Die Arbeit befasst sich sowohl mit den Theorien, die Wissenschaftler der verschiedenen Forschungsgebiete zur Gattung der Volksmärchen aufgestellt haben, als auch mit der Anwendbarkeit dieser Märchentheorien im Grundschulunterricht.
Als Märchenbeispiele werden hauptsächlich die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm verwendet, denn diese Märchen sind weitgehend bekannt und daher beispielgebend.
In den verschiedenen Wissenschaften wie der Literatur, der Volkskunde, der Ethnologie, der Politologie, der Soziologie, der Psychologie gab und gibt es Forschungsbemühungen um das Literaturgenre Märchen. In den unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten wurden verschiedene Analyse- und Interpretationsmodelle entwickelt, die dem Märchen zugrunde gelegt werden.
In dieser Arbeit werden drei Märchentheorien untersucht und dargestellt: Die Literaturwissenschaft, die Volkskunde und die Psychologie.
Diese Arbeit hat eine zentrale Leitfrage: Welche Bedeutung haben die verschiedenen Märchentheorien und wie kann man sie sinnvoll in den Deutschunterricht der Grundschule einbringen? Für die Beantwortung dieser Frage werden vier Unterfragen beantwortet: 1. Wie ist der Begriff des Märchens zu erklären?
Dabei stehen grundlegende definitorische Erläuterungen im Mittelpunkt.
Außerdem wird in diesem Abschnitt die Tätigkeit der Märchensammler dargestellt. 2. Wie stellen sich die drei ausgewählten Märchentheorien dar? Dafür werden die drei Theorien, ihre Interpretations- bzw. Analysemodelle dargestellt und miteinander verglichen. 3. Welche Konsequenzen werden aus den dargestellten Märchentheorien in didaktischer und methodischer Hinsicht gezogen bzw. welche Bedeutung haben die drei Märchentheorien für den Einsatz im Deutschunterricht der Grundschule? 4. Wie können die Lernziele und die didaktischen und methodischen Konsequenzen aus den Märchentheorien praktisch umgesetzt werden? Hier ist ein progressives Unterrichtskonzept für den Einsatz von Märchen im Deutschunterricht in den Klassen 1 bis 4 dargestellt.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Zum Begriff des Märchens
1.1 Ethymologische Begriffsbestimmung
1.2 Die Arbeit der Märchensammler
1.2.1 Deutsche Märchensammler: Grimm und Bechstein
1.2.2 Internationale Märchensammler
2 Märchentheorien / Analyse- und Interpretationsmodelle
2.1 Literaturwissenschaftliche Theorie
2.1.1 Märchen als „Einfache Form“ nach André Jolles
2.1.2 Stilanalyse der Märchen nach Max Lüthi
2.1.3 Strukturalistische Analyse nach Vladimir Propp
2.2 Volkskundliche Theorie
2.2.1 Theorien zur Entstehung der Volksmärchen
2.2.2 Volkskundliche Analyse nach Lutz Röhrich
2.3 Psychologische Theorie
2.3.1 Tiefenpsychologische Analyse
2.3.1.1 Sigmund Freud und seine „Traumtheorie“
2.3.1.2 Carl Gustav Jung und seine „Archetypen“-Theorie
2.3.2 Entwicklungspsychologische Analyse
2.3.2.1 Entwicklungsphasen nach Charlotte Bühler
2.3.2.2 Der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim
2.4 Aktueller Ausblick zu den verschiedenen Märchentheorien
3 Didaktische und methodische Umsetzung der Märchentheorien im Deutschunterricht der Grundschule.
3.1 Lernziele im Deutschunterricht für den Umgang mit Märchen
3.2 Verschiedenen Rezeptionsformen von Märchen
3.2.1 Sprachlichen Rezeptionsform Vorlesen
3.2.2 Sprachlichen Rezeptionsform Erzählen
3.2.3 Sprachlichen Rezeptionsform Besprechen
3.2.4 Sprachlichen Rezeptionsform Textbearbeitung
3.2.5 Außersprachlichen Rezeptionsform Gestalten
3.2.6 Außersprachlichen Rezeptionsform Spielen
3.3 Didaktische und methodische Konsequenzen aus den Märchentheorien
3.3.1 Literaturwissenschaftliche Theorie
3.3.2 Volkskundliche Theorie
3.3.3 Psychologische Theorie
3.3.4 Fazit zu den verschiedenen Theorien
4 Unterrichtsentwürfe unter Beachtung der Märchentheorien
4.1 Unterrichtsentwurf Klasse 1
4.2 Unterrichtsentwurf Klasse 2
4.3 Unterrichtsentwurf Klasse 3
4.4 Unterrichtsentwurf Klasse 4
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die vorliegende Arbeit „Wissenschaftliche Märchentheorien und ihre didaktische Bedeutung für den Unterricht in der Grundschule“ befasst sich sowohl mit den Theorien, die Wissenschaftler der verschiedenen Forschungsgebiete zur Gattung der Märchen aufgestellt haben, als auch mit der Anwendbarkeit dieser Märchentheorien im Grundschulunterricht. Einleitend wird der Titel und damit das Thema der Arbeit eingegrenzt und präzisiert: Diese Arbeit thematisiert speziell die Volksmärchen. Sie sind eine eigene Gattung innerhalb des Märchengenres und lassen sich von Kunstmärchen abgrenzen, die das Werk einzelner Dichter sind. In diese Arbeit wurden jedoch ausschließlich Volksmärchen aufgenommen, weil sie als Urform aller Märchen bereits eine vielseitige und komplexe Literaturauswahl darstellen und sich besonders gut für den Einsatz in der Grundschule eignen. Als Märchenbeispiele werden hauptsächlich die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm verwendet, denn diese Märchen sind weitgehend bekannt und daher beispielgebend. Für die im Text enthaltenen Literaturnachweise der einzelnen Grimmschen Märchen werden die international gültigen Abkürzungen verwendet: Für das Märchen „Hänsel und Gretel“ z.B. wird die gültige Abkürzung KHM 15 (Kinder- und Hausmärchen Nr. 15) verwendet. Damit lässt sich in jeder Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen leichter der betreffende Text finden.
Um das Thema der Arbeit weiter eingrenzen zu können, muss auf den Begriff der Märchentheorien eingegangen werden: In den verschiednen Wissenschaften wie der Literatur, der Volkskunde, der Ethnologie, der Politologie, der Soziologie, der Psychologie gab und gibt es Forschungsbemühungen um das Literaturgenre Märchen. In den unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten wurden verschiedene Analyse- und Interpretationsmodelle entwickelt, die dem Märchen zugrunde gelegt werden. Aus der Vielfalt der Wissensgebiete werden in dieser Arbeit drei Märchentheorien untersucht und dargestellt: Es handelt es sich um die Literaturwissenschaft, die Volkskunde und die Psychologie, die für die Betrachtung in dieser Arbeit ausgewählt wurden, weil sie starke inhaltliche Gegensätze in den Forschungsergebnissen aufweisen und ihre Bedeutung in der Märchenforschung sehr weitreichend ist. In diesen Gebieten existiert eine umfangreiche Sekundärliteratur, die in diese Arbeit einfließt. Anzumerken ist dazu, dass die Sekundärliteratur nicht in jedem Fall aktuellen Datums ist, denn nicht in jedem Gebiet der Märchenforschung liegen Ergebnisse aus den letzten Jahren vor. Da in dieser Arbeit ein Querschnitt der jeweiligen Forschungsergebnisse angestrebt ist, muss daher auch auf ältere Publikationen zurückgegriffen werden. Dies mindert jedoch nicht die Aktualität des Themas „Märchen in der Schule“. An dieser Stelle ist anzumerken, dass auch Forschungsergebnisse bereits verstorbener Wissenschaftler in der Zeitform des Präsens dargestellt werden. Dieses Stilmittel wurde gewählt, da nur Forschungsergebnisse in diese Arbeit eingeflossen sind, die noch heute gültig sind bzw. anerkannt werden.
Weiterhin muss die scheinbar sehr weitläufig gefasste Bestandteil des Titels „Unterricht in der Grundschule“ eingegrenzt werden: Im Rahmen dieser Arbeit wird speziell auf den Deutschunterricht in der Grundschule eingegangen. Obwohl sich Märchen durchaus für einen fächerübergreifenden Unterricht eignen, wird sich in diesem Rahmen auf die Möglichkeiten des Einsatzes von Märchen im Deutschunterricht beschränkt. Lernziele aus dem künstlerischen oder musischen Bereich fließen jedoch durchaus auch in die Unterrichtsentwürfe ein.
Diese Arbeit hat eine zentrale Leitfrage: Welche Bedeutung haben die verschiedenen Märchentheorien und wie kann man sie sinnvoll in den Deutschunterricht der Grundschule einbringen? Für die Beantwortung dieser Frage werden vier aufeinander aufbauende Unterfragen gestellt, die in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit thematisiert werden: Im ersten Kapitel geht es um die Frage: Wie ist der Begriff des Märchens zu erklären? Dabei stehen grundlegende definitorische Erläuterungen – wie die ethymologische Begriffsbestimmung des Wortes „Märchen“ – im Mittelpunkt. Außerdem wird in diesem Abschnitt die Tätigkeit der Märchensammler dargestellt. Dieses erste Kapitel hat eine wichtige grundlegende und erklärende Funktion für die folgenden Inhalte der Arbeit. Im zweiten Kapitel wird die Frage aufgegriffen: Wie stellen sich die drei ausgewählten Märchentheorien dar? Dafür werden die drei Theorien, ihre Interpretations- bzw. Analysemodelle dargestellt und miteinander verglichen. Innerhalb der Theorien werden die unterschiedlichen Forschungsansätze und ihre bedeutenden Vertreter vorgestellt. Dabei gehen die maßgeblichen Forschungsergebnisse in die Untersuchung ein, ebenso die kritischen Kommentare anderer Wissenschaftler zu dem jeweiligen Forschungsgebiet. Im dritten Kapitel geht es um die Frage: Welche Konsequenzen werden aus den dargestellten Märchentheorien in didaktischer und methodischer Hinsicht gezogen bzw. welche Bedeutung haben die drei Märchentheorien für den Einsatz im Deutschunterricht der Grundschule? Dafür werden allgemeine und literaturdidaktische Lernziele im Deutschunterricht für den Umgang mit Märchen erläutert und die didaktischen und methodischen Konsequenzen aus den Analyse- und Theorienmodellen ausgewertet. Bestehende Streitpositionen fließen in die Darstellung ein. Das vierte Kapitel gibt Antworten auf die Frage: Wie können die Lernziele und die didaktischen und methodischen Konsequenzen aus den Märchentheorien praktisch umgesetzt werden? In diesem Teil der Arbeit wird ein progressives Unterrichtskonzept für den Einsatz von Märchen im Deutschunterricht in den Klassen 1 bis 4 dargestellt.
Der begrenzte Rahmen einer Examensarbeit verhindert das Eingehen auf alle Aspekte der Märchenforschung sowie der didaktischen und methodischen Umsetzungsmöglichkeiten in der Intensität, die dieses Thema eigentlich verlangt. Jeder der einzelnen Betrachtungspunkte um das Märchen würde Stoff für eine eigene Arbeit liefern und gäbe Anlass für weitere Forschungen. Aus diesem Grund können auch einige weitere Untersuchungsansätze in Bezug auf das Märchen nicht berücksichtigt werden. Dabei handelt sich dabei um gattungsspezifische Untersuchungen, wie z.B. die Abgrenzung der Gattung Märchen zu der benachbarten Gattung der Sagen oder auch um pädagogische Untersuchungen wie z.B. den Überblick über die historische Entwicklung der Märchendidaktik. Aus Platzgründen wurde eine Auswahl der Untersuchungsansätze getroffen.
In dieser Arbeit wird aus Gründen besserer Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Die Hausarbeit wird unter Verwendung der Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung angefertigt.
1. Zum Begriff des Märchens
1.1 Ethymologische Begriffsbestimmung
Fragt man nach der Bedeutung des Wortes „Märchen“, so kann man dessen rein ethymologischen Sinn von dem heute nicht mehr gebräuchlichen hochdeutschen Wort „Märlein“ ableiten. „Märlein“ wiederum ist eine Diminutivform von dem althochdeutschen Substantiv „märe“. Das Wort tauchte erstmals um 1500 auf und bedeutete damals „Nachricht“, „Kunde“ oder „Botschaft“. Schon in Luthers Weihnachtslied von 1535 heißt es: „ich bring euch gute Mär...“ – also gute Nachrichten. Das Adjektiv zu „märe“ war im Althochdeutschen „mär(r)en“ und bedeutete „verkünden“ oder „erzählen“. (Kluge, 539 f.) Dieselbe etymologische Wurzel hatte das althochdeutsche Adjektiv „mär-i“, was „berühmt“ bedeutete. Die „märe“ ist dementsprechend eine Botschaft oder Nachricht von einer Sache, die berühmt ist oder berühmt zu werden verdient, weshalb sie sich herumspricht. (Rölleke, 1992, 9) Die Ursprungsform „märe“ hatte demnach eine positive Bedeutung, und auch heute noch wird das Adjektiv „märchenhaft“ gebraucht, wenn etwas sehr Schönes, Außergewöhnliches beschrieben wird. Die Urform hat im Laufe der Zeit eine negative Bedeutungserweiterung erfahren. Zu sehen ist das z.B. an der heute gebräuchlichen Redewendung „Erzähl mir keine Märchen!“, wenn etwas als unwahr abgelehnt wird. (Lüthi, 1976, 1) Ein exaktes Äquivalent zum deutschen Wort „Märchen“ als Beschreibung für eine Erzählgattung gibt es in anderen Sprachen nicht. Entsprechende Ausdrücke haben entweder eine allgemeinere Bedeutung, wie z.B. englisch „tale“, oder sie gelten auch für benachbarte Gattungen, wie z.B. französisch „légende“, oder sie erfassen nur Teile des Märchenguts, wie z.B. englisch „fairy tale“. Das deutsche Wort „Märchen“ erhielt seine umfassende und sogar international gültige Bedeutung u.a. durch die bekanntesten deutschen Märchensammler Jacob Grimm (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859). (Lüthi, 1976, 1 f.)
1.2 Die Arbeit der Märchensammler
1.2.1 Deutsche Märchensammler: Grimm und Bechstein
Wenn man in Deutschland an Märchen denkt, dann kommen den meisten Menschen als Erstes die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm in den Sinn, die erstmals 1812 (1. Band) und 1815 (2. Band) erschienen. Lange wurde angenommen, dass dies die ersten von den Grimms gesammelten Märchen sind. Vor ca. 50 Jahren wurde jedoch herausgefunden, dass es noch eine frühere Sammlung gibt. Sie wurde bereits im Jahre 1810 fertiggestellt und wird „Oelenberger Handschrift“ genannt. Die Märchen dieser Sammlung erscheinen sprachlich etwas spröde, jedoch im Vergleich zu späteren Märchenfassungen sind sie enger an die Form mündlicher Erzählungen angelegt und haben weniger Stilisierungen erfahren. (Rölleke, 1982, 17 ff.) Weitaus bekannter als die „Oelenberger Handschrift“ ist jedoch die spätere Sammlung der Kinder- und Hausmärchen. Diese berühmte Märchensammlung von über 200 Volksüberlieferungen hat weitreichende Bedeutung, sie ist über die Grenzen Europas bekannt und Arbeitsgrundlage vieler Märchenforscher. (Rölleke, 1998, 92) Weil „Grimmsche Märchen“ zu einem feststehenden, international gültigen Begriff geworden sind, wird in der Wissenschaft gelegentlich von der „Gattung Grimm“ gesprochen. Diese Umschreibung prägte der Literaturwissenschaftler André Jolles: „... ein Märchen ist eine Erzählung oder Geschichte in der Art, wie sie die Brüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen zusammengestellt haben. Die Grimmschen Märchen sind mit ihrem Erscheinen, nicht nur in Deutschland, sondern allerwärts, ein Maßstab bei der Beurteilung ähnlicher Erscheinungen geworden. ...und so wollen wir... von der `Gattung Grimm` sprechen.“ (Jolles, 219)
Die Sammlung der Brüder Grimm hat mit anderen Märchensammlungen eines gemeinsam: Die Verfasser vieler Märchen sind unbekannt, die Geschichten wurden über Jahrhunderte hinweg größtenteils mündlich überliefert und durch Erzähler, Zuhörer und den gesellschaftlichen Einfluss geformt (Rölleke, 1998, 92). Die Brüder Grimm unternahmen einige Anstrengungen, um mündliche Märchenüberlieferungen zu erhalten. Sie initiierten z.B. 1811 einen öffentlichen Aufruf zur Sammlung von Volksliteratur, der sich an Laien richtete, und von dem sie sich Rohmaterial für ihre Sammlung versprachen. Gute Dienste bei der Sammlung lieferte den Brüdern Grimm besonders Damen aus ihrem Bekanntenkreis wie z.B. Dorothea Wild, die 1825 die Frau Wilhelm Grimms wurde. Außer aus mündlichen Überlieferungen gewannen die Brüder Grimm ihre Texte auch aus alten oder zeitgenössischen Publikationen und aus Märchensammlungen anderer Länder. (Rölleke, 1992, 62 ff.)
Durch Märchensammler wie die Grimms wurde das Volksgut Märchen erhalten, allgemein zugänglich gemacht und verbreitet. Wie andere Märchensammler auch haben die Brüder Grimm die Märchen nicht in ihrer mündlich überlieferten Form stehen gelassen, sondern sie in ihrem Sinn verändert und erweitert. Grund dafür waren neben den jeweiligen gesellschaftlichen Einflüssen auch die Persönlichkeiten der Märchensammler. Dadurch kam z.B. der eigentümliche Grimm-Ton zustande, der die Kinder- und Hausmärchen bestimmt. (Rölleke, 1998, 93) Märchen galten ursprünglich als Volksliteratur und weniger als Kinderliteratur. In dieser Tradition entstand die erste Märchensammlung der Brüder Grimm. Sie sahen ihre Arbeit mit literaturwissenschaftlichem Interesse als „Dienst an der Geschichte der Poesie“. Erst mit der Verbreitung ihrer Märchensammlung und der damit verbundenen wachsenden Begeisterung der kindlichen Rezipienten kam es zu einem Bedeutungswandel der Märchen von der Erwachsenen- hin zur Kinderliteratur. (Rölleke, 1997, 30 ff.) Als Konsequenz daraus wurden die Märchensammlungen künftig „kindgerechter“ gestaltet. Besonders Wilhelm Grimm hatte den Anspruch, Märchen einen pädagogischen Wert zu verleihen und sie zur geeigneten Kinderliteratur nach damaligen Ansprüchen umzuformen. Dies erkennt man u.a. an biederen, elterlich-pädagogisch formulierten Maximen, die in die zweite Auflage der Kinder- und Hausmärchen einflossen, wie im Märchen „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich“ (KHM 1, 13 ff.): „was du versprochen hast, das musst du auch halten“ oder im „Rotkäppchen“ (KHM 26, 115 ff.): „geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab“. Auch wurden aus der zweiten Auflage einige grausam erscheinende Märchen ersatzlos gestrichen wie z.B. „Als die Kinder Schlachtens spielten“. Kindgerechte Anpassung erfuhren auch solche Märchenszenen die von Erotik sprechen oder sie erahnen lassen. Scheinbar anstößige Stellen wurden herausgenommen oder umgeschrieben, darüber hinaus wurde der Erzählstil u.a. durch vermehrte Diminutive verkindlicht. Deutlich wird eine solche enterotisierende Textänderung z.B. bei den verschiedenen Grimm-Fassungen zum Froschkönig (KHM 1, Grimm 13 ff.). In der Fassung von 1812 ist die Szene im Schlafgemach der Prinzessin so formuliert: „Aber der Frosch fiel nicht todt herunter, sondern wie er herab auf das Bett kam, da wars ein schöner junger Prinz und sie schliefen vergnügt zusammen ein.“ In der Fassung von 1819 ist die Szene umgeändert: „Was aber herunterfiel“ – also beileibe nicht mehr „auf das Bett“ – „war nicht ein todter Frosch, sondern ein lebendiger, junger Königssohn. Der war nun von Recht und mit ihres Vaters Willen ihr lieber Gemahl“ – erst nach der dieser „Trauung“ dürfen sie dann „vergnügt“ zusammen einschlafen. (Rölleke, 1997, 36 ff.) Die Änderungen der überlieferten Geschichten durch die Märchensammler ist für die Märchenforschung grundsätzlich nachteilig. Bemühungen von Wissenschaftlern, die ursprüngliche Version eines Märchens zu finden, z.B. um auf das Alter zu schließen, werden durch die Umformungen der Sammler erschwert.
In Deutschland gab es einen weiteren Märchensammler, dessen Arbeit zu seiner Zeit weitaus mehr Beachtung fand, als die Sammlung der Grimms: Ludwig Bechstein (1801–1860). Seine Märchensammlung erschien erstmals 1845 unter dem Namen „Deutsches Märchenbuch“ und 1956 als „Das Neue Deutsche Märchenbuch“. Bechstein betont u.a. in Briefen oft seinen Anspruch, die überlieferten Volksmärchen weit weniger als die Brüder Grimm sprachlich oder inhaltlich geändert zu haben. Trotzdem enthält Bechsteins Märchensammlung Umformungen und einen eigenen Stil, auch besonders die pädogogischen Maximen betreffend. Bechsteins Märchen sind von seiner starken Religiosität und seinen persönlichen Erlebnissen geprägt. Er nahm z.B. die grausamen Stiefmuttermärchen aus seiner späteren Sammlung heraus, da er aufgrund seiner guten Erfahrungen mit der eigenen Stiefmutter das Märchenmotiv der bösen Stiefmutter für unangemessen hielt. (Schmidt, 1935, 240 ff.) Zu vielen von Bechsteins Märchenvarianten lassen sich in der Grimmschen Märchensammlung ähnliche thematische Entsprechungen finden, wie „Die verzauberte Prinzessin“ (Bechstein, 39 ff.) und „Die Bienenkönigin“ (Grimm KHM 62, 264 ff.) oder „Die schöne junge Braut“ (Bechstein, 119 ff.) und „Fitchers Vogel“ (Grimm KHM 46, 180 ff.) oder auch „Das Rebhuhn“ (Bechstein, 333 ff.) und „Die klare Sonne bringt es an den Tag“ (Grimm KHM 115, 72 ff.). Bechstein sammelte die Märchen, indem er die deutschen Lande bis in die kleinsten Winkel durchwanderte und sich bekannte und unbekannte Volksmärchen nacherzählen ließ. Außerdem nutzte Bechstein – wie auch die Grimms – bei seiner Sammlertätigkeit den international vorhandenen Märchenschatz anderer Märchensammler.
1.2.2 Internationale Märchensammler
Der erste bekannte europäische Märchensammler ist der Italiener Giovan Francesco Straparola (ca.1483–1558). In den Jahren 1550 und 1553 erschienen seine 74 Erzählungen in zwei Teilen unter dem Titel “Le piacevoli notti“. Für seine Geschichten zog er viele mündliche Überlieferungen heran, die er nahezu unretuschiert übernahm. Der Einfluss Straparolas auf die deutschsprachige Märchentradition ist nicht besonders hoch einzuschätzen, denn erst ab 1791 lag eine ins Deutsche übersetzte Teilausgabe der „Notti“ vor (Straparola, 332) und erst ab 1908 gab es eine Gesamtübersetzung von Straporolas Werk unter dem Namen „Die ergötzlichen Nächte“. (Rölleke, 1992, 12)
Einen weitaus größeren Einfluss auf die deutschen Märchensammler hatte ein anderer italienischer Schriftsteller: Giambattista Basile (ca.1575–1632). 1634 erschien seine Märchensammlung „Lo cunto de li cunti uouero lo trattenemiento de´perrerille“ („Das Märchen aller Märchen oder Unterhaltung für Kinder“), in der er über 50 Geschichten zusammentrug. Seit der Ausgabe von 1674 wurde das Märchenbuch unter dem an Boccaccio angelehnten Titel „Pentameron“ bekannt. (Rölleke, 1992, 12 f.) Auch wenn Basile alle seine Geschichten aus dem „Volksmund“ schöpfte, hat auch er diese stark nach seinem und dem Geschmack des damaligen barocken Zeitalters ausgestaltet (Lüthi, Märchen, 18). Basiles Einfluss auf die deutschen Märchensammler ist groß. Das zeigt sich darin, dass z.B. allein in der Grimmschen Sammlung mehr als 30 Märchen an Basiles Geschichten angelehnt sind. Basiles Märchen „Gagliuso“ (Basile, 117) findet man in der Sammlung von Grimm als „Der gestiefelte Kater“ (KHM 47, 191 ff.). Basiles Märchen „Die Aschenkatze“ (Basile, 57) erkennt man bei Grimm als „Aschenputtel“ (KHM 21, 100 ff.), bei Bechstein als „Aschenbrödel“ (Bechstein, 265 ff.) wieder. Basiles Märchen „Sonne, Mond und Thalia“ (Basile, 336) entspricht dem deutschen „Dornröschen“ (Grimm KHM 50, 197 f.; Bechstein, 217 ff.).
Auch in Frankreich gibt es eine „Dornröschen“-Variante. Sie heißt übersetzt „Die schlafende Schöne im Walde“ (Perrault, 7) und ist in der ältesten französischen Märchensammlung „Contes en Vers“ enthalten, die Charles Perrault (1628–1703) erstmals 1694 veröffentlichte. Es folgte 1697 die erweiterte Ausgabe „Contes de ma mère loye“. In deutscher Fassung heißt Perraults Sammlung „Märchen aus alter Zeit“. (Perrault, 1966) Auch Perrault hat seiner Märchensammlung eine persönliche Note gegeben, in seinem Fall ist es das Stilmittel der Ironie. (Lüthi, 1976, 21) Perrault hat großen Einfluss auf die deutsche Märchenkultur ausgeübt, was lange Zeit u.a. von den Grimms aus politischen Gründen negiert wurde. (Rölleke, 1992, 14 f.) Neben „Dornröschen“ erscheinen viele von Perraults gesammelten Märchen später in Grimms oder Bechsteins Sammlung wieder. So z.B. „Die Feen“ (Perrault, 61) bei Grimm als „Frau Holle“ (KHM 24, 110 ff.) und bei Bechstein als „Die Goldmaria und die Pechmaria“ (Bechstein, 67 ff.) oder auch Perraults „Aschenputtel oder der kleine gläserne Pantoffel“ (Perrault, 69) bei Grimm als „Aschenputtel“ (KHM 21, 100 ff.), bei Bechstein als „Aschenbrödel“ (Bechstein, 265 ff.).
Was ihre Verbreitung im europäischen Sprachraum und ihren Einfluss auf mindestens acht Grimmsche Märchen betrifft, muss auch die erstmals 1704 ins Französische und 1839 ins Deutsche übersetzte arabischsprachige Märchensammlung „Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten“ von Alf laila wa-laila genannt werden. Es wurden u.a. Grimms Märchen „Das Wasser des Lebens“ (KHM 97, 8 ff.), „Der Geist im Glas“ (KHM 99, 15 ff.) und „Sechse kommen durch die ganze Welt“ (KHM 71, 287 ff.) von der orientalischen Sammlung beeinflusst. (Rölleke, 1992, 16)
Es gibt verschiedene Weisen, Märchen zu erzählen. Jede hat ihren Reiz. Das Wissen um die verschiedenen Märchensammlungen und der Vergleich mehrerer Varianten eines Märchens muss die Grundlage für jegliche Märchenforschung sein. Wenn ein umfassender Überblick über die verschiedenen Varianten besteht, lässt sich eine ernstzunehmende Deutung vornehmen. (Lüthi, 1976, 22 f.)
2. Märchentheorien / Analysen- und Interpretationsmodelle
Wissenschaftler der unterschiedlichen Forschungsrichtungen betrachten Märchen als Untersuchungsgegenstand und haben sich der Analyse und Interpretation dieser Literatur gewidmet. In den verschiedenen Wissensbereichen werden Ergebnisse zusammengetragen, die sich ergänzen und auch widersprechen. In der Auswahl der heute vertretenen Märchenforschungsbereiche nehmen Literaturwissenschaft, Volkskunde und Psychologie besonders wichtige Plätze ein. Im Folgenden werden bedeutende Vertreter der jeweiligen Wissenschaft und ihre Positionen zur Märchenforschung vorgestellt.
2.1 Literaturwissenschaftliche Theorie
In literaturwissenschaftlichen Forschungsansätzen wird die Gattung Märchen als ein Erzählgenre auf formelle, strukturelle und stilistische Fragen hin untersucht. Bei der Analyse und Interpretation von Märchen sind besonders drei Literaturwissenschaftler herauszuheben, deren Erkenntnisse großen Einfluss auf die Märchenforschung genommen haben: André Jolles, Max Lüthi und Vladimir Propp. Alle drei Forscher vertreten unterschiedliche Zweige der Literaturwissenschaft und nehmen verschiedenen Blickwinkel auf das Märchen ein. Jolles geht es besonders um die gattungsspezifische Einordnung der Volksmärchen in den Kanon der „Einfachen Formen“ von Literatur. Lüthi analysiert stärker in die Tiefe: er beschäftigt sich mit Inhalts- und Stilelementen der Volksmärchen. Propp untersucht die strukturellen Gesetzmäßigkeiten und den Aufbau der Märchen.
2.1.1 Märchen als „Einfache Form“ nach André Jolles
Literaturwissenschaftliche Ansätze zur Märchenanalyse gibt es schon seit 1900. Der erste Beitrag zur Herausstellung der speziellen Gestalt des Märchens und damit zu gattungsgeschichtlichen Grundlegungen kommt von dem Deutschen André Jolles (1874-1946). (Rölleke, 1992, 101) Jolles geht bei seiner Analyse nach der „morphologischen“ Methode vor, die vom Problem der Gestalt, der Form einer Sache ausgeht. Er abstrahiert damit von ästhetischen und historischen Dimensionen. Das Märchen gehört für Jolles zu den neun „Einfachen Formen“, die er in seinem gleichnamigen, 1929 erschienenen Buch untersucht. Andere „Einfache Formen“ sind für ihn Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile und Witz. Wichtig ist für Jolles die Abgrenzung der „Einfachen Formen“ von anderen literarischen Formen und die Herausstellung der verbindenden Eigenschaften zwischen allen „Einfachen Formen“. (Jolles, 38 f.) Jolles greift auf den romantischen Begriff der „Naturpoesie“ zurück, wenn für ihn Märchen als „Einfache Formen“ ohne Zutun eines Dichters entstehen, sich quasi in der Sprache von selbst ereignen. Er setzt damit die alte Grimmsche These vom Gegensatz zwischen Natur- und Kunstpoesie in seine eigene These vom Gegensatz zwischen den „Einfachen Formen“ und den Kunstformen der Literatur um. (Ranke, 184)
Nach Jolles liegt den „Einfachen Formen“ eine bestimmte Absicht, eine Art „Geistesbeschäftigung“ zugrunde. Die Geistesbeschäftigung im Märchen liegt darin, dass das Märchen zeigt, wie es unserem Empfinden nach in der Welt zugehen müsste. Im Märchen wandelt sich die Welt nach einem speziellen Prinzip mit einer märchenhaften „naiven Moral“. Dementsprechend wird nicht gefragt: „Was muss ich tun?“ sondern: „Wie muss es in der Welt zugehen?“. Diese Haltung bezeichnet Jolles als „Ethik des Geschehens“ im Gegensatz zur „Ethik des Handelns“ bei Kant. Hieraus folgt, dass Märchen einen scharfen Kontrast zum realen Geschehen in der Welt bilden, in der oft die Ungerechtigkeit vorherrscht. Zwar gibt es in den Geschichten auch tragische Momente, diese existieren jedoch nur um ihrer glücklichen, gerechten Auflösung willen. Die Geistesbeschäftigung im Märchen hat demnach eine Doppelwirkung: Zum einen die Darstellung und zum anderen die Aufhebung des Tragischen, die eine moralische Befriedigung mit sich bringt. Seine Thesen belegt Jolles am Beispiel des Märchens „Der Gestiefelte Kater“ (Grimm KHM 47, 191 ff.). Darin wird erzählt, wie der jüngste dreier Müllerssöhne bei der Erbschaft benachteiligt wird. Er erbt nur einen Kater, die Brüder Mühle und Esel. Doch der Kater hilft seinem neuen Besitzer mit nicht ganz integeren Mitteln, diese Ungerechtigkeit des Erbes auszugleichen. Er lügt und betrügt vom Anfang bis zum Ende und frisst zuguterletzt einen Zauberer, der ihm wenig oder nichts zu Leide getan hat. Der Kater handelt nicht im klassisch moralischen Sinne, und doch ist er nicht unmoralisch. Er handelt in „naiver“ Märchenmoral und fungiert als Element der Befriedigung, welches die gerechte Welt im Märchen wiederherstellt. (Jolles, 39 ff.) Als weitere Gattungskennzeichen für Märchen nennt Jolles das „Wunderbare“, das selbstverständlich vorhanden und Grundlage jeder Handlung ist. Andere, das Wunderbare unterstützende Kennzeichen sind Unklarheiten bezüglich Zeit und Ort. Der Ort liegt z.B. „in einem fernen Lande, weit weg von hier“, die Zeit ist „lange her“. Typisch ist auch die besondere Darstellung der Personen. Sie sind deutliche Gebilde der Geistesbeschäftigung und vertreten entweder das Gute oder das Böse. Sie sind Mittel zum Zweck und „Vollzieher des geistigen Geschehens“. Weitere Märchenkennzeichen sind nach Jolles sprachliche Gebärden, die in ihrer Stärke inhaltsweisend sind. In den Gebärden treten das Tragische und das Gerechte hervor. Typisch ist auch der gute, die naive Moral befriedigende Schluss. (Jolles, 44 ff.)
Jolles Thesen werden immer wieder kritisch diskutiert. Einer der Hauptkritikpunkte ist Jolles Bezeichnung des Märchens als „Einfache Form“, wohingegen Max Lüthi (1976, 120) dessen Kunstcharakter besonders betont. Kritisiert wird auch Jolles These, dass die „Einfachen Formen“ ohne dichterisches Zutun aus sich selbst erschaffen werden. Neben anderen Kritikern sagt Ranke (184 ff.), dass solch eine romantische Fiktion vom schöpferischen Volksgeist die individuelle Leistung des Erzählers in den Hintergrund treten lässt. Für Ranke werden die „Einfachen Formen“ aus dem dichtenden und schöpferischen Gestalten von Menschen geschaffen, die den Märchen Form und Inhalt geben. Unbestritten ist Jolles Leistung bei der Märchenbetrachtung als Gesamtheit im Umfeld anderer literarischer Gattungen. Jolles Definition des Märchens hat viele Wissenschaftler wie Carl Wilhelm von Sydow und Albert Wesselski zur Weiterarbeit angeregt. Jolles Deutung der dem Märchen zugrunde liegenden „Geistesbeschäftigung“ hat den Standort der Märchen im Gefüge geistiger Prozesse bestimmt und sie vom Vorwurf der bloßen Unterhaltung befreit.
2.1.2 Stilanalyse der Märchen nach Max Lüthi
Für den Schweizer Literaturwissenschaftler Max Lüthi (1909–1991) ist das Volksgut der Märchen zwar auch einfacher Form, im Gegensatz zu Jolles erkennt er jedoch das Märchen als eigene Kunstform an. Nach seiner Ansicht sind Märchen als Gattung der Sage und der Legende überzuordnen. In seiner Forschungstätigkeit versuchte Lüthi, den „Idealtypus“ des europäischen Volksmärchens herauszuarbeiten. Neben der Grimmschen Märchensammlung untersuchte er Märchen aus ganz Europa für seine Arbeit „Das europäische Volksmärchen“, die erstmals 1947 und seitdem in vielen Sprachen und Auflagen erschienen ist. Mit dieser und zahlreichen weiteren Arbeiten wie „Es war einmal... Vom Wesen des Volksmärchens“ und „Volksmärchen und Volkssage“ wurde Lüthi zu einem der bedeutendsten Vertreter formaler Literaturanalyse.
Die grundlegende Erkenntnis von Lüthi (1976, 25) ist, dass das europäische Volksmärchen – trotz unterschiedlichster Variationen – eine Grundform besitzt, die sich durch gleiche Wesenszüge auszeichnet. Demnach ist der Grundtyp des europäischen Volksmärchens vor allem gekennzeichnet durch speziellen Handlungsverlauf, Personal, Requisiten und Darstellungsart. Die Darstellungsart ist ihrerseits durch bestimmte Formkriterien gekennzeichnet, für die Lüthi (1974, 8 ff.) die Begriffe Eindimensionalität, Flächenhaftigkeit, abstrakter Stil, Isolation und Allverbundenheit sowie Sublimation und Werthaltigkeit prägte.
Für alle Märchen stellt Lüthi (1976, 25 ff.) zunächst einen speziellen Handlungsverlauf fest, der kurz mit dem Schema „Schwierigkeiten (Kampf oder Aufgabe) und ihre Bewältigung (Sieg oder Lösung)“ zu umschreiben ist. Die Ausgangslage aller Märchen ist gekennzeichnet durch schwierige Bedingungen aus einem „Mangel“ oder einer „Notlage“ wie z.B. Armut der Eltern in „Hänsel und Gretel“ (Grimm KHM 15, 70 ff.) oder einer „Aufgabe“ wie z.B. Taufwasser für die Schwester holen in „Die sieben Raben“ (Grimm KHM 25, 113 ff.) oder einem „Bedürfnis“ wie z.B. Abenteuerlust im „Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ (Grimm KHM 4, 23 ff.). Im folgenden Handlungsverlauf des Märchens wird von der Bewältigung der Situation erzählt, welche was fast ausnahmslos gelingt und zum typisch glücklichen Ausgang führt. Der Märchenverlauf ist meistens durch eine Zwei- oder Dreiteilung der Ereignisse geprägt. Eine Aufgabe z.B. wird dreimal gestellt. So muss im Märchen „Frau Holle“ (Grimm KHM 24, 110 ff.) die Goldmarie drei Aufgaben erledigen: Brot backen, Äpfel pflücken und Betten aufschütteln. Nach Lüthi sind die Träger der Handlung das Personal. In dessen Zentrum steht der Held, der im Allgemeinen der „menschlichen-diesseitigen Welt“ angehört. Alle anderen wichtigen Märchenfiguren sind auf den Held als dessen Partner, Schädiger oder Helfer bezogen und gehören häufig der „außermenschlichen Welt“ an. Im Märchen herrscht ein Dualismus vor (gut-böse, arm-reich, schön-hässlich), d.h. die Figuren sind nie ambivalent und besitzen außer ihrer prägenden Eigenschaft keine Individualität. Dies zeigt sich u.a. darin, dass sie namenlos sind wie z.B. Königstocher, Stiefmutter, Schneiderlein oder dass sie Allerweltsnamen wie Hans haben. Das Hauptrequisit des Märchens ist laut Lüthi die Gabe. Durch sie wird es dem Protagonisten ermöglicht, die Aufgabe zu lösen oder im Kampf zu siegen. Gaben können verschiedener Art sein: „übernatürlich“ wie die Fähigkeit mit Tieren zu sprechen in „Brüderchen und Schwesterchen“ (Grimm KHM 11, 54 ff.) oder „profan“ wie ein prächtiges Kleid oder „dinghaft“ wie ein Gold erzeugendes Spinnrad in „Rumpelstilzchen“ (Grimm KHM 55, 220 ff.) oder „nichtdinghaft“ wie ein Ratschlag in „Marienkind“ (Grimm KHM 3, 19 ff.). Alle Requisiten und das Personal werden klar und deutlich dargestellt.
Nach Lüthi (1974, 8 ff.) hat die Darstellungsart aller Märchen bestimmte Stilmerkmale, die er in seinem Buch „Das europäische Volksmärchen“ beschreibt. Ein besonderes Merkmal für den Märchenstil ist die „Eindimensionalität“, welche das Nebeneinander von Diesseitigem und Jenseitigem beschreibt. Beide Dimensionen werden in einem Zuge – also übergangslos – genannt, sie verschmelzen im Märchen zu einer Dimension. Lüthi (1974, 11) meint: „Das Wunderbare ist dem Märchen nicht fragwürdiger als das Alltägliche.“ So wundern sich z.B. „Brüderchen und Schwesterchen“ (Grimm KHM 11, 54 ff.) nicht, dass das Flusswasser Brüderchen in ein Tier verwandeln kann. Die bereits beschriebene fehlende Individualität der Märchenfiguren zeigt sich im Besonderen auch darin, dass es den Figuren an einer beschriebenen Innenwelt mangelt, d.h. Eigenschaften und Gefühle werden nicht benannt. Lüthi umschreibt dieses Stilmerkmal mit „Flächenhaftigkeit“. Im Märchen werden Gefühle wie z.B. das Weinen der „Gänsehirtin am Brunnen“ (Grimm KHM 179, 225 ff.) nur beschrieben, wenn sie dem Voranschreiten der Handlung dienen. Im Falle dieses Märchens sollen die Tränen den Eltern den Weg zu ihrer verlorenen Tochter zeigen. Zum Merkmal der „Flächenhaftigkeit“ gehört auch die Raum- und Zeitlosigkeit, die das Märchen bestimmt. So handeln die Märchen meist in unbestimmter Gegend wie z.B. „vor einem großen Walde“ im „Marienkind“ (Grimm KHM 3, 19 ff.) oder in „alten Zeiten“ wie im Märchen „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich“ (Grimm KHM 1, 13 ff.). „Flächenhaftigkeit“ ist ein Hauptmerkmal des Formkriteriums, das Lüthi als „abstrakter Stil“ bezeichnet. „Abstrakter Stil“ zeigt sich z.B. bei der Präzision der Gegenstände, Farben und Handlungsweisen. Dementsprechend kennt das Märchen nur metallische und sehr klare, kräftige Farben. Beispielsweise ist die Kugel im „Froschkönig“ (Grimm KHM 1, 13 ff.) golden oder „Sneewittchen“ (Grimm KHM 49, 207 ff.) ist „so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz“. Alle Situationen und Konstellationen neigen zum Extremen oder zur Eindeutigkeit. Zum „abstrakten Stil“ gehören für Lüthi auch die regelmäßig wiederkehrenden Formeln und stereotypen Wiederholungen, wie sie z.B. der Wolf beim Überlisten der sieben jungen Geißlein (Grimm KHM 5, 31 ff.) dreimal benutzt: „Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht.“ Dazu gehören auch die bekannten und häufig vorkommenden Anfangs- und Schlusssätze wie „Es war einmal...“ und „... wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ Die weiteren von Lüthi beschriebenen Stilmerkmale der „Isolation“ und „Allverbundenheit“ bedingen einander. Die einzelnen Episoden sind isoliert voneinander. Dadurch lässt sich erklären, dass Märchenpersonen nicht aus Erfahrungen lernen wie z.B. „Sneewittchen“ (Grimm KHM 53, 207 ff.), die drei mal die tödliche Gabe der Stiefmutter entgegen nimmt ohne Verdacht zu schöpfen. Das Merkmal der „Isolation“ zeigt sich auch darin, dass die Personen stets auf sich selbst gestellt sind. Diese isolierte Stellung kann u.a. durch äußere Ereignisse wie den Tod der Eltern im Märchen „Die Sterntaler“ (Grimm KHM 153, 169 ff.) ausgelöst werden. Wegen dieser Isolation sind die Personen offen für Kontakte aller Art z.B. zu jenseitigen Helfern. Lüthi bezeichnet die sich aus der Isolation ergebende Kontaktfreudigkeit der Figuren und die unsichtbare Lenkung hinter allen Geschehnissen durch eine höhere Macht als „Allverbundenheit“. Das wichtigste Merkmal für den Literaturwissenschaftler ist die „Sublimation“, d.h. die Entwirklichung und Entleerung der Märchenmotive von ihrem ursprünglichen Sinngehalt. Gemeint ist damit, dass Märchen keine wesenseigenen Motive besitzen, sondern Elemente aus Sagen, Mythen und Wirklichkeit vereinen. Im Märchen spiegelt sich das Universum im Kleinen wieder. Zentrale Elemente des menschlichen Daseins wie Liebe und Hass, Hilfsbereitschaft und Ungehorsam kommen darin vor. Aus der Folge der sublimierten Darstellung aller menschlichen Themen bescheinigt Lüthi den Geschichten „Werthaltigkeit“. In diesem Charakteristikum der Märchen sieht er auch deren Bedeutung für die heutige Zeit, denn Motive wie Geburt, Hochzeit, Trennung, Erfolg, Misserfolg wird es immer geben. (Lüthi, 1974, 8 ff)
Kritiker werfen Lüthi vor, dass er Märchen nur nach rein formal-ästhetischen Merkmalen untersucht. Für Ranke (199) scheint die phänomenologische Betrachtungsweise Lüthis nach Form und Funktion nur ein Vorspiel zur Märchenforschung zu sein. Er fragt „Warum wird durch die Analyse hindurch nicht zur Synthesis vorgestoßen?“ Er ist der Meinung, dass Lüthi z.B. Fragen nach den schöpferischen Impulsen in seine Untersuchung einbeziehen sollte. Auch wird Lüthi von Rnke (134) vorgeworfen, dass er bei seinen Märcheninterpretationen zu wenig auf die Angebote des Textes eingeht, d.h. oft zu vage Deutungen macht oder Schwierigkeiten bei der Interpretation umgeht. Dem entgegenzustellen ist, dass es Lüthi als Literaturwissenschaftler mehr um die formale Literaturbetrachtung als um die inhaltliche Interpretation der einzelnen Texte geht. Die analytische, rein äußerliche Betrachtungsweise scheint zwar etwas einseitig, sie hilft jedoch bei einer klaren Strukturanalyse der Gattung. Lüthis Arbeit stellt durch seine konkrete Merkmalsbestimmung eine der wichtigsten Grundlagen für die literaturwissenschaftliche Märchenforschung dar. Sein Einfluss auf die weiteren Forschungsentwicklungen ist unbestritten.
2.1.3 Strukturalistische Analyse durch Vladimir Propp
Ein Gegenstück zu Lüthis Stilanalyse ist die Strukturanalyse von Vladimir Propp (1895–1970). Für Propp als russischen Vertreter des Strukturalismus steht die einem Märchen zugrundeliegende Struktur im Mittelpunkt der Literaturwissenschaft. Er arbeitet in der Tradition des Begründers der modernen Linguistik Ferdinand de Saussure. Ziel der Strukturalisten wie Propp ist es, sämtliche Einheiten eines Systems – einer Struktur – herauszuarbeiten und zu klassifizieren, sowie die Regeln ihrer Kombinationen zu beschreiben. Im Strukturalismus werden die formalen Regeln der Textkomposition gesucht. Dabei spielt der Kontext, aus dem die Literatur und insbesondere der Autor stammt keine Rolle. Getreu dem Motto: Literatur ist Form. (Kwiatkowski, 393)
Propps Hauptwerk „Morphologie des Märchens“ ist eine wegweisende Arbeit zur Erzähltextanalyse, in der gattungstypische Einheiten der Handlung und die Regeln ihrer Zusammenstellung untersucht werden. Das Werk erschien in Russland bereits 1928, da es jedoch erst 1972 in Deutsche übersetzt wurde, konnte es erst spät die deutsche Märchenforschung beeinflussen. In diesem Werk beschränkt sich Propp auf russische Zaubermärchen, die von Aleksandr Afanasjev gesammelt wurden. Propps Erkenntnisse lassen sich aber weitestgehend auf andere europäische Volksmärchen übertragen. In seinem zweiten Werk „Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens“, dass 1946 in Russland erschien, beschäftigte sich Propp mit den Quellen der Zaubermärchen und untersucht deren Genese. Dieses Werk fließt in die Ergebnisse der volkskundlichen Märchenforschung ein.
Propp geht wie Lüthi beschreibend vor, versucht aber im Gegensatz zu diesem unabhängig vom Inhalt eine allgemeingültige Struktur aus dem Märchen herauszuarbeiten. Propp hält dies für die wichtigste Voraussetzung für die Erforschung eines Märchens. (Propp, 12 ff.) Bezogen auf die Arbeit Propps kann man kurz gefasst feststellen, dass er in den russischen Zaubermärchen eine Tiefenstruktur findet, deren Elemente in jedem Zaubermärchen in einer bestimmten Reihenfolge wieder erscheinen. Propp belegt nach der Aufteilung der Märchenstruktur in die sie konstituierenden Teile, dass es zahlreiche Märchen gibt, deren Strukturen trotz unterschiedlicher Inhalte gleich sind. Er spricht von einer Transformation bestimmter Grundelemente und unterscheidet daraus ableitend konstante und variable Größen. Dabei sind nur die konstanten Größen für die Struktur bestimmend. Handlungen und auch Handlungsträger, die sogenannten sieben Aktanten – zu denen Held, falscher Held, Aussender des Helden, Antagonist, Helfer, Geber (z.B. des Zaubermittels) und die gesuchte Person (z.B. Zarentochter) zählen – sind in den Märchen an bestimmten Stellen austauschbar. Während Namen und Attribute einer handelnden Person verschieden sein können, bleiben bestimmte Handlungen – Propp nennt diese Handlungen „Funktionen“ – stets konstant. (Propp, 25 ff.) „Die Funktionen der handelnden Personen“ sind also „unabhängig davon, von wem oder wie sie ausgeführt werden. Sie bilden die wesentlichen Bestandteile des Märchens“ (Propp, 27). Wichtig ist jedoch, die Funktion in ihrem Zusammenhang zu sehen. Durch folgende Gegenüberstellung einiger Märchenanfänge aus Afanasjews Sammlung belegt Propp dies:
1. Der Zar gibt dem Burschen einen Adler. Dieser bringt ihn ein andres Reich...
2. Der Zauberer gibt Ivan ein kleines Boot. Das Boot bringt Ivan in ein anderes Reich...
3. Die Zarentochter gibt Ivan einen Ring. Die Burschen, die aus dem Ring heraussteigen, bringen Ivan in ein anderes Reich.
Propps Kernthese ist, dass es 31 (Handlungs–) Funktionen für das Zaubermärchen gibt. Jeder der 31 Funktionen hat er eine Definition und ein Symbol (Buchstabe oder Buchstabe und Ziffer) zugeordnet, so dass sich für jedes Märchen eine Strukturformel erstellen lässt. Zu den Funktionen zählen u.a. Funktion 1 „Ein Familienmitglied verlässt das Haus für eine Zeit“ (Symbol: a), Funktion 14 „Der Held empfängt ein Zaubermittel“ (Z), Funktion 16 „Kampf gegen das Böse“ (K) und Funktion 18 „Der Gegner wird besiegt“ (S). Nicht alle, aber bestimmt Funktionen müssen in jedem Märchen erscheinen. Diese sind: Funktion 8: „Schädigung oder Mangel“ (A), der die Märchenhandlung einleitet, Funktion 19: „Behebung des Mangels“ (L) und Funktion 31: die „Belohnung des Helden“ (H) durch Hochzeit oder Thronbesteigung. Aus diesen wichtigsten Funktionen ergibt sich die Formel A L H . (Propp, 31 ff.) Andere Wissenschaftler haben die Märchenstruktur noch weiter vereinfacht. Der Amerikaner Alan Dundes hat die Märchenhandlung in eine kaum mehr reduzierbaren Kurzformel zusammengefasst: I / ll = lack / lack liquidated bzw. Mangel / Mangel beseitigt. (Bausinger, 1978, 52)
Für jedes Märchen lässt sich mit Propps Symbolkatalog eine Formel erstellen. Ohne an dieser Stelle auf jedes Element einzugehen, ergibt sich z.B. aus der Reihung sämtlicher Funktionen des Märchens „Die wilden Schwäne“ folgende „Märchenformel“ (Propp, 97):
i b1 a1 c1 A1 B4 C ↑ Sch1 H1 neg Z1 neg W4 L1 ↓ V1 [ Sch1 H1 Z9 = R4 ] X 3
Sch7 H7 Z9
Die von Propp geprägten Funktionen der im Märchen handelnden Personen werden von vielen anderen Märchenforschern aufgenommen und bewertet. Kritisch hinterfragt wird Propps Anspruch, mit Hilfe seiner Methode und mit der Bestimmung der Funktionen klären zu können, was das Märchen an sich darstellt. Kritisiert wird, dass Propp bereits bei der Auswahl des Untersuchungsmaterials eine Vorentscheidung trifft, was für ihn als Zaubermärchen gilt. Propp wird häufig vorgeworfen, dass sich seine Untersuchung nur auf diejenigen russischen Zaubermärchen beziehen lässt, die in seine Untersuchung aufgenommen wurden. Dabei kann man durch eine etwas gröbere Einteilung der Funktionen sicher eine höhere Generalisierbarkeit schaffen. (Brackert, 31 ff.) Grundsätzlich steht Propps Standpunkt, Märchen über ihren Aufbau zu klassifizieren, demjenigen gegenüber, eine Einordnung über inhaltliche Aspekte zu vollziehen. Lüthi hält die Aussage Propps, dass die Struktur aller Märchen gleich sei und lediglich seine Inhalte voneinander abweichen, nicht in jedem Fall vertretbar. Er ist der Meinung, umgekehrt könne auch ein und dieselbe Aussage in ganz verschieden gebauten Sätzen formuliert werden. In diesem Fall bliebe der Inhalt konstant und die Struktur wäre variabel. Obwohl Lüthi und andere Märchenforscher für ihre Arbeit andere Ansätze gewählt haben, erkennt u.a. Lüthi (1976, 121 ff.) die weitreichende Bedeutung von Propps Werk an und stellt fest, dass sich seine eigene Stilanalyse und Propps Strukturanalyse ergänzen. Bausinger (1982, 52 f.) wirft Strukturalisten wie Propp oder dem oben erwähnten Dundes vor, dass ihre gekürzten Strukturformeln (Mangel/Beseitigung) zu allgemein seien und sich damit auch auf andere literarische Gebilde neben dem Märchen problemlos übertragen liessen. Trotz aller Kritiken ist nicht zu verkennen, dass Propp einen neuen Weg der Märchenforschung beschreitet. Mit seinen Untersuchungen zur „Morphologie des Märchens“ liefert er wichtige Grundlagen zu einer strukturalen Analyse von Erzähltexten und besonders der Gattung der Märchen. Allerdings stößt das Analysemodell schnell an seine Grenzen, wenn man den Rahmen des Märchens verlässt. (Brackert, 37) In der Märchenforschung bietet jedoch Propps Methode einen großen Vorteil: Während Versuche, Märchen nach Stoffen oder Motiven zu ordnen, oft unübersichtlich werden und zahlreiche Überschneidungen auftreten, ergibt die strukturalistische Methode ein zuverlässiges Schema, mit dem auch größere Stoffmassen gegliedert werden können. (Popp, 439) Propps strukturalistische Analyse wurde u.a. in den 1960er Jahren von der französischen Erzählforschung aufgegriffen und weitergeführt. Claude Lévi-Strauß (181 ff.) führte in diesem Zusammenhang mit Propp einen kontroversen Briefwechsel. Propps Arbeit war ebenfalls anregend für viele andere bekannte Strukturalisten wie z.B. Roland Barthes oder Umberto Eco.
2.2 Volkskundliche Theorie
Anders als die literaturwissenschaftliche Märchenforschung, die vom vorhandenen Text ausgeht, forschen die Wissenschaftler der Volkskunde in die Vergangenheit. In der Volkskunde gibt es zwei verschiedene Forschungsrichtungen um das Märchen. Eine Richtung beschäftigt sich besonders mit dem Ursprung der Märchen und deren Verbreitung. Aus dieser Forschungsrichtung entwickeln sich verschiedene Entstehungstheorien, die von verschiedenen Wissenschaftlern wie z.B. Antti Aarne vertreten werden. Die andere Richtung volkskundlicher Märchenforschung widmet sich der Analyse und Interpretation von Märcheninhalten. Der wichtigste Vertreter dieser Richtung ist Lutz Röhrich. Beide volkskundliche Forschungsrichtungen sind für die Märchenforschung unerlässlich, sie liefern eine Grundlage für alle anderen Analyse- und Interpretationsmodelle der verschiedenen Wissenschaften.
2.2.1 Theorien zur Entstehung der Volksmärchen
Fragen nach Ursprung und Verbreitung der Märchen haben viele Forscher beschäftigt. Im Laufe der Zeit sind verschiedene bekannte Theorien entstanden, die in der heutigen Zeit mehr oder minder anerkannt werden. Grundsätzlich stehen sich zwei Theoriengruppen gegenüber: Eine Gruppe favorisiert die Entstehungstheorie der Monogenese mit anschließender Diffusion, die von einem lokalisierten Ursprung der Märchen und ihrer späteren Verbreitung mittels Migration und Wanderung ausgeht. Die andere Gruppe, die Vertreter der Theorie der Polygenese mit anschließender Evolution, geht von auf der ganzen Erde gleichen Bedingungen aus, die zur Entstehung von ähnlichen Märchen in verschiedenen Gegenden führt. (Pöge-Alder, 12)
Zur Gruppe der Monogenese gehört die indogermanische Theorie, auch arische Theorie genannt. Sie ist von den Brüdern Grimm begründet, die davon ausgingen, dass sich Märchen aus alten Mythen der indogermanischen Sprachgruppe entwickelt haben und noch Reste davon in ihnen enthalten sind. Alle Märchen lassen sich nach Grimm auf ein gemeinsames Erbe zurückführen. Als Gemeinsamkeiten in den Märchen der verschiedenen Völker gefunden wurden, erweiterten die Brüder Grimm ihre Theorie und glichen sie stärker an die Theorie der Polygenese an. (de Boor, 130 ff.) Dementsprechend schreibt Wilhelm Grimm in den Anmerkungen der Kinder- und Hausmärchen: „Es gibt aber Zustände, die so einfach und natürlich sind, dass sie überall wiederkehren, wie es Gedanken gibt, die sich wie von selbst einfinden, es konnten sich daher in den verschiedensten Ländern dieselben oder doch sehr ähnliche Märchen unabhängig voneinander erzeugen.“ (Grimm, 305)
Die indische Theorie ist die andere Ausprägung der Monogenese. Ihr bekanntester Vertreter ist Theodor Benfey. Er widerspricht der indogermanischen Theorie darin, dass der Ursprung der Märchentexte nicht im indogermanischen Raum, sondern ausschließlich im Buddhismus Indiens zu finden ist. Benfey bezieht sich bei seinen Untersuchungen auf die indische Erzählsammlung Panschatantra. Die Märchen haben sich laut Benfrey von Indien aus durch Perser und Araber nach Europa verbreitet. (de Boor, 139 ff.) Heute vertreten nur noch wenige Forscher die Entstehungstheorie der Monogenese. Es wird daran gezweifelt, dass die Fähigkeit zur Märchenschöpfung einzig und allein einem Volk zugeschrieben werden kann. (Aarne, 1913, 47 f.)
Zur entgegengesetzten Theorie der Polygenese gehört die sogenannte anthropologische Theorie. Ihre bekanntesten Vertreter sind die Engländer Edward B. Tylor und Andrew Lang. Nach ihrer Ansicht kann nicht von einem einzigen Ursprungsgebiet der Märchen ausgegangen werden, vielmehr entstanden Märchen in verschiedenen Gegenden unabhängig voneinander. Tyler und Lang meinen, da alle Menschen einer bestimmten Entwicklungsstufe über eine identische seelische Grundstruktur und entsprechende Erfahrungen verfügen, können sich an verschiedenen Orten gleiche Märchen mehrmals entwickeln. Märchen sind demnach die literarische Spiegelung von ursprünglichen menschlichen Seelenzuständen und Denkprozessen. (de Boor, 146 ff.) Damit werden Parallelen zu Vorstellungen der psychologischen Märchenforschung gezogen. Die anthropologische Theorie hat zwar heute noch einige Anhänger, es wird aber weitgehend daran gezweifelt, dass Märchen mehrmals in gleicher Weise entstanden sein können. (Aarne, 1913, 49)
Das heute von den meisten Forschern anerkannte Ursprungsmodell ist die zur Polygenese gehörende historisch-geographische Theorie, auch Theorie der Wanderbewegung genannt. Sie wird von der sogenannten „finnischen Schule“ vertreten, deren wichtigster Vertreter Antti Aarne ist. Für diese Theorie der Polygenese wurde die anthropologische Theorie dahingehend weiterentwickelt, dass alle Märchen über einen „Elementargedanken“ verfügen, der den Menschen naturgegeben ist. Die „finnische Schule“ geht von einem Urtyp jedes Märchens aus, von welchem alle existierenden Varianten abstammen. Dieser Urtyp hat sich durch Volkswanderbewegungen verbreitet. (Aarne, 1913, 57 ff.) Da sich diese Wanderbewegung wellenartig von Volk zu Volk bewegte, spricht man auch von der Wellentheorie (Ranke, 196).
Geleitet von den Grundgedanken der historisch-geographischen Entstehungstheorie hat Aarne verschiedene Märchenvarianten miteinander verglichen und sie in chronologischer und geographischer Hinsicht geordnet. Daraus entwickelte er zusammen mit Stith Thompson das Märchen-Typenregister, ein allgemeingültiges System mit international gängigen Typennummern. Es besteht aus Haupt- und Untergruppen und ist grob geordnet in „Tiermärchen“ wie „Der Hase und der Igel“ (Grimm KHM 187, 254 ff.), „eigentliche Märchen“ wie „Dornröschen“ (Grimm KHM 50, 197 ff.), „Schwänke“ wie „Die kluge Else“ (Grimm KHM 34, 142 ff.) und die „nicht klassifizierbaren Typen“. (Aarne, 3 ff.) Auch wenn Kritiker wie Ranke (197) dem Typenregister zu starke Spezialisierung und geringe Übertragbarkeit vorwerfen, beeinflusst es die Arbeit vieler Märchenforscher. Es ist eines der ersten Hilfsmittel, um die Vielzahl der Märchen zu ordnen und zu katalogisieren und sorgt damit für Überschaubarkeit im Märchen-Genre.
2.2.2 Forschungsergebnisse zur volkskundlichen Märchenanalyse unter besonderer Beachtung von Lutz Röhrichs Interpretation
Die volkskundliche Forschungsrichtung, die sich speziell mit der Analyse und Interpretation von Märchen beschäftigt, ist auch aus den Bemühungen der Brüder Grimm entstanden. Die mythische Auffassung der weiterentwickelten indogermanischen Entstehungstheorie prägte die volkskundliche Märchenforschung seit den Zeiten der Brüder Grimm für ein ganzes Jahrhundert. (Bausinger, 1982, 47) Ein Vertreter der mythologisch orientierten Forschungsrichtung ist z.B. Vladimir Propp. Auch er sieht den Ursprung der Märchen in den Riten der Urvölker. Propp (1987, 21 ff.) ist der Meinung, dass im Zusammenhang mit speziellen Initiations-, Jagd- oder Ackerbauriten Geschichten zur Unterstützung der Zeremonie erzählt werden. Wenn sich diese Geschichten vom rituellen Rahmen ablösen und in anderen Zusammenhängen erzählt werden, entsteht das Märchen als Kunstform. Die Volkskunde widmete sich bis in die 1950–er Jahre neben den mythischen Ansätzen besonders der Erforschung der Bauernkultur, als deren Erbe man Märchen ansieht. Damals ging man davon aus, dass Märchen in den „unteren sozialen“ Schichten entstehen und im ländlichen Milieu ihre Verbreitung finden. Die „Schöpfung“ der Märchen wird durch die Vorstellung vom „Volksgeist“ als ein kollektiver Vorgang beschrieben. Die Vertreter der Grimm-Philologie bemühen sich besonders um das Aufdecken der Textgenese der „Kinder- und Hausmärchen“. (Pöge-Alder, 7ff.)
Der bekannteste Repräsentant der volkskundlichen Märchenforschung ist Lutz Röhrich (geboren 1922). Sein in den 1950er Jahren verfasstes Werk „Märchen und Wirklichkeit“ ist noch heute in der 5. unveränderten Auflage von 2001 von hohem wissenschaftlichen Wert, denn kein anderer Volkskundler hat eine so umfassende Arbeit verfasst. Röhrichs Untersuchungsergebnisse alter Gebräuche und Vorstellungen sind für die Volkskunde fundamental. Röhrich belegt in Märchen Reste alter Initiationsriten sowie Elemente von Jenseitsfahrt und Totemismus. Unter Initiation versteht man Bewährungsproben bei Naturvölkern, denen sich Jugendliche unterziehen mussten, um zur Gruppe der Erwachsenen zu gehören und ins heiratsfähige Alter zu kommen. In vielen Märchen ist dies so dargestellt, dass Heldin oder Held dafür ihr Elternhaus verlassen und auf ihrer Wanderung eine Aufgabe erfüllen müssen. Nicht selten wird bei den Bewährungsproben der Einsatz des eigenen Lebens gefordert, denn die Initiation wurde als Art „Tod und Wiedergeburt“ empfunden. Um sein Leben bangen muss z.B. der Held im Märchen „Die zwei Königskinder“ (Grimm KHM 113, 63 ff.). Für die Parallelität der Initiationsbräuche zum Märchen spricht auch, dass der ausziehende Märchenheld meist im Pubertätsalter ist, was dem Alter der Initianten entspricht. Männliche Helden müssen bei der Initiation meist körperliche Bewährungsproben vollbringen, wie ein Haus bauen oder einen Wald roden. Heldinnen werden im Märchen – wie auch bei Naturvölker-Riten – in ihrer Reifezeit oft abgesondert. So wird z.B. „Rapunzel“ (Grimm KHM 12, 59 ff.) mit zwölf Jahren in einen hohen Turm gesperrt. (Röhrich, 2001, 108 f.)
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