die Fachschule und die Wirtschaftsschule (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München, o.J.a). Schulübergreifend wird durch die sieben Schultypen die siebte bis dreizehnte Jahrgangsstufe abgedeckt, was der Mittelstufe und Oberstufe entspricht.
Die Wirtschaftsschule, als berufsvorbereitende Schule, vermittelt neben einer allgemeinen Bildung auch eine Grundbildung im beruflichen Handlungsfeld der Wirtschaft und Verwaltung. Die Schülerinnen und Schüler (SuS) schließen diese mit dem mittleren Schulabschluss ab (ebd., o.J.b).
Ein Ausbildungsberuf wird an der Berufsfachschule oder im dualen System an der Berufsschule erlernt (ebd., o.J.a). Auch hier ist ein mittlerer Schulabschluss möglich (ebd., o.J.a). Häufig findet sich in Berufsschulen neben dem klassischen dualen Ausbildungssystem auch das sogenannte Übergangssystem, d. h. „(Aus-)Bildungsangebote, die unterhalb einer qualifizierten Berufsausbildung liegen bzw. zu keinem anerkannten Ausbildungsabschluss führen, sondern auf eine Verbesserung der individuellen Kompetenzen von Jugendlichen zur Aufnahme einer Ausbildung oder Beschäftigung zielen und zum Teil das Nachholen eines allgemein bildenden Schulabschlusses ermöglichen“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 79). In vielen Fällen absolvieren das Übergangssystem Jugendliche, die nach dem Hauptschulabschluss keine Ausbildungsstelle antreten konnten, weshalb es oftmals abwertend als „Warteschleife“ bezeichnet wird und keinen guten Ruf genießt (Greinert 2007, 2).
Im Anschluss an den mittleren Schulabschluss kann die Fachoberschule bzw. nach einer Berufsausbildung die Berufsoberschule besucht werden. Dort kann eine allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife / Fachhochschulreife erworben werden (ebd., o.J.a).
Einen weiteren Weg zum Hochschulzugang sowie zum Erwerb eines höheren Berufsabschlusses stellen die Fachakademie oder die Fachschule dar (ebd., o.J.a).
3. Der Heterogenitätsbegriff und dessen Merkmale
Dieses Kapitel behandelt den Heterogenitätsbegriff und seine Merkmale. Zu Beginn werden allgemeine Kennzeichen von Heterogenität untersucht. Anschließend wird der Autor immer spezifischer und behandelt zunächst die schulische Heterogenität und abschließend die Ursachen und Merkmale von Heterogenität speziell an beruflichen Schulen.
3.1 Heterogenität im Allgemeinen
Um sich im Folgenden adäquat mit heterogenen Lernenden sowie der Heterogenität in Schule und Unterricht im Allgemeinen zu befassen, gilt es diesen Begriff zunächst genau zu betrachten.
„Für viele Menschen definiert sich Heterogenität als eine Streuung um oder als Differenz zu einer unterstellten Norm“ (Brügelmann 2002, 31). Nach Brügelmann (2002, 31) herrschen dazu in unserer Gesellschaft drei Sichtweisen: Als „normal“ gilt, was
1. besonders häufig auftritt oder
2. dem Mittelwert einer „sogenannten Normalverteilung“ (ebd.) entspricht oder
3. „wer vorgegebenen Ansprüchen genügt“ (ebd.).
Versucht man eine einzelne Person bezüglich ihrer Heterogenität zu beurteilen, so erweist sich das als nicht möglich. Heterogenität ist immer ein Merkmal von Personengruppen und nicht von einzelnen Individuen (Köker, Romahn & Textor 2010, 12). Diese „Andersartigkeit ist also nicht gegeben, sondern ein normbezogenes Urteil durch Wertung einer Abweichung
- von der Regel (Häufigkeit einer Leistung eines Verhaltens) oder
- von einem Ideal (Anspruch an Leistung, Verhalten)“ (Brügelmann, 2002, 32).
Mit dem Begriff der Heterogenität wird also der Zustand als Ergebnis eines auf bestimmte Kriterien bezogenen Vergleichs zwischen zwei oder mehreren Subjekten bzw. Objekten beschrieben, wobei erkannt wird, dass diese bezüglich der gewählten Kriterien verschieden sind (Boller, Rosowski & Stroot 2007, 23). Bei der Definition nach Boller, Rosowski & Stroot (2007, 23) ist vor allem die Kriterienbezogenheit herauszustellen. Somit können Individuen bezüglich eines Kriteriums heterogen, bezüglich eines anderen Kriteriums jedoch homogen sein. Es ist also entscheidend, welche Merkmale verglichen werden.
Die Wahl der zu vergleichenden Merkmale, welche als Grundlage für die Bewertung von Heterogenität einer Personengruppe (z. B. Lerngruppe bestehend aus SuS) dienen, hängt schlussfolgernd von „gesellschaftlichen Normen und Werten“ (Albrecht, Ernst, Westhoff & Zauritz 2014, 7) sowie vom „individuellen Standpunkt des Betrachters ab“ (ebd.). Ferner gilt festzuhalten, dass Heterogenität „zeitlich begrenzt und somit wandelbar“ (ebd.) sein kann.
3.2 Schulische Heterogenität
Verschiedene Lernvoraussetzungen von Lernenden stellten schon immer eine Herausforderung für die Lehrenden dar. „Schon Herbart beklagte im ausgehenden 18. Jahrhundert die „Verschiedenheit der Köpfe“ als Hauptproblem des Unterrichts“ (Tillmann & Wischer 2006, 44). Wie bereits beschrieben, hängt die empfundene Heterogenität stets von den zu vergleichenden Merkmalen der Individuen einer Personengruppe ab. Dies gilt auch im schulischen Kontext. „Von Heterogenität einer SuS-Population spricht man dann, wenn eine zu unterrichtende Gruppe (Teilgruppe, Klasse, gesamte SuS-Population) im Hinblick auf ein oder mehrere Merkmale als „sehr unterschiedlich“ empfunden wird“ (Specht 2009, 342). Heute gilt: Eine kindliche „Normalbiografie“ wird immer seltener (Bräu & Schwerdt 2005, 10). Das heißt, dass Lerngruppen immer heterogener werden. Dies hat nach Bräu & Schwerdt (2005, 10) vor allem gesamtgesellschaftliche Ursachen, wie beispielsweise die Auflösung traditioneller Wertvorstellungen, individuellere Lebensweisen, eine Diversität bezüglich der nationalen Herkunft oder moderne und stark unterschiedliche Familienkonstellationen. „Man lebt als Einzelkind oder mit Geschwistern, mit arbeitslosen oder beruflich völlig überlasteten Eltern, mit der deutschen, der russischen, der türkischen Familiensprache, in Armut oder Überfluss, behütet oder verwahrlost“ (Becker, Lenzen, Stäudel, Tillmann, Werning & Winter 2004, 1).
Während Specht (2009, 342) die Heterogenitätsmerkmale eher bei den SuS selbst sieht, beziehen Stöger & Ziegler (2012, 7) schulische Heterogenität auf die Erfordernis von unterschiedlichen schulpädagogischen Maßnahmen, um wiederum identische curriculare Ziele zu erreichen. Die Ursachen hierfür sehen die zwei Autoren nicht nur in der Heterogenität der SuS-Population, sondern auch im Hinblick auf:
- „die Lehrkräfte (z. B. deren Ausbildung, Geschlecht, kultureller Hintergrund);
- das Elternengagement (z.B. gekoppelt an ihre Bildungsnähe oder Bildungsferne);
- die Klassenraumgrößen;
- die Verfügbarkeit von Ressourcenräumen an Schulen;
- die Ausstattung mit Lehrmaterialien“ (ebd. 2012, 6).
Nach dieser Definition wird deutlich, dass alle Aspekte, die in irgendeiner Art und Weise mit Schule und Unterricht zusammenhängen, ursächlich für schulische Heterogenität sein können. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit beschränkt sich der Autor jedoch auf die SuS betreffenden Heterogenitätsmerkmale.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei der Diskussion um schulische Heterogenität steht oftmals die Lernleistung der SuS als eines von vielen Betrachtungsmerkmalen im Vordergrund (Boller, Rosowski & Stroot 2007, 13). Spiegel und Walter (2005, 219) unterscheiden bezugnehmend auf die Lernleistung zwei Heterogenitätsdimensionen: Dafür wählten sie die Metaphern „vertikale“ und „horizontale“ Heterogenität.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Vertikale vs. Horizontale Heterogenität. Erweiterte Darstellung nach Spiegel & Walter (2005, 219).
In Abbildung 1 bilden die Achsen „horizontale“ und „vertikale“ Heterogenität eine Matrix, innerhalb derer zahlreiche Kombinationen aus vertikaler Heterogenität (allgemeines Leistungsniveau der SuS) und horizontaler Heterogenität (Art der Vorgehensweise der einzelnen SuS) vorstellbar sind. Dies soll verdeutlichen, dass die beispielhaft gewählte Lernleistungs-Heterogenität, je nach Ausprägung der zwei Dimensionen, eine enorme Vielzahl an Varianten einnehmen kann. Die folgenden zwei Unterkapitel sollen die von Spiegel und Walter (2005, 219) gewählten Dimensionsbezeichnungen näher erläutern. Kritisch anzumerken ist, dass bei der Betrachtung der Lernleistungsheterogenität mithilfe der zwei Dimensionen „vertikale und horizontale Heterogenität“ viele andere Heterogenitätsdimensionen außer Acht gelassen werden. Dies ist den Autoren jedoch bewusst.
3.2.1 Vertikale Heterogenität
Die vertikale Heterogenität nach Spiegel und Walter (2005, 219) beschreibt Unterschiede zwischen SuS bezüglich ihrer allgemeinen Leistungsniveaus. Das Spektrum reicht hierbei von „sehr leistungsschwach“ bis „sehr leistungsstark“ (ebd.). Diese Dimension von Heterogenität wurde in der Vergangenheit häufig in der Öffentlichkeit diskutiert. „Man denke an die Debatten um TIMMS, PISA und IGLU“ (ebd.).
3.2.2 Horizontale Heterogenität
Unter horizontaler Heterogenität verstehen Spiegel und Walter (2005, 220) Unterschiede innerhalb der Vorgehensweisen von SuS. „In der Unterrichtspraxis wird diese Heterogenität häufig nicht genügend berücksichtigt und sie bedeutet allerdings auch eine nicht zu unterschätzende Herausforderung an die Lehrpersonen“ (Spiegel & Walter 2005, 220). Die Autoren schreiben der Beachtung dieser Heterogenitätsdimension eine große Bedeutung zu, da nach ihrer Ansicht ein unangemessener Umgang mit horizontaler Heterogenität ursächlich für die Entstehung von Leistungsunterschieden im Sinne der vertikalen Heterogenität sein kann (ebd.).
3.3 Heterogenität an beruflichen Schulen
Nachdem der Heterogenitätsbegriff und die allgemeine schulische Heterogenität betrachtet wurden, untersucht dieses Kapitel konkret die Heterogenität an beruflichen Schulen. Dabei beschränkt sich der Autor auf Unterschiede innerhalb der SuS-Population. Weitere Heterogenitätsursachen, wie etwa die bereits in Kapitel 3.2 Angesprochenen nach Stöger & Ziegler (2012, 7), werden nicht berücksichtigt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Betrachtet man nochmals die Merkmale beruflicher Schulen in Kapitel 2, so lassen diese bereits erahnen, dass vor allem berufliche Schulen zahlreiche Potentiale für Heterogenität bieten. Während allgemeinbildende Schulen in Deutschland aufgrund von gleichem Einschulungsalter, der Schulform-Sortierung und Sitzenbleiben von relativ hoher Alters- und Leistungshomogenität geprägt sind (Baumert & Schümer 2001, 454), gibt es an beruflichen Schulen neben den klassischen Heterogenitätsmerkmalen, wie beispielsweise Geschlecht oder Herkunft, auch teils starke Unterschiede beim Alter sowie in der Vorbildung der einzelnen SuS (Albrecht, Ernst, Westhoff & Zauritz 2014, 8). Die nachfolgende Abbildung (Abb. 2) stellt neben den eben genannten Merkmalen der Heterogenität in der beruflichen Bildung eine Vielzahl von weiteren Aspekten dar.
Abb. 2: Eisberg-Modell: Heterogenität in der beruflichen Bildung (in Anlehnung an Albrecht, Ernst, Westhoff & Zauritz 2014, 8).
Das Eisberg-Prinzip soll veranschaulichen, dass nur wenige Merkmale direkt ersichtlich oder leicht feststellbar sind. Diese Merkmale werden zukünftig als Merkmale „über der Wasseroberfläche“ bezeichnet. Dazu zählen, die bereits erwähnte Vorbildung, die Herkunft, das Geschlecht und das Alter der SuS. Neben diesen Heterogenitätsaspekten bestehen, oftmals nicht sofort ersichtlich („unter der Wasseroberfläche“), diverse weitere Vielfältigkeitsmerkmale zwischen den SuS, für die es tiefer gehender diagnostischer Verfahren bedarf.
Selbstverständlich lassen sich sehr viele der in Abb. 2 dargestellten Heterogenitätsaspekte auch in allgemeinbildenden Schulen vorfinden. Dennoch treffen einige Merkmale insbesondere auf berufliche Schulen, v. a. Berufsschulen zu. Ein Indiz hierfür sind deutliche Veränderungen in der Bewerber/-innen-Struktur für betriebliche Ausbildungsplätze (Ernst & Westhoff 2011, 2). Die Autoren Ernst und Westhoff stützen sich bei dieser Aussage auf unveröffentlichte Interview-Ergebnisse aus einer Befragung von Ausbildungsbetrieben durch Jablonka und Timper (2009, o.S.), die dem Bundesinstitut für Berufsbildung im Dezember 2009 vorgelegen haben. Demnach gibt es mehr Bewerber/-innen, die im Vergleich zu früheren Zeiten deutlich älter sind, nicht in Deutschland aufgewachsen sind oder deren Eltern aus dem Ausland stammen (ebd.). Außerdem gibt es deutlich mehr Bewerber/-innen aus dem Übergangssystem oder solche, die schon über berufliche Grundkenntnisse verfügen (ebd.). Darüber hinaus hat sich bei der Befragung herausgestellt, dass sowohl die Zahl der Bewerber/-innen ohne oder mit sehr niedrigem Schulabschluss gestiegen ist, als auch die Zahl der Bewerber/-innen mit höherem Schulabschluss (ebd.). Insgesamt ist die Zahl der Ausbildungsbewerbungen jedoch aufgrund der demographischen Entwicklung zurückgegangen (Ernst & Westhoff 2011, 2). Da jene Bewerberinnen und Bewerber gleichzeitig auch den Schülerinnen und Schülern von beruflichen Schulen, wie z. B. Berufsschulen oder später auch Berufsoberschulen, entsprechen, lässt sich schlussfolgern, dass die Heterogenität bezüglich der Merkmale Alter, Herkunft und Vorbildung an beruflichen Schulen zugenommen hat.
Diese Heterogenitätsmerkmale sind von hoher Relevanz. Denn mit einer zunehmenden Vielfalt bezüglich des Alters, der Herkunft und der Vorbildung geht auch eine steigende Heterogenität bezüglich weiterer Aspekte („unter der Wasseroberfläche“) einher. Hierfür gibt es zahlreiche Forschungsbefunde aus anderen Fachbereichen, wie z. B. der Entwicklungspsychologie. Beispielhaft sei an dieser Stelle Havighursts Entwicklungsstufenmodell des Menschen erwähnt (Oerter & Montada 2002). So entwickeln sich nach Oerter & Montada (2002) mit zunehmendem Alter des Menschen auch seine Motorik, das Gedächtnis, die Art des Problemlösens, das Wissen, seine Sprache, seine Moralvorstellungen bis hin zu seiner Motivation. Auch ist anzunehmen, dass die Herkunft der SuS und die damit verbundenen Kulturunterschiede ebenfalls zu einer verstärkten Heterogenität bezüglich der Merkmale „unter der Wasseroberfläche“, wie Sozialverhalten, Konfliktfähigkeit, religiöse Glaubensprägung usw., führen. Das Gleiche gilt für die Vorbildung, die durchaus Einfluss auf die empfundene Schulbelastung oder die Bearbeitungsgeschwindigkeit der Schülerin oder des Schülers haben kann. Prenzel et al. (2005, 244) erkannten Zusammenhänge zwischen der schulischen Bildung und der sozialen Herkunft von Personen. Die Autoren stellten fest, dass 82 % aller Gymnasiasten/Gymnasiastinnen aus der Oberschicht und der gehobenen Mittelschicht stammen, während es in Hauptschulen lediglich 24 % waren (ebd.), was eine Korrelation zwischen der Vorbildung (Merkmal „über der Wasseroberfläche“) und der sozialen Herkunft (Merkmal „unter der Wasseroberfläche“) unterstreicht.
Die folgenden Unterkapitel untermauern die These der gestiegenen Vielfalt bezüglich Alter, Herkunft und Vorbildung mit Hilfe von Statistiken zu neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen der letzten Jahre.
3.3.1 Alter der Schülerinnen und Schüler
Nachfolgende Tabelle (Tab. 1) zeigt die Zahl der Auszubildenden mit neu abgeschlossenem Ausbildungsvertrag sortiert nach Alter. Die Zahlen sind auf das gesamte Bundesgebiet bezogen und geben die Werte in Prozent von 1993 bis 2014 wieder.
In der längerfristigen Betrachtung der Tabelle 1 kann man feststellen, dass das Durchschnittsalter von 1993 bis 2014 stetig angestiegen ist. Während das durchschnittliche Alter 1993 noch bei 18,0 Jahren lag, betrug das Durchschnittsalter im Jahr 2014 bei Vertragsabschluss 19,7 Jahre. Besonders auffallend ist auch, dass zu Beginn der 1990er Jahre noch über 50 % der Auszubildenden 16 oder 17 Jahre alt waren. Mittlerweile hat sich diese Verteilung deutlich ausgeweitet. Die SuS sind bezüglich ihres Alters immer heterogener geworden.
Tab. 1: Auszubildende mit neu abgeschlossenem Ausbildungsvertrag nach Alter, Bundesgebiet 1993 bis 2014 (in %) in Anlehnung an Bundesinstitut für Berufsbildung (2016, 150).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1Bis 2006 erfolgt die Durchschnittsaltersberechnung auf den hochgerechneten Neuabschlusszahlen. Ab dem Berichtsjahr 2007 liegen keine fehlenden Angaben zum Alter bzw. Geburtsjahr vor, sodass keine Hochrechnung erfolgt. Da jedoch bei sehr hohen Altersangaben (bzw. entsprechenden Angaben des Geburtsjahres) die Wahrscheinlichkeit einer fehlerhaften Datenmeldung größer ist, werden alle Auszubildenden mit Neuabschluss im Alter von 40 und älter nicht in die Berechnung des Durchschnittsalters einbezogen. Bis zum Berichtsjahr 2006 gehen die untere bzw. obere Altersgruppe mit 16 bzw. 24 in die Durchschnittsaltersberechnung ein. Ab 2007 fließen alle Jahrgänge (mit Ausnahme der 40-Jährigen und Älteren) einzeln ein. Aufgrund der Unterschiede in der Erhebung sowie der Berechnung des Durchschnittsalters sind die Werte bis und nach 2006 nicht unmittelbar vergleichbar. Nach dem Berichtsjahr 2006 fällt das Durchschnittsalter auch deshalb höher aus, weil auch die Neuabschlüsse der 24-Jährigen und Älteren alle mit dem jeweiligen Alter (nicht mit 24) in die Berechnung einfließen; berechnet man für das Berichtsjahr 2007 analog den Vorjahren, so ergibt sich ein Durchschnittsalter von 18,9.
3.3.2 Herkunft der Schülerinnen und Schüler
Die Herkunft der Schülerinnen und Schüler oder deren Eltern ist ein weiteres Heterogenitätsmerkmal, dem Lehrkräfte gegenüberstehen. Deutschland gilt als Einwanderungsland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016, o.S.). Durch zunehmende Globalisierung und Migrationsbewegungen leben wir in einer multikulturellen Gesellschaft. Dies hat auch Auswirkungen auf die kulturelle Vielfalt der SuS in deutschen Schulen.
Neben den „klassischen“ SuS mit Migrationshintergrund, wie z. B. türkischstämmige oder russlanddeutsche SuS, spielen aktuell vor allem die Flüchtlingsströme aus den Gebieten des Nahen Ostens oder Nordafrikas eine zunehmend bedeutende Rolle. Mit ihnen gelangen zahlreiche unbegleitete junge Menschen nach Deutschland, die der (Berufs-)Schulpflicht unterliegen. Sie werden in Bayern an beruflichen Schulen in einem Zweijahresmodell in separaten Berufsintegrationsklassen unterrichtet, die als Ziel den Spracherwerb und die Berufsvorbereitung haben (Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst 2017a, o.S.). „Die Gruppe der jungen Menschen mit Migrationshintergrund und insbesondere die junger Geflüchteter ist sehr heterogen – hinsichtlich ihrer eigenen bzw. der familiären Migrationsgeschichte, ihrer Bildungsvoraussetzungen, ihrer regionalen bzw. sozialen Herkunft sowie ihrer Lebenslagen“ (Bundesinstitut für Berufsbildung 2016, 194). Hinzu kommt, dass viele verschiedene Glaubensrichtungen gemeinsam unterrichtet werden. All diese Faktoren haben eine enorme migrationsbedingte Heterogenität zur Folge. Noch liegen keine verlässlichen Zahlen vor, die über den Erfolg der Berufsintegrationsklassen für junge Flüchtlinge urteilen lassen. Im optimalen Fall wäre zu erwarten, dass ein gewisser Anteil jener SuS am Ausbildungsmarkt integriert werden kann, was den Anteil der SuS mit Migrationsanteil in der Berufsausbildung weiter erhöhen würde.
Bereits im Jahr 2014 hatten rund 26 % der Bewerberinnen und Bewerber um einen Ausbildungsplatz einen Migrationshintergrund (Bundesinstitut für Berufsbildung 2016, 196). Für die Erhebung wurden folgende Definitionen festgelegt: „Alle Bewerber/ -innen, die in Deutschland geboren sind und alleine die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und ausschließlich Deutsch als Muttersprache gelernt haben, werden als Deutsche ohne Migrationshintergrund definiert; bei allen anderen Befragten wird von einem Migrationshintergrund ausgegangen“ (ebd.). 32 % der BewerberInnen mit Migrationshintergrund konnten in eine betriebliche oder nicht betriebliche Ausbildung münden (ebd.). Bei denjenigen BewerberInnen ohne Migrationshintergrund lag die Erfolgsquote bei 47 % (ebd.). Somit ergibt sich, dass bereits 2014 knapp 24 % aller Ausbildungsanfängerinnen und -anfänger einen Migrationshintergrund hatten. Diese Tatsache verdeutlicht die Bedeutung dieses Heterogenitätsmerkmals in beruflichen Schulen, vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass die unterschiedliche Herkunft der SuS weitere Heterogenitätsaspekte, wie beispielsweise Sprachbarrieren, unterschiedliche Wertvorstellungen, Bildungsvoraussetzungen, soziale Herkunft etc., mit sich bringen kann.
3.3.3 Vorbildung der Schülerinnen und Schüler
Das folgende Kapitel betrachtet eingehender die Vorbildung der Auszubildenden und somit zugleich der SuS beruflicher Schulen (Berufsschule, Berufsoberschule, Berufsfachschule).
Abb. 3 Schulische Vorbildung der Auszubildenden mit neu abgeschlossenem Ausbildungsvertrag 2009 bis 2014 (in %) in Anlehnung an Bundesinstitut für Berufsbildung (2016, 161).
In Abbildung 3 werden die höchsten Bildungsabschlüsse der Auszubildenden mit neu abgeschlossenem Ausbildungsvertrag der jeweiligen Berichtsjahre 2009 bis 2014 in Deutschland dargestellt. Dabei ist zu erkennen, dass der Anteil der Auszubildenden mit mittlerem Schulabschluss relativ konstant geblieben ist. Es ist jedoch ein Trend in der Entwicklung des Anteils von Auszubildenden mit Hauptschulabschluss im Verhältnis zu Auszubildenden mit Studienberechtigung zu erkennen. Während der Anteil der Auszubildenden mit Hauptschulabschluss im Jahr 2009 noch deutlich über dem der Auszubildenden mit Studienberechtigung lag, nähern sich diese Werte in den drauf folgenden Jahren immer mehr einander an. Die vorläufigen Zahlen des Berufsbildungsberichts 2017 zeigen sogar, dass es im Jahr 2015 mehr Ausbildungsanfänger mit Studienberechtigung als mit Hauptschulabschluss gab (Bundesinstitut für Berufsbildung 2017, 142). Dadurch wird deutlich, dass die allgemeinschulische Vorbildung der SuS beruflicher Schulen noch gleichmäßiger verteilt ist als bisher, was wiederum die Heterogenität bezüglich der Vorbildung fördert.
Weiterhin lässt sich dem Berufsbildungsbericht 2016 entnehmen, dass auch innerhalb der einzelnen Ausbildungsberufe teilweise eine hohe Heterogenität bezüglich der Vorbildung vorherrscht. So sind zum Beispiel im Einzelhandelsberuf oder bei Kaufleuten für Büromanagement alle oben genannten Vorbildungsabschlüsse vertreten (Bundesinstitut für Berufsbildung 2016, 167ff.).
3.4 Chancen und Potentiale von Heterogenität – Erkenntnisse aus der Forschung
Die letzten Kapitel haben aufgezeigt, dass in beruflichen Schulen eine hohe Heterogenität innerhalb der SuS-Population bezüglich vieler verschiedener Merkmale vorzufinden ist. Lehrkräfte stehen somit sehr bunten Lerngruppen, bestehend aus individuellen Charakteren mit verschiedensten Persönlichkeitsmerkmalen, gegenüber. Die in der Fachliteratur allgegenwärtige Forderung nach einem adäquaten Umgang mit Heterogenität wirft zugleich die These auf, dass SuS von ihrer Unterschiedlichkeit Vorteile für ihre eigene Lernleistung ziehen können. Trotzdem scheinen im deutschen Schulsystem folgende Praxis vorzuherrschen: „Die Unterschiedlichkeit von Schülerinnen und Schülern als Chance für unterrichtliches Lernen zu begreifen, ist in deutschen Schulen noch immer der Ausnahmefall“ (Bräu & Schwerdt 2005, 9). „Das deutsche Schulsystem zielt traditionell eher auf eine Vermeidung von heterogenen Lerngruppen“ (Rebel 2011, 16). „Dahinter steckt die tief verankerte Überzeugung, dass sich schulisches Lernen in homogenen Gruppen besser organisieren lasse" (Tillmann & Wischer 2006, 44). Dies wird oftmals damit begründet, dass Lehrkräfte für SuS mit ähnlichen Lernvoraussetzungen den gleichen (frontalen) Unterricht halten können (ebd.).
An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob das deutsche Schulsystem in dieser Art zielführend ist? Sollten Lernende möglichst ähnlich sein oder sind heterogene Gruppen vielversprechender für erfolgreiches Lernen? Kann also die These „Heterogene Lerngruppen bieten Chancen und Potentiale für einen lernwirksamen Unterricht“ bestätigt werden?
Mit letzterer Frage beschäftigt sich die pädagogische Forschung schon seit einigen Jahrzehnten. Bereits Ende der 1960er Jahre untersuchten Goldberg, Passow & Justmann (1969) 86 Schulklassen an 45 Grundschulen nach der Spannweite ihres Begabungsgefälles mithilfe von Intelligenztests. Diese SuS wurden anschließend jeweils zu Beginn des fünften und des sechsten Schuljahres in unterschiedlichen Schulfächern getestet. Dabei kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass die Leistungsentwicklung im Allgemeinen bei großem Begabungsgefälle leicht positiver war als bei geringem Gefälle (Goldberg, Passow & Justmann 1969, 44), d. h. dass eine höhere Heterogenität in der Intelligenz leicht vorteilhafter für die Leistungsentwicklung war.
Auch Haenisch & Lukesch (1980, 256) beschäftigten sich mit den Effekten auf SuS in heterogenen Lerngruppen, indem sie integrierte und gegliederte Unterrichtsformen verglichen. Dabei sind integrierte Lerngruppen als besonders heterogen anzusehen, während gegliederte Formen eher homogenen Charakter haben. Fasst man ihre Untersuchungen zusammen, so „ergibt sich der Tendenz nach ein leichter Vorteil zugunsten der integrierten Formen. Dieser Vorteil besteht vor allem für die leistungsschwachen [Schülerinnen und] Schüler, während sich bei den leistungsstarken [Schülerinnen und] Schülern positive und negative Ergebnisse in etwa die Waage halten“ (Haenisch & Lukesch 1980, 256).
Anhand obiger zwei Studien und zahlreichen anderen Untersuchungen führte Wocken (1999, 319) „Analysen zum Nutzen und Schaden, zu Chancen und Schwächen von homogenen und heterogenen Lerngruppen“ durch. Sein Ergebnis lautet: „Die fachlichen Leistungen lernstarker [Schülerinnen und] Schüler sind in homogenen und heterogenen Gruppen vergleichbar. Lernschwache Schüler profitieren von heterogenen Gruppen“ (Wocken 1999, 319).
Der Frage, ob Lerngruppen-Heterogenität bezüglich der Leistungsfähigkeit günstig für den Lernerfolg ist, sind Tillmann und Wischer (2006, 44-48) ebenfalls nachgegangen. „Dass dies auch mit anderen Merkmalen der Heterogenität (z. B. soziale und ethnische Herkunft) korreliert, darf allerdings nicht übersehen werden“ (ebd. 2006, 45). Die Autoren verweisen in ihrer Arbeit u. a. auf Helmke & Weinert (1997, 93), welche in einer Meta-Studie feststellen konnten, dass es zwar viele Untersuchungen bezüglich letzterer Frage gibt, jedoch konnten sie kein einheitliches Befundmuster erkennen. Als Grund führen sie an, dass die Effektivität der Fähigkeits- und Leistungsgruppierungen von zu vielen Bedingungsfaktoren beeinflusst wird (ebd.). „Besonders die Frage, ob die jeweiligen Lehrkräfte auf die Heterogenität didaktisch angemessen eingehen, übt dabei einen wichtigen Einfluss aus“ (Tillmann & Wischer 2006, 46). Aus der Forschungslage schlussfolgern Helmke & Weinert (1997, 93), dass es auf die angemessene Nutzung von Heterogenität durch die Lehrkraft ankommt. Sie schreiben, dass bei „begrenzt heterogen“ (ebd.) zusammengesetzten Klassen und „bei ausreichender Nutzung innerer Differenzierungsmöglichkeiten (…) viele soziale, pädagogische und didaktische Vorteile“ (ebd.) entstehen können. Zudem stellen sie verstärkt „ungünstige Effekte auf den Unterricht und die Unterrichtsergebnisse“ (ebd.) fest, „wenn sich in Schulklassen eine größere Anzahl von Schülern mit Verhaltens-, Erziehungs- und/oder Lernproblemen findet“ (ebd.). Dies bestätigt auch Schümer (2004, 96) am Beispiel von Hauptschulen, indem sie, auf Basis der PISA-2000-Daten zeigt, dass in Klassen mit einer extrem negativ erlebten SuS-Population die Leistungsergebnisse nochmals deutlich unter den Erwartungen liegen. Ihre Ergebnisse fassen Tillmann & Wischer (2006, 46) wie folgt zusammen: „Versucht man die Effekte heterogener Gruppen zu bilanzieren, so muss man von einer durchwachsenen Befundlage sprechen: (…) in heterogenen Lerngruppen [werden] vor allem dann gute Leistungsergebnisse erzielt, wenn der Unterricht hinreichend differenziert angelegt ist.“ Negative Ergebnisse entstehen vor allem durch Homogenisierung am „unteren Ende“ (ebd.), also, wenn leistungsschwache und sozial belastete SuS zu homogenen Gruppen zusammengefasst werden (ebd.).
Weitere Vorteile von Lernen in heterogenen Gruppen postuliert Graumann (2002, 7ff.). Die Autorin gibt Hinweise darauf, dass neben kognitiven Fähigkeiten auch der Erwerb von sozialen Kompetenzen besonders gut in heterogenen Gruppen gelingen kann. Dafür ist ein integrativer Ansatz nützlich (ebd.). Denn SuS lernen in heterogenen Gruppen sehr unterschiedliche Denkweisen oder auch Verhaltensweisen kennen, die vom Durchschnitt abweichen und können sich somit darin üben mit jener Unterschiedlichkeit kooperativ und konstruktiv umzugehen (ebd.).
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Frage nach Chancen und Potentialen von heterogenen Lerngruppen seit langer Zeit große Beachtung in der pädagogischen Forschung findet. Die Befundlage spricht heterogenitätsorientiertem Unterricht leichte Vorteile im kognitiven und sozialen Kompetenzbereich zu. Dabei scheinen leistungsschwache SuS stärker als leistungsstarke SuS von Heterogenität innerhalb der SuS-Population zu profitieren. Die aufgestellte These, dass eine hohe Heterogenität vorteilhaft für einen lernwirksamen Unterricht ist, kann somit bezugnehmend auf die vorherrschende Forschungslage unterstützt werden. Jedoch gilt auch, dass die Zusammensetzung möglichst heterogener Lerngruppen alleine nicht genügt. Der angemessene und didaktisch sinnvolle Umgang mit der vorfindlichen Vielfalt in deutschen Schulklassen stellt dabei einen wesentlichen Bedingungsfaktor dar. „Die pädagogische Förderung heterogener Gruppen ist eine herausfordernde, anspruchsvolle Aufgabe, deren Bewältigung gelingen, aber auch mißlingen kann“ (Wocken 1999, 319).
4. Diagnostik
Die Professionalität von Lehrkräften ist für die Qualität des Unterrichts von entscheidender Bedeutung (Fischer et al. 2014, 292). „In den Blick gerückt ist insbesondere die Fähigkeit zur Diagnostik. Denn eine ausgeprägte Diagnostik und eine hohe Unterrichtswirksamkeit stehen in einem engen Zusammenhang“ (ebd.). In Abbildung 2 („Eisberg-Modell. Heterogenität in der beruflichen Bildung“) wird erkennbar, dass es sich bei Heterogenität um ein sehr komplexes Phänomen handelt. Die Fülle an möglichen Heterogenitätsmerkmalen kann es für Lehrkräfte durchaus schwierig gestalten, die individuellen Besonderheiten ihrer einzelnen SuS zu erkennen und dementsprechend adäquate schulpädagogische Maßnahmen zu ergreifen. Um jedoch die Chancen und Potentiale von Heterogenität zu nutzen und dadurch einen guten Unterricht gestalten zu können, ist das Erkennen und Berücksichtigen von Heterogenität, wie bereits im letzten Kapitel näher betrachtet wurde, unabdingbar. Die Bedeutung der Diagnostik wird in zahlreicher pädagogischer Literatur, beispielsweise im bereits mehrfach zitierten Sammelband „Heterogenität als Chance“ von Bräu & Schwerdt (2005), immer wieder deutlich. Dort werden, häufig in Anlehnung an praxiserprobte Konzepte, vor allem zwei Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit mit heterogenen Lerngruppen genannt:
- Die persönliche Einstellung der Lehrkräfte, Heterogenität als Chance und nicht als Belastung zu sehen gilt als absolute Grundvoraussetzung.
- Als zentrale Unterrichtsprinzipien in heterogenen Lerngruppen wird immer wieder auf die Individualisierung der SuS sowie auf innere Differenzierung verwiesen. Die Lehrkräfte müssen bestens über den aktuellen Lernstand und die persönlichen Fähigkeiten der einzelnen SuS im Bilde sein, um dann entsprechende Lehr-Lern-Arrangements bei ihrer Unterrichtsgestaltung einsetzen zu können. Das heißt, Lehrkräfte müssen über eine diagnostische Kompetenz sowie genügend Methodenkompetenz verfügen, um einen adäquaten Unterricht in heterogenen Lerngruppen gestalten zu können.
„Eine professionelle Ausübung des Lehrberufs erschöpft sich längst nicht mehr in der Fachexpertise sowie in methodisch-didaktischen Kompetenzen“ (Jansen & Meyer 2016, 12). „Der Konstruktivismus versteht Lehren nicht als Bereitstellen vorstrukturierter Lerneinheiten, sondern vielmehr als Schaffen von Lerngelegenheiten in förderlicher Lernatmosphäre“, in der „Wissen immer wieder individuell konstruiert, reorganisiert und erweitert“ wird (Vogt 2007, 8). „Welche guten Lernbedingungen dafür gegeben sein müssen, kann nicht „vom Lehrerpult aus“ bestimmt werden, sondern lässt sich nur im (diagnostischen) Dialog mit den Schüler/innen herausfinden“ (Jansen & Meyer 2016, 13).
Aufgrund der hohen Relevanz der Diagnostik im Rahmen von Heterogenität gilt es ihr im folgenden Kapitel ein besonderes Augenmerk zu schenken.
4.1 Die pädagogische Diagnostik
Um sich im weiteren Verlauf der Arbeit intensiver mit diagnostischen Fähigkeiten von Lehrkräften zu befassen, sollen zunächst die wichtigsten Merkmale der Diagnostik untersucht werden. Hierfür werden verschiedene Begriffsdefinitionen betrachtet.
Der Begriff Diagnostik stammt von dem griechischen Wort diagnōstikós, was übersetzt „zum Unterscheiden geschickt“ bedeutet. Der Duden definiert Diagnostik als die „Lehre und Kunst, die das Stellen von Diagnosen zum Gegenstand hat“ (Bibliographisches Institut 2017, o.S.). Für den Bereich der Pädagogik ist diese Definition jedoch nicht ausreichend, weshalb im Folgenden andere Definitionsversuche aus der Pädagogik-Forschung herangezogen werden:
Klauer (1978, 5) bezeichnet die pädagogische Diagnostik als „das Insgesamt von Erkenntnisbemühungen im Dienste aktueller pädagogischer Entscheidungen“.
Nach Ingenkamp (1999, 495) umfasst die pädagogische Diagnostik alle „Tätigkeiten, durch die bei einzelnen Lernenden, sowie bei in der Gruppe Lernenden die Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um individuelles Lernen zu optimieren.“
Nach einer aktuelleren Definition von Jansen & Meyer (2016, 11) umfasst die schulische Diagnostik „den Prozess, den Unterricht so zu gestalten und weiterzuentwickeln, dass allen Schüler/innen erfolgreiches Lernen ermöglicht wird.“
Alle obigen Begriffsbestimmungen beinhalten einen wesentlichen Aspekt schulischer bzw. pädagogischer Diagnostik. Sie stellen den Unterrichtsentwicklungsprozess in den Vordergrund. Denn, eine bloße Analyse von Ist-Zuständen hätte keine Folgen für den weiteren Unterricht. Um jedoch aus den erzielten Diagnosen einen Nutzen für den adäquaten Umgang mit Heterogenität im Unterricht zu erzielen, ist die „Verknüpfung von Unterrichtsentwicklung und Diagnostik von entscheidender Bedeutung“ (ebd.).
Wie bereits im Kapitel zur Begriffsklärung der „Heterogenität“ (Kapitel 3.1) festgestellt wurde, ist Heterogenität immer ein Merkmal von Personengruppen und nicht von einzelnen Individuen (Köker, Romahn & Textor 2010, 12). Daher sollte Diagnostik, alle SuS und nicht nur die „Auffälligen“ (Jansen & Meyer 2016, 14) berücksichtigen, so dass jede/r Schüler/in „Ergebnisse persönlicher Exzellenz“ (Reich 2014, 81) erzielen kann. Die Beschränkung auf nur einzelne SuS hätte keine echte Unterrichtsentwicklung zur Folge. Diese Förderung Einzelner, isoliert vom normalen Unterrichtsgeschehen, würde eher dem Zweck der Homogenisierung dienen und das Ziel der Individualisierung im Unterricht verfehlen. „Diese Individualisierung im Rahmen des gemeinsamen Lernens kann (…) nur dann gelingen, wenn sich der Unterricht nach den jeweiligen Bedingungen ausrichtet, in denen erfolgreiches Lernen für alle möglich wird – und nicht umgekehrt“ (Jansen & Meyer 2016, 14). Aus Sicht der Lehrkraft soll das vereinfacht heißen: Ich muss nicht jede/n einzelne/n Schüler/in durch individuelle Fördermaßnahmen an meinen Unterrichtsstil anpassen, sondern: mein Unterricht muss mit Hilfe von entsprechenden didaktischen Methoden und Unterrichtsarrangements an die heterogene Schülerschaft angepasst sein.
4.2 Implizite versus explizite Diagnostik
Jeden Tag treffen Menschen Urteile über ihre Mitmenschen oder schätzen Situationen ein. Dabei greifen die meisten spontan und unbewusst auf Alltagstheorien zurück (Hesse & Latzko 2017, 60f.). Dies ist im schulischen Kontext selten anders. „Eine realistische Sicht auf den pädagogischen Alltag macht deutlich, dass Lehrkräfte täglich Schülerinnen und Schüler, Situationen, soziale Beziehungen, Leistungen oder Schwierigkeiten beurteilen und auf dieser Grundlage Entscheidungen fällen“ (Hesse 2014, 16). Dies geschieht häufig unreflektiert auf Grundlage von subjektiven Theorien (ebd.). Die Basis hierfür sind häufig implizite Persönlichkeitskonzepte, die ein Raster der sozialen Wahrnehmung bilden, „innerhalb derer die Persönlichkeitseigenschaften von Schülern geordnet werden“ (Hesse & Latzko 2017, 46). „Mit solchen impliziten Theorien erzielt der Beurteiler einen prägananten subjektiven Referenzrahmen“ (ebd.). Dadurch kann die Menge an Informationen schnell reduziert werden, „indem implizite Konzepte über Zusammenhänge von Eigenschaften und Fakten unreflektiert im Sinne von „Selbstverständlichkeiten“ als Ordnungsschema verwendet werden und damit das Lehrerurteil in erheblichem Maße bestimmen“ (ebd.). Es wird deutlich, dass solche, auf Alltagstheorien beruhende, Urteile möglicherweise Beurteilungsfehlern und Urteilstendenzen unterliegen.
Ein Experiment an der Harvard University brachte interessante Ergebnisse zu Tage. Bei einer Untersuchung wurden Spontanurteile von Studierenden bezüglich der „Effizienz“ eines Professors zu Beginn der ersten Veranstaltung eines Semesters mit den Evaluationsbögen am Ende des Semesters verglichen. Dabei zeigte sich, dass die Studierenden in der Regel nicht länger als zwei Sekunden benötigten, um festzustellen, wie wirksam eine Lehrperson für ihren individuellen Lernerfolg ist. Der Vergleich mit den Evaluationsbögen am Ende des Semesters zeigte eine hohe Übereinstimmung der Urteile (Gladwell 2007, 17ff.). Auch wenn der Versuch einigen Limitationen unterliegt (z. B. wurde nur ein Professor bewertet) und die Ergebnisse von Nebenfaktoren beeinflusst sein können (Menschen tendieren dazu, sich nicht selbst zu widersprechen), so ist es dennoch ein Indiz dafür, wie stabil implizite Urteile von Menschen sind.
Wenn sich die Lehrkräfte darüber bewusst sind, dass implizite Urteile und Diagnosen „ungenau, vorläufig, revisionsbedürftig sind und nicht den Anspruch an Objektivität und Gültigkeit erheben“, kann diese Vorgehensweise in vielen Fällen zunächst ausreichen (Hesse 2014, 16). Implizite Urteile sind nicht automatisch falsch. „Allerdings sollten schnell gefasste Urteile über Schüler/innen das bleiben, was sie sind: Urteile, die der Revision bedürfen“ (Jansen & Meyer 2016, 21).
Wenn es jedoch um „wichtige pädagogische Entscheidungen oder um die Beurteilung von leistungsschwachen, „ungeliebten“ Schülerinnen und Schülern geht“, so sollten nach Hesse (2014, 18) „die eigenen Urteile häufiger explizit geprüft werden“. Explizite, d. h. bewusst reflektierte und zielgerichtete Formen des Diagnostizierens finden prinzipiell außerhalb des eigentlichen Unterrichts statt, es sei denn die Lehrperson schafft sich durch passende Lehr-Lern-Arrangements die nötige Zeit für „differenziertes und zielgerichtetes Diagnostizieren während des Unterrichts“ (ebd. 2014, 19). Ziel des expliziten Vorgehens ist das substanzielle Verringern des Anteils von Mess- und Prognosefehlern, sowie das Gewährleisten von Durchschaubarkeit von Fehlerquellen (ebd.). Denn im Gegensatz zu Urteilsfehlern in banalen Alltagssituationen „können Fehlurteile in pädagogischen Kontexten gravierende Konsequenzen nach sich ziehen“ (Hesse & Latzko 2017, 61). Denn, geht man von einer großen Stabilität impliziter Urteile aus, können spontan getroffene Aussagen wie z. B. „Diese Schülerin wird das zweite Halbjahr nicht bestehen!“ oder „Diese Schülerin wird das zweite Halbjahr schaffen“ über den Erfolg oder Misserfolg der SuS entscheiden (Jansen & Meyer 2016, 20).
4.3 Anlässe für explizite Diagnostik
Im täglichen Schulalltag wären Lehrkräfte ohne Routinen und implizite Urteile vermutlich nicht in der Lage auf spontane und kurzfristige Ereignisse zu reagieren. Denn, explizite Diagnostik ist kognitiv anstrengender und somit auch zeitaufwendiger als implizite diagnostische Prozesse (Jansen & Meyer 2016, 21). Daher sollte diese bei Anlässen durchgeführt werden, die den Aufwand rechtfertigen (ebd.). Lohnende Anlässe für explizite Diagnostik ergeben sich oftmals aus krisenhaften Situationen heraus, d. h. „Hinderniserfahrungen haben sich massiv angehäuft“ (ebd. 2016, 31). Explizite Diagnostik kann und soll aber auch präventiv erfolgen (ebd.).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In Abbildung 4 ist ein zusammenfassender Überblick von Hesse und Latzko (2017, 58) über wesentliche Anlässe für explizite Diagnostik im Kontext von Schule dargestellt.
Abb. 4: Überblick über Anlässe für die explizite Diagnostik durch Lehrkräfte in Anlehnung an Hesse & Latzko (2017, 58).
Die folgenden Unterkapitel sollen die von Hesse & Latzko (2017, 58) formulierten Anlässe für explizite Diagnostik näher erläutern.
4.3.1 Feststellen von Lernvoraussetzungen der SuS
Zunächst gilt es die Frage zu klären, was der Begriff „Lernvoraussetzungen“ umfasst. Hesse (2014, 27) beschreibt Lernvoraussetzungen als „innere psychische Bedingungen“. Beispiele hierfür sind „Vorwissen, Intelligenz, Lernstrategien und Arbeitsverhalten, Lernmotivation, Fähigkeitsselbstkonzepte, lernrelevante Emotionen wie Leistungs- und Sozialangst, Langeweile, Vorfreude, Lust und Stolz und volitionale Komponenten“ (ebd.). Fragestellungen zu Lernvoraussetzungen von SuS entstehen immer dann, wenn es um die „Ursachensuche für hervorragende oder unzureichende Leistungen, um Lernplateaus (…) und die genaue Feststellung von interindividuellen und intraindividuellen Unterschieden von [Schülerinnen und] Schülern in der heterogenen Vielfalt geht, um adaptiven und individualisierten Unterricht lernwirksam gestalten zu können“ (Hesse & Latzko 2017, 56). Um Lernvoraussetzungen festzustellen, gibt es eine ganze Reihe standardisierter Tests, die Lehrkräfte (mit entsprechender Fortbildung) anwenden können ( Hesse 2014, 28, Hogrefe Testzentrale 2016 ). Das Ziel eines diagnostischen Tests liegt darin, den relativen Grad einer individuellen Merkmalsausprägung quantitativ darzustellen (Lienert & Raatz, 1994, 1). Es ist ratsam, Beratungslehrkräfte für die Auswertung der Tests unterstützend hinzuzuziehen (Hesse 2014, 28). Bei minderjährigen SuS ist unbedingt darauf zu achten, die Einwilligung der Erziehungsberechtigten für die Durchführung der Tests einzuholen (ebd.).
4.3.2 Leistungsmessung als Diagnostik des Lernstandes bzw. der Schulleistung in verschiedenen Sachfächern
„Bei dieser diagnostischen Aufgabe soll erfasst werden, was die [Schülerinnen und] Schüler wissen und können und wie gut die Leistungen zu einem bestimmten Messzeitpunkt im Rahmen unterschiedlicher Bezugsnormen sind“ (Hesse & Latzko 2017, 56). Eine Möglichkeit den Leistungsstand zu erfassen bieten konventionelle Klassenarbeiten (Hesse 2014, 30). Sofern ihr diagnostisches Potenzial ausgeschöpft wird, „können sie durchaus differenzierte Informationen über den Umfang und die Qualität des aufgebauten Wissens bei jedem Schüler [oder jeder Schülerin] liefern“ (ebd.). Hesse (ebd.) beschreibt Klassenarbeiten, wenn sie nicht nur zur Benotung von SuS dienen, als eine „zuverlässige und relativ regelmäßige Datenquelle“.
KRITIK: An dieser Stelle ist eine Kritik an Klassenarbeiten als diagnostisches Mittel anzuführen. Die Kompetenzorientierung in den Lehrplänen beruflicher Schulen sieht den Erwerb von Kompetenzen und nicht nur trägen Wissens vor (Sloane & Dilger 2012, 32ff., Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung, o.J.c). Kompetenzen enthalten Wissen, Strategien und Einstellungen (Sloane 2010, 12) und sind daher von außen kaum messbar. Klassenarbeiten fragen überwiegend deklaratives Wissen ab und überprüfen in Grenzen die Performanz der SuS. Sie lassen nur schwer einen Rückschluss auf den Kompetenzerwerb zu. Die Konstruktion von curricular validen Tests gestaltet sich als sehr schwierige Aufgabe. Klassenarbeiten haben sicher diagnostisches Potential, aus Sicht des Autors der vorliegenden Arbeit kann jedoch nicht wirklich von einer für die Diagnostik zuverlässigen Datenquelle gesprochen werden.
4.3.3 Leistungsmessung als Diagnostik des Lernprozesses /-verlaufs und des Lernfortschritts
Im Rahmen einer neuen Lehr-Lern-Kultur wird der Ruf nach Leistungsmessungsmethoden lauter, die nicht nur den Lernstand der SuS bewerten, sondern den Lernprozess und Lernfortschritt in den Mittelpunkt der Beurteilung stellen (Hesse & Latzko 2017, 56). Ingenkamp (1971, 11ff.) kritisierte bereits Anfang der 1970er Jahre die Art der Notengebung in Schulen. Nicht nur deshalb wird in den letzten Jahren „verstärkt über Beurteilungsalternativen nachgedacht, die für Schülerinnen und Schüler (…) detaillierte Informationen über Lernprozess, Lernfortschritte und Lernprobleme liefern könnten“ (Hesse 2014, 33). Der Lernprozess einer Schülerin oder eines Schülers kann über „lautes Denken und verbalisierte Selbsterklärungen diagnostiziert werden, in dem beobachtet wird, wie eine gestellte Aufgabe gelöst wird“ (ebd.). Der Lernfortschritt oder Lernverlauf sind hingegen Diagnosen, „die sich über einen längeren (definierten) Zeitraum erstrecken“ (ebd.). Damit soll die Lernleistungsentwicklung einzelner SuS oder auch ganzer Schulklassen (z. B. über ein Schul(halb)jahr) ermittelt oder festgestellt werden, „bei welchen Schülerinnen und Schülern und wie oft Lernplateaus entstehen, bei denen zeitweise kein Lernzuwachs erkennbar ist“ (ebd. 2014, 33f.). Ziel der Lernprozess/-verlaufs-Diagnostik ist es, sicherzustellen, dass sich über das Schuljahr bei allen SuS Lernfortschritte bezüglich festgelegter Kriterien (z.B. Lehrplanziele, Kompetenzstandards usw.) einstellen (Hesse & Latzko 2017, 56f.). Ingenkamp & Lissmann (2008, 178ff.) sehen die aus den USA stammenden Lerntagebücher, Portfolios und generell eine aktivere Einbeziehung und Mitwirkung der SuS in den Beurteilungsprozess als eine geeignete Möglichkeit, den Lernprozess und den Lernfortschritt stärker in den Fokus der Beurteilung zu stellen. Rentsch (2006, 118f.) steht der Arbeit mit Portfolios ebenfalls positiv gegenüber. Sie begründet dies damit, dass auf diese Weise die individuell verschiedenen Lernwege der einzelnen SuS diagnostiziert werden können, die SuS zur Selbstreflexion veranlasst werden und sie befähigt werden, „über ihre Lernziele, Lernprodukte und Lernfortschritte miteinander zu sprechen“(ebd.). Demgegenüber steht jedoch eine Kritik von Hesse (2014, 33), die darauf verweist, dass es diesbezüglich nur wenig empirisch geprüfte Effektstudien gibt. Zudem sind solch alternativen Beurteilungsmethoden nicht genügend standardisiert (ebd. 2014, 34). Der Einsatz dieser Verfahren wird von der Autorin eher als Bereicherung zu den traditionellen Beurteilungsverfahren und nicht als Ersatz gesehen (ebd.). „Eher am Lehrplan bzw. den aktuellen Lehrzielen orientiert, aber auch ungenau, sind die informellen Diagnosen der Lehrkräfte“ (ebd.). Zusammenfassend stellt Hesse (2014, 34) eine dringende Erfordernis nach neuen diagnostischen Instrumenten fest, um den Lernverlauf und –fortschritt abzubilden.
4.3.4 Diagnostik im Rahmen der Unterrichtsplanung
Im Kapitel zum Thema Heterogenität wurde auf die zunehmende Vielfalt in deutschen Schulklassen verwiesen. Bezogen auf die teils enorme Heterogenität in (beruflichen) Schulen spielt vor allem dieser Anlass für explizite Diagnostik eine entscheidende Rolle. Denn, um die Chancen und Potentiale von heterogenen Lerngruppen voll entfalten zu können, liegt es an der Lehrperson, einen lernwirksamen Unterricht zu planen, der „auf Klassenebene die interindividuellen Unterschiede der [Schülerinnen und] Schüler“ berücksichtigt (Hesse & Latzko 2017, 57). Teilaufgaben einer Vielfalt berücksichtigenden Unterrichtsplanung sind z. B. die Zusammenstellung von funktionalen Gruppen für effizientes, kooperatives Lernen oder die Anpassung von Lehrmethoden und Lernaufgaben an das Leistungsniveau einzelner SuS oder Gruppen (ebd.). Neben der Diagnostik der individuellen Personeneigenschaften einzelner SuS wie z. B. individuelle Lernvoraussetzungen sei hier auch die Diagnostik von Beziehungsstrukturen in Schulklassen mit Hilfe von sogenannten soziometrischen Verfahren zu erwähnen (ebd. 2017, 331). Soziometrie bezeichnet eine Technik aus der Sozialforschung, mithilfe derer interpersonelle Beziehungen innerhalb eines formellen Netzwerks (z. B. einer Schulklasse) enthüllt werden können (Dollase & Koch 2010, 819ff.). Ein typischer soziometrischer Test, kann wie folgt aussehen: Alle SuS werden aufgefordert, einen Zettel mit ihrem Namen zu beschriften und darunter anonym alle Klassenmitglieder zu notieren, neben denen sie gerne sitzen würden und in einer gesonderten Zeile die Namen der SuS, neben denen sie nicht gerne sitzen möchten (Dollase 2013, 15). Jene Zettel werden eingesammelt, ausgewertet und anschließend ein Netzwerkstrukturdiagramm erstellt, um sich einen Überblick über die aktuellen Beziehungsstrukturen innerhalb der Klassengemeinschaft zu verschaffen (ebd.). “Mit Blick auf die aktuell zu lösenden pädagogischen Aufgaben wie Inklusion und Integration von [Schülerinnen und] Schülern mit Migrationshintergrund sind soziometrische diagnostische Verfahren unverzichtbar, um pädagogische Entscheidungen begründet treffen und realistische Erziehungsziele setzen zu können“ (Hesse & Latzko 2017, 331).
4.3.5 Analyse des eigenen Unterrichts
Die Qualität des Unterrichts hat einen wesentlichen Einfluss auf die Schulleistungen der SuS (Helmke 2015, 173). Laut Hesse & Latzko (2017, 173) korreliert die Unterrichtsqualität mit dem Lernerfolg der SuS mit r = .48, was einen nicht unbeträchtlichen Einfluss aufzeigt. Aus diesem Grund ist eine nur SuS-bezogene Diagnostik für Lernoptimierung und Problemklärungen zu einseitig (Hesse & Latzko 2017, 57). Dennoch reflektieren nur wenige Lehrkräfte ihren Unterricht regelmäßig und systematisch oder holen Feedback von den SuS ein (ebd. 2017, 173). Neben der Selbstbeurteilung durch die Lehrperson zählen auch die Fremdbeobachtung, z. B. durch Hospitation von Kolleginnen und Kollegen, sowie das Einholen von SuS-Feedback zu den diagnostischen Verfahren, um Merkmale und Probleme der Unterrichtsqualität zu erfassen (ebd. 2017, 186). Für eine möglichst valide Diagnose, sollten die Ergebnisse aus allen drei Perspektiven miteinander verglichen werden (ebd. 2017, 187).
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- Quote paper
- Eugen Zimmermann (Author), 2017, Die Bedeutung diagnostischer Expertise von Lehrkräften für den Umgang mit Heterogenität an beruflichen Schulen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/888841
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