Erstspracherwerbstheorien zerstreuen sich auf stark unterschiedlichen Prämissen beruhend über ein weites Feld. Die derzeit gängigste Strömung – die nativistische Konzeption – geht von angeborenen Spracherwerbsmechanismen aus. In ihrer strengen Auslegung postuliert sie eine universale, deduktive Entwicklung des Erstspracherwerbs, die von genetisch vorprogrammierten Prinzipien geleitet wird. Spracherwerbsdaten belegen aber eine einzelsprachlich individuelle Entwicklung; so erwerben deutsche Kinder früher als spanische Kinder Daktylen und das Wortbildungsverfahren der Komposition, spanische Kinder wiederum bewältigen schneller die Produktion von Artikeln und amphibrachen Wortstrukturen. Dazu werden deutsche Daten aus einer Longitudinalstudie und spanische Daten aus der CHILDES-Datenbank untersucht.
Beim Erlernen einer unbekannten Sprache sind wir zunächst auf unsere Wahrnehmung angewiesen. Wir verstehen noch kaum ein Wort, müssen aber versuchen aus dem Redefluss Wörter zu isolieren. Für Säuglinge und Kleinkinder stellt sich die Sache ganz ähnlich dar, aber doch vollkommen anders: Sie verfügen noch nicht über muttersprachliches Wissen, das sie benutzen könnten, um eine Sprache auf Grundlage bereits erworbener Artikulationsmuster und Ähnlichkeiten nachzubilden. Allein ihre motorischen Fähigkeiten sind derart unreif, dass sie nicht einfach Wörter nachsprechen können, sondern sich in einem langen Reifungsprozess dorthin entwickeln ein Wort produzieren zu können. Da Kinder längere Zeit nur Teile von Wörtern abbilden können, wird es wichtig, welche Wortteile sie äußern; immerhin wollen Kinder mit Wörtern kommunizieren, sodass die Erkennbarkeit der kindlichen Wörter immense Bedeutung bekommt. Diese Wortteile sind die akzenttragenden Strukturen.
Wir wollen nun zeigen, dass Kinder im Erstspracherwerb zunächst die akzenttragenden Strukturen ihrer Sprache aufbauen und der weitere phonologische und morphosyntaktische Erstspracherwerb von der Akzentumgebung determiniert wird. In Kapitel I erfolgt eine Analyse der spanischen und deutschen Prosodie (I.1 bis I.3) und des jeweiligen Sprachrhythmus (I.4). Kapitel II.2 untersucht, auf welche Weise Hörer des Deutschen und des Spanischen ihre Sprachen segmentieren – unter der Annahme, dass perzeptiv isolierte Spracheinheiten besondere Bedeutung für die frühphonologische Produktion haben.
Inhaltsverzeichnis
I Rhythmus und Prosodie
0. Das verschobene Zeitmaß
1. Die prosodischen Grundsteine des Deutschen und des Spanischen
1.1 Phonemsysteme
1.2 Die More und die Silbe
2. Metrische Phonologie: Struktureinheiten
2.1 Verzweigungsmodalitäten
2.2 Der Fuß und der Takt
3. Autosegmentale Phonologie: Melodieeinheiten
3.1 Das Prosodische Wort
3.1.1 Der Wortiktus im Deutschen
3.1.2 Der Wortakzent im Spanischen
3.2 Die Intonationsphrase
3.2.1 Phonetische Korrelate des Akzents
3.2.2 Akzentkonstanz im Spanischen
3.2.3 Akzentplatzierung im Deutschen
4. Sprachrhythmus
5. Vergleich von Akzent und Alignment im Deutschen und Spanischen
II... Wahrnehmung und Analyse des Wortflusses (0-24 Monate)
0. Die Hermeneutik des Sprachenlernens
1. Die biopsychologische Grundlage
2. Segmentierung und Kategorisierung des Wortflusses
3. The Phonological Bootstrapping Hypothesis
III Erstsprachphonologieerwerb und Grammatikbildung
0. Vom Allgemeinen zum Besonderen: Der Spracherwerb
1. Motorische Reifung: Die Kontinuität der Lautentwicklung
2. Entwicklungsstadien Prosodischer Wörter
3. Ausblick auf die Syntax: Holophrasen und die Zweiwortphase
4. Grammatikevaluation und Grammatikevolution
IV Der Einfluss von Rhythmus und Prosodie auf den morphosyntaktischen Erstspracherwerb
0. Artikel und Komposita: Befunde und Prosodie
1. Aufbau von Akzentstrukturen im Deutschen und Spanischen
2. Posttonische Akzentperipherie des Deutschen
2.1 Der Fuß: Struktureinheit oder Strukturierungsprinzip?
2.2 Prosodische Komposition: Die Möglichkeiten des Fußes
3. Prätonische Akzentperipherie des Spanischen
V Schluss
VI Bibliografie
VII Anhang
Erstspracherwerbstheorien zerstreuen sich auf stark unterschiedlichen Prämissen beruhend über ein weites Feld. Die derzeit gängigste Strömung - die nativistische Konzeption - geht von angeborenen Spracherwerbsmechanismen aus. In ihrer strengen Auslegung postuliert sie eine universale, deduktive Entwicklung des Erstspracherwerbs, die von genetisch vorprogrammierten Prinzipien (ab)geleitet wird. Spracherwerbsdaten belegen aber eine einzelsprachlich abweichende Entwicklung; so erwerben deutsche Kinder früher als spanische Kinder Daktylen und das Wortbildungsverfahren der Komposition, spanische Kinder wiederum bewältigen schneller die Produktion von Artikeln und amphibrachen Wortstrukturen. Die vorliegende Arbeit möchte aufzeigen, welche anderen Faktoren auf den Erstspracherwerb in dem Sinne einwirken, dass sich die genannten Unterschiede in der Entwicklung erklären lassen. Dazu werden deutsche Daten aus einer Longitudinalstudie[1] und spanische Daten aus der CHILDES-Datenbank[2] und verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten untersucht.
Beim Erlernen einer unbekannten Sprache sind wir zunächst auf unsere Wahrnehmung angewiesen. Wir verstehen noch kaum ein Wort, müssen aber versuchen aus dem Redefluss Wörter zu isolieren. Für Säuglinge und Kleinkinder stellt sich die Sache ganz ähnlich dar, aber doch vollkommen anders: Sie verfügen noch nicht über muttersprachliches Wissen, das sie benutzen könnten, um eine Sprache auf Grundlage bereits erworbener Artikulationsmuster und Ähnlichkeiten nachzubilden. Allein ihre motorischen Fähigkeiten sind derart unreif, dass sie nicht einfach Wörter nachsprechen können, sondern sich in einem langen Reifungsprozess dorthin entwickeln ein Wort produzieren zu können. Da Kinder längere Zeit nur Teile von Wörtern abbilden können, wird es wichtig, welche Wortteile sie äußern; immerhin wollen Kinder mit Wörtern kommunizieren, sodass die Erkennbarkeit der kindlichen Wörter immense Bedeutung bekommt. Diese Wortteile sind die akzenttragenden Strukturen.
Wir wollen nun zeigen, dass Kinder im Erstspracherwerb zunächst die akzenttragenden Strukturen ihrer Sprache aufbauen und der weitere phonologische und morphosyntaktische Erstspracherwerb von der Akzentumgebung determiniert wird. So hat - neben möglicherweise angeborenen Spracherwerbsmechanismen - die Struktur des grammatischen Systems, genauer der prosodisch-rhythmischen Eigenschaften, einen Einfluss auf den einzelsprachlichen morphosyntaktischen Erstspracherwerb (untersucht werden die oben genannten Erscheinungen).
In Kapitel I erfolgt eine Analyse der spanischen und deutschen Prosodie (I.1 bis I.3) und des jeweiligen Sprachrhythmus (I.4). Verglichen werden die Akzentuierungsregeln und das Alignment (I.5). Kapitel II.2 untersucht, auf welche Weise Hörer des Deutschen und des Spanischen ihre Sprachen segmentieren - unter der Annahme, dass perzeptiv isolierte Spracheinheiten besondere Bedeutung für die frühphonologische Produktion haben. Dazu erfolgt eine Untersuchung der Gehirnaktivitäten von Neugeborenen (II.1) und schließlich die Darstellung der Phonological Bootstrapping Hypothesis, einer Hypothese über die Möglichkeit in den morphosyntaktischen Erstspracherwerb über phonologische Eigenschaften der betreffenden Sprache einzusteigen (II.3). In Kapitel III wird der Erstsprachphonologieerwerb in Teilen vorgestellt, der weitere beeinflussende Faktoren auf den Erstspracherwerb nennt (so in III.1). III.2 stellt die Wortentwicklung dar und III.3 eine Spracherwerbstheorie, die verschiedene Faktoren berücksichtigt. Kapitel IV schließlich stellt die in dieser Arbeit untersuchten Daten und ihre Analyse bereit. Dabei wird der Aufbau der akzenttragenden Strukturen und ihrer Umgebung im Deutschen und Spanischen eruiert und die beobachteten einzelsprachlichen Entwicklungen in dieses Bild eingefügt.
I Rhythmus und Prosodie
0. Das verschobene Zeitmaß
Sprache und Musik sind zwei der ältesten mentalen Disziplinen des menschlichen Geistes, die möglicherweise sogar dieselben Wurzeln besitzen (Altenmüller, 2004). Altenmüller zeigt eine Analyse der Struktur musikalischer Muster, derzufolge sie durch ihre Melodiestruktur, ihre Zeitstruktur, ihre vertikale harmonische Struktur und ihre dynamische Struktur beschrieben werden können.
Rhythmus und Metrum sind recht vertraute Begriffe aus Musik, Sprache und Literatur, genauer aus der poetischen Metrik, die zwar ein grundlegend verwandtes Metrikkonzept besitzt, das aber nicht mit dem Metrum der Sprache oder Musik verwechselt werden darf. Beide Begriffe beziehen sich auf die Zeitstruktur musikalischer oder sprachlicher Äußerungen. Standardlehrwerke der Musikwissenschaft stellen das Metrum als gleichmäßiges Pulsieren dar, als zeitliches Ebenmaß, das als Takt dem Noten- oder Silbenlauf zugrunde liegt. In der Musik finden hauptsächlich zwei Taktarten und ihre Ableitungen Verwendung: der ungerade 3/4-Takt und der gerade 4/4-Takt; dieses bedeutet, dass im 4/4-Takt genau vier Viertelschläge pro Takt erfolgen, im 3/4-Takt lediglich drei.
Der Brockhaus führt Rhythmus als grundlegendes Strukturelement der Musik auf, das vor allem durch seine Zeitaufteilung und seine Dynamik charakterisiert werden kann. Da Rhythmus - genau wie das Metrum - die zeitliche Struktur einer musikalischen Äußerung prägt, muss er sich auf das zugrunde liegende zeitliche Ebenmaß beziehen. Rhythmus und Metrum können zwar deckungsgleich sein; Rhythmus ist aber nicht das Metrum selber, sondern eben eine rhythmische, auf das Metrum bezogene Abwandlung. Abbildung (1) zeigt das Metrum eines Vier-Viertel-Taktes bildlich als Abfolge von vier isochronen Schlägen:
(1) Metrum eines 4/4-Taktes
Abbildung (2) zeigt zwei stark verwandte, lateinamerikanische Rhythmen, die sich jeweils über zwei Takte erstrecken:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Beide Rhythmen unterscheiden sich lediglich im vierten Viertel des ersten Taktes. Der Son weist an dieser Stelle ein ganzes Viertel auf, der Rumba teilt dieses Viertel in eine Achtelpause und einen Achtelschlag. Nun lässt sich die Beziehung von Metrum und Rhythmus der beiden Beispiele als akzentuelle Hervorhebung ausgewählter zeitlicher Positionen darstellen (Linien = Schläge; fette Linien = betonte Schläge):
(3) Metrum und Rhythmus des Son
[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]Metrum
[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]Rhythmus
Allerdings ist Rhythmus nicht unbedingt eine zeitliche Abweichung von den metrischen Schlägen, sondern spielen lediglich einige Rhythmen mit dem Effekt zeitlicher Varianz. Ist es beim Marsch etwa notwendig die Rhythmusschläge exakt mit dem Metrum erfolgen zu lassen, um einen Gleichschritteffekt zu erzielen, so wird im 3/4-Takt des Walzers ganz bewusst der zweite Schlag vorgezogen und der dritte nachverlagert. Auf diese Weise entsteht ein rhythmisches Vakuum in der zweiten Hälfte des Taktes. Bewegen wir uns zu diesem Rhythmus, so längen wir den zweiten Schritt, obwohl wir doch bewusst eine Gleichmäßigkeit zugrunde legen würden. Wir hören auf zu schreiten, ein Tanz entsteht. So mag dem Menschen nicht bewusst sein, dass feine zeitliche Nuancierung auf sein Rhythmusempfinden einwirkt, auch wenn es fühlbare Unterschiede im Verhältnis von Rhythmus und Metrum gibt, die er zeitlich nicht exakt fixieren kann.
Jedes musikalische Muster wird aus einzelnen, durch Ausprägungen in Tonhöhe, Dauer, Lautstärke und Klangfarbe differenzierten Tönen aufgebaut, die sich ihrerseits - rhythmisch ausgeprägt - zu Melodien verbinden. Ein ganzes musikalisches Muster setzt sich meist aus mehreren thematischen Melodieläufen, den (Vorder-, Haupt- und Nach-) Sätzen, zusammen. Diese Sätze bilden insofern größere Sinneinheiten, als sie stets einen kohärenten Melodielauf umfassen. Sie werden dementsprechend holistisch wahrgenommen. Eine beliebige, aus dem musikalischen Muster herausgeschnittene Folge von Tönen, nennt man Intervall, die korrelierende Wahrnehmung ist analytisch. Die vertikale harmonische Struktur, die durch zeitgleiche Klänge (z. B. Akkorde) entsteht, ist für die einstimmige Sprachproduktion nicht von Relevanz.
Die hier vorgestellte Analyse musikalischer Muster ist zwar nicht direkt auf Sprachsysteme übertragbar, doch weist die enge Verwandtschaft von Musik und Sprache einige deutliche und fruchtbare Parallelen auf. Unter Prosodie fasst man in der Linguistik die Beschäftigung mit Rhythmus, Melodie, Sprechtempo und -pausen zusammen, also eben jenen Eigenschaften, die sich auf die eher musikalische Seite der Sprache beziehen.
Das folgende Kapitel stellt die sprachlichen Bausteine vor, aus denen sich größere prosodisch-melodische Einheiten aufbauen (Kapitel I.2 und I.3). Insbesondere soll auf die Konstituierung sprachlicher Takte und ihrer Dynamik (Akzent) eingegangen werden. In Kapitel I.4 erfolgt eine Analyse der verschiedenen Sprachrhythmen des Deutschen und Spanischen. Im letzten Kapitel soll es um das so genannte Alignment, die einzelsprachliche Beziehung von morphologischen und phonologischen Grenzen, gehen.
1. Die prosodischen Grundsteine des Deutschen und des Spanischen Als kleinste Einheit der Musik haben wir den Ton kennen gelernt, der sich durch seine Ausprägung in Tonhöhe, Lautstärke, Dauer und Klangfarbe beschreiben lässt; auf sprachlicher Ebene reden wir von Grundfrequenzveränderungen (F0-Kontur), Intensität, Dauer und Merkmalsrepräsentation. Ein einzelner Ton stellt keine Relation her; er ist diejenige unspaltbare musikalische Einheit, aus der sich alle anderen aufbauen.
Sprache kennt ebenfalls Einheiten, die als Träger der genannten Eigenschaften fungieren: das Phonem (Merkmalsbündel) und die Silbe (F0-Kontur, Intensität und Dauer). Zwar ist die Silbe bereits aus Phonemen aufgebaut und insofern spaltbar, aber sie darf aufgrund ihrer Bedeutung für die Artikulation als prosodischer Grundstein gelten. Phoneme wiederum sind die kleinsten funktional relevanten Einheiten des Sprachsystems, die sich zu Silben zusammensetzen lassen.
1.1 Phonemsysteme
In den linearen Phonologiemodellen der strukturalistischen Phonologie und des SPE-Modells (Chomsky & Halle, 1968) werden die Eigenschaften von Lauten mithilfe phonologischer Atome, sog. Primitive, charakterisiert; die Klangfarbe eines jeden Lautes wird durch eine spezifische, distinktive Ausprägung dieser Primitive beschrieben. So gründet Trubetzkoy (1938: 41) eine Definition des Phonems als die kleinste, systematisch genutzte, bedeutungsunterscheidende Einheit des Sprachsystems auf seinen Wiedererkennungs- und Identifikationswert, durch den es sich klar von der teils sprecherabhängigen (parole), teils sprechergruppenabhängigen (Norm) oder systembedingten (langue) Aussprachevariation abgrenzt. Das Phonem /b/ z. B. wird durch die Oberklassenmerkmale [+kons], [-son] als Obstruent klassifiziert und durch die Artikulationsortsmerkmale [-hinten], [-hoch], [+labial], [-kor] und die Artikulationsartmerkmale [-kont], [+stimmhaft], [-nas], [-lat] für das Deutsche hinlänglich in Opposition zu anderen Phonemen bestimmt (Abb. (4) zeigt, dass sich /p/ und /b/ lediglich durch das Merkmal [±stimmhaft] unterscheiden). Das SPE-Modell gruppiert die distinktiven Merkmale zu Merkmalsbündeln:
(4) Lineare SPE-Darstellung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In einer einzelnen Sprache kommen allerdings niemals alle mit dem menschlichen Sprechapparat erzeugbaren Laute vor, sondern Sprachen unterscheiden sich hinsichtlich einer charakteristischen Auswahl an Phonemen, die in ihrem jeweiligen Sprachsystem genutzt werden, um Bedeutung zu
differenzieren. So weisen die Sprachen Deutsch und Spanisch die folgenden konsonantischen Phoneminventare auf:
(5) a. Deutsch (Eisenberg, 1998)
21 kons. Phoneme: / p b t d k g m n g l R f v s z J 3 ç h j ? / b. Spanisch (Pomino & Zepp, 2004)
22 kons. Phoneme: / p b t d k g m n _p g f θ s j x tj l Á r r w j /
Das deutsche Vokalsystem ist durch seine Komplexität gekennzeichnet. Zusätzlich zum Spanischen weist das Deutsche die quantitative Unterscheidung Lang- vs. Kurzvokal auf. Von vielen Phonologien wird das Merkmal der Quantität zusammen mit dem der Gespanntheit behandelt, da beide in betonten Silben aneinander gekoppelt sind.[3] Abb. (6") gibt die Vokale des Deutschen wieder; innerhalb der Ellipse finden sich zentralisierte Vokale, außerhalb dezentralisierte. Diese Unterteilung ist insofern sinnvoll, als die Realisierung der Vokale im Deutschen stark von deren Position und Status in der Organisation in höheren phonologischen Einheiten abhängt, also bestimmte Auswirkungen der Distribution auf die Qualität der Vokale widerspiegelt. Die Vokalgruppe außerhalb der Ellipse steht derjenigen innerhalb der Ellipse teilweise paradigmatisch gegenüber (Abb. (6) zeigt, dass lediglich der Schwa[4] nicht teilnimmt): So werden Vokale im Deutschen mit größerer Dauer und Artikulationsgenauigkeit realisiert, wenn sie betont werden, ein Fall, in dem die dezentralisierten Vokale artikuliert werden. Alle zentralisierten Vokale - die in unbetonten Silben oder betonten Silben mit anschließendem Silbengelenk stehen - werden mit weniger Artikulationsgenauigkeit und -energie realisiert als die dezentralisierten Vokale. Folglich zeigen deutsche Vokale dann die höchste qualitative Verwirklichung, wenn sie betont werden, den Status absoluter Nicht-Betontheit hat nur der Schwa inne.
(6) Vokalreihen des Deutschen (Ramers, 2001: 32)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(6') Vokale des Deutschen (Meibauer et al., 20072: 78)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
vorne zentral hinten
Parameter, die bei der Bildung von Vokalen eine Rolle spielen, sind Lippenrundung (gerundet - ungerundet), Zungenposition (hoch - mittel - tief, vorne - zentral - hinten) und Oralität (oral - nasal). Die hinteren Vokale des Deutschen und Spanischen sind gerundet, die zentralen und vorderen ungerundet. Im Deutschen finden sich zudem vordere, gerundete Varianten. Dem umfangreichen, zweigliedrigen Vokaltrapez des Deutschen (in Abb. (6)) steht im Spanischen ein Vokaldreieck mit lediglich fünf Phonemen gegenüber (Abb. (7)): Im Spanischen finden kaum an Status und Position orientierte Veränderungen der phonetischen Gestalt der Vokale statt, lediglich die mittleren Phoneme unterliegen leichten Schwankungen im Öffnungsgrad je nach Position in geschlossener oder offener Silbe (Pomino & Zepp, 2004).
(7) Spanisches Vokalsystem (nach Pomino & Zepp, 2004: 50)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.2 Die More und die Silbe
Nun könnte man annehmen, dass Äußerungen aus linearen Verkettungen der Merkmalsbündel in (4) bestünden, immerhin setzt sich ein beliebiger Satz aus seinen lautlichen Bestandteilen zusammen. Gegen diese Auffassung spricht aber die Annahme, dass es lautliche Eigenschaften gibt, die größere Einheiten
betreffen als einzelne Segmente. So sind etwa phonologische Prozesse wie die Vokalharmonie nicht durch isolierte Segmente erklärbar, sondern nur durch deren Zusammenwirken. Dieses ist aber nur dann möglich, wenn einzelne Segmente der Segmentkette aus Merkmalsbündeln als Teil einer übergeordneten, suprasegmentalen Struktur interpretiert werden, die durch eine Hierarchie gebunden wird. In ihrer Funktion als prosodischer Grundstein kommt dabei der Silbe in nicht-linearen Repräsentationsmodellen der generativen Phonologie die Funktion als Trägerin von (Vokal-)Dauer, Grundfrequenzveränderungen und Intensität zu.
(8) Das Konstituentenmodell der Silbe
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung (8) gibt den internen Aufbau von Silben wieder: Die Silbe kann als Projektion ihres Kerns, des Nukleus, verstanden werden (8b). Dabei formiert der Nukleus mit der Koda den Silbenreim; dieser wiederum bildet mit dem Onset die vollständige Silbe.
In einer Reihe von psycholinguistischen Experimenten konnte...
...die von der Phonologie vorgenommene und distributionell motivierte Strukturierung der Silbe in Anfangsrand und Reim als eine auch kognitiv adäquate Modellierung eingestuft werden, die wesentliche Merkmale der silbenbezogenen Sprachverwendung (Versprecher, Sprachspiele, Erinnerbarkeit) widerspiegelt (Günther, 1999: 78).
Aufgrund dieser experimentellen Bestärkung gilt die binär verzweigende Struktur in (8) für die Silbe als unkontrovers.
Wiese (1988) schreibt der Silbe eine fundamentale Bedeutung als Verhaltenseinheit in der Rede zu. So ist es etwa jedem Sprecher leicht möglich, eine Äußerung in Silben zu zerlegen, jedoch nicht in Morpheme oder Segmente. Darüber hinaus sieht er die zentrale Funktion der Silbe darin, dass sie erstens die Domäne für phonotaktische Restriktionen, d. h. Einschränkungen im Vorkommen von Lautkombinationen in bestimmten Silbenpositionen, bilde, sie zweitens als Regeldomäne für phonologische Prozesse wie der Auslaut-
Verhärtung fungiere und drittens die Silbe eine elementare prosodische Einheit sei, eben als Trägerin des Akzents (siehe Kapitel I.3).
Die Silbenränder sind fakultativ besetzbar, ein gefüllter Nukleus ist in allen Sprachen obligatorisch. Je nach Füllung der Ränder und des Nukleus können verschiedene Silbentypen konstatiert werden. Silben mit gefülltem Endrand bezeichnet man als geschlossen, Silben mit leerem Endrand als offen. Die Silbentypen nackt vs. bedeckt entstehen durch Ab- bzw. Anwesenheit eines Onsets. Eine weitere Unterscheidung wird zwischen schweren und leichten Silben getroffen. Das sog. Silbengewicht wird durch Moren[5] ermittelt; eine More erhält die Silbe für die Besetzung des Nukleus (der Onset beeinflusst das Silbengewicht nicht), eine weitere für die Besetzung der Koda oder für einen verzweigenden Nukleus.
Wiese (1988: 60) beschreibt die kanonische Silbenform für das Deutsche als CCVCC. Dabei muss zweierlei berücksichtigt werden: 1) das Verhältnis von Segmentanzahl zu Segmentdauer und 2) das Konzept der Extrametrizität.
Das CV-Modell der Silbe ist laut Ramers (2001: 78) v. a. zur Beschreibung von Phänomenen wie a) Quantitätsstrukturen und b) komplexen Segmenten entwickelt worden: „Zur adäquaten Repräsentation wird neben der
Segmentschicht, die aus der Kette der Merkmalbündel besteht, eine weitere Schicht benötigt, die CV-Schicht.“ Die Bedeutung als Verhaltenseinheit in der Rede, die Wiese der Silbe zuspricht, offenbart sich insofern im Zusammenhang mit dem CV-Modell, als sie sich artikulatorisch als ein Öffnungs- und Schließvorgang fassen lässt. Die Verschlussphase wird i. A. mit konsonantischen Elementen C, die Öffnungsphase mit vokalischen Elementen V assoziiert.[6]
Das Konstituentenmodell der Silbe lässt das Verhältnis von Segmentanzahl zur Zeitstruktur offen. So weist Zoo eine Affrikate im Onset auf, Floh einen Konsonantencluster. Die CV-Schicht, die zwischen Segmentschicht und den Silbenkonstituenten errichtet wird, vermag die unterschiedlichen
Quantitätsstrukturen und somit grundlegend metrischen Verhältnisse angemessen zu repräsentieren:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten [7]
(9)Das CV-Modell der Silbe
Abbildung (9) verdeutlicht die Relation von komplexen Segmenten (z. B. Affrikata[8] ) und von Langsegmenten zur Zeitstruktur.
Wie kann aber Wieses kanonische Silbenform CCVCC für das Deutsche die Silbenstruktur von z. B. Herbst erklären? Die postvokalischen C-Slots werden bereits durch die Konsonanten /r/ und /b/ belegt, jedoch folgen zwei weitere Konsonanten. Eine nicht unumstrittene Erklärung für das Vorkommen von weiteren Lauten ist das Konzept der Extrametrizität. Danach werden die letzten beiden Konsonanten in Herbst als extrasilbisch betrachtet, d. h. sie sind ein unsilbisches Anhängsel an die legitimierte Silbenstruktur. Das Konzept ist für Silben v. a. durch die streng der Sonoritätshierarchie folgende Segmentverkettung motiviert. Diese besagt, dass die Sonorität von Segmenten in Silben lokal zum Gipfel hin ansteigt und danach wieder abfällt. Die Segmentfolge /herbst/ allerdings weist im Offset keinen monotonen Abfall der Sonorität auf (der koronale Frikativ [s] wird als sonorer betrachtet als der labiale Plosiv [p]). Gerade die universelle Regelhaftigkeit der Sonoritätshierarchie in der Silbengeometrie bestätigt, dass die Annahme von extrametrischen Elementen als durchaus sinnvoll erachtet werden kann.
Pomino & Zepp (2004) geben für die spanische Silbe einen maximalen Onset von zwei Phonemen an, der Offset kann lediglich einfach besetzt sein. Daraus ergibt sich der Template CCVC[9] für das Spanische.
In beiden Sprachen kann demzufolge durch die Anwesenheit einer Koda Silbenschwere hergestellt werden. Unterschiedliche Verhältnisse finden sich in den Silbennuklei (Dauer, 1983: 55): In beiden Sprachen gibt es simple (V) und komplexe Nuklei; im Spanischen kommen allerdings nur Diphthonge (ViV2), im Deutschen zusätzlich Langvokale (V1V1) vor. Der Nukleus deutscher Silben kann zudem durch Vokallänge und Verzweigen zum Silbengewicht beitragen, der Nukleus spanischer Silben nur durch letzteres (man vergleiche: dt.: [ba.na:.na] vs. sp.: [ba.na.na]).
2. Metrische Phonologie: Struktureinheiten
Musikalische Muster weisen undifferenzierte Intervalle und abgeschlossene Melodieläufe auf, die sich aus einzelnen Tönen zusammensetzen. Ähnliches gilt für Sprache: Auch hier finden wir Sinnabschnitte, die eine intonatorische Melodie aufweisen, und Intervalle. Allerdings weist Sprache ein wesentlich umfangreicheres und nach gewissen Prinzipien verschachteltes Repertoire aus Einheiten auf, die sich zwischen Tönen (Phoneme und Silben) und Sätzen (Intonationsphrasen) befinden. Diese sind Struktur- und Sinneinheiten des sprachlichen Systems, die u. a. als Träger von Melodie und Semantik fungieren und deren Gestalt wesentlich die metrischen und rhythmischen Verhältnisse sprachlicher Äußerungen prägen (siehe Kapitel I.3 und I.4).
Die metrische Phonologie wurde in den 1970er Jahren zur angemessenen Repräsentation von Akzent- und Rhythmusstrukturen entwickelt. Im Wesentlichen geht sie auf die Arbeit von Liberman & Prince (1977) zurück. Sie bedient sich zweier in jener Arbeit erstellter Repräsentationsweisen: metrischer Gitter und metrischer Bäume.
Metrische Bäume werden (in zahlreichen Modellen, z. B. Giegerich, 1985) aus binär verzweigenden Bündelungen erstellt, deren einer Knoten mit s(tronger), der andere mit w(eaker) etikettiert wird. Diese Etikettierung zeigt den vornehmlich relationalen Charakter der metrischen Bäume (Abb. 10): Die Repräsentation zielt auf eine Darstellung von Prominenzrelationen. Diejenige Silbe, die ausschließlich von s-Knoten dominiert wird, bezeichnet man als Designated Terminal Element (DTE): 9
(10) Baumdarstellung (Giegerich, 1985: 139)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2.1 Verzweigungsmodalitäten
So wie jede Silbe aus einem oder mehreren Phonemen aufgebaut wird, bilden eine oder mehrere Silben wiederum einen Fuß, ein oder mehrere Füße bilden ein Phonologisches Wort usw. Man spricht von einer Hierarchie phonolo- gischer Konstituenten, der Prosodischen Hierarchie (Nespor & Vogel, 1986). Siedelt man die prosodischen Konstituenten auf verschiedenen Ebenen der Hierarchie an, so muss für eine jede Ebene geklärt werden, welche Vorkommenseinschränkungen eine Sprache aufweist und wie die Konstituenten tieferer Ebenen von Konstituenten höherer Ebenen gebunden werden.
Eine in der Sprachwissenschaft gängige Annahme über die Verzweigungsanzahl hierarchischer Strukturen sieht eine ausschließlich binäre Verzweigung vor. Dieses Postulat trifft wie dargestellt auf den Verzweigungsmodus der Silbe zu; wie aber verzweigen höhere prosodische Konstituenten? Nespor & Vogel (1986) abstrahierten aus einer Vielzahl sprachlicher Einzeluntersuchungen universale strukturelle Eigenschaften und einzelsprachliche Erscheinungen der Prosodischen Hierarchie. Die Geometrie des
Hierarchiebaumes richtet sich nach folgenden Prinzipien (Nespor & Vogel, 1986: 7):
(11) Principle 1. A given nonterminal unit of the prosodic hierarchy, [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], is composed of one or more units of the immediately lower category, [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]-1.
(12) Principle 2. A unit of a given level of the hierarchy is exhaustively contained in the superordinate unit of which it is a part.
(13) Principle 3. The hierarchical structures of prosodic phonology are n ary branching.
(14) Principle 4. The relative prominence relation defined for sister nodes is such that one node is assigned the value strong (s) and all the other nodes are assigned the value (w).
Aus den gegebenen Prinzipien lässt sich eine Konstruktionsregel exzerpieren:
(15) Prosodic Constituent Construction
Join into an n-ary branching [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] all [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]-1 included in a string delimited by the definition of the domain of [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten].
Mithilfe der Prinzipien und der Konstruktionsregel kann ein abstrakter Hierarchiebaum mit n-verzweigenden nach unten verästelnden Knoten erstellt werden (Nespor & Vogel, 1986: 8) wie der Abbildung (16) zu entnehmen ist:
(16)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Gleichzeitig werden Strukturen ausgesondert, die nicht im Einklang mit den Prinzipien stehen:
(17)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Strukturbaum (17a) wird durch das zweite Prinzip - die Strict Layer Hypothesis - ausgesondert, das eine exhaustive Dominanz phonologischer Einheiten durch phonologische Einheiten der nächst höheren Ebene fordert. (17b) verletzt die Konstruktionsregeln insofern, als zwar alle [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]-1 der Domäne von [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] zugeordnet worden sind, aber darüber hinaus zusätzlich einer weiteren Domäne. (17d) schließlich zeigt einen Verstoß gegen das vierte Prinzip, da mehrere Knoten mit (s) etikettiert sind.
Nun zu Baum (17c): Kommt ein Element [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] mehr als zweimal in einer Domäne [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] vor, stellt sich die Frage nach der Verzweigungsmodalität der Konstituenten. In (17c) ist eine binär verzweigende Struktur abgebildet, denkbar wäre allerdings auch eine n-verzweigende Struktur:
(18)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Motivation einer n-verzweigenden Struktur liegt einerseits in ihrer Einfachheit, andererseits in der fragwürdigen Wahrnehmbarkeit feinster Akzentuierungsunterschiede. Die Abbildung (18) subsumiert alle Knoten [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]-1, die zur Domäne [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] gehören, in einer identischen Dominanzrelation unter den Knoten [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]. (17c) führt im Gegensatz eine intermediale Ebene zur Bündelung zweier Knoten ein; die Verzweigungsweise ist binär, die Komplexität minimal erhöht. Betrachtet man jedoch eine Konstituente [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (siehe Abb. 19), die ein weiteres Element enthält, sieht man, dass der Grad der Komplexität proportional anschwillt; für jedes weitere Element wird eine zusätzliche intermediale Ebene errichtet:
(19)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Abbildung (18) weist eine vergleichsweise einfache Struktur auf; (19) ist unnötig komplex, da a) zwei zusätzliche intermediale Ebenen errichtet werden und b) diese intermedialen Ebenen keinen Konstituenten entsprechen, d. h. funktionslos sind.
Uhmann (1991: 27) führt als weiteres Argument die Fragwürdigkeit an, ob ein Algorithmus, der die Knoten des Baumes in (10) mit Prominenzrelationen etikettiert, die „perzeptive Realität“ erfasse. Denn erstens führe er zu einer ebenso komplexen wie feinen Nuancierung der Akzentstufen (vier und mehr), deren Abstufung wohl kaum wahrnehmbar sein dürfte. Und zweitens mache die Abwesenheit eines Nebenakzents (z. B. in Pamela) die intermediale Ebene überflüssig; eine flache Struktur repräsentiert Prominenzrelationen in einer
Domäne [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]dann angemessen, wenn sie genau einen s-Knoten und optional mehrere w-Knoten enthält. Eine hierarchische Struktur wird erst dann nötig, wenn unterhalb der Domäne [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] mehrere s-Knoten stehen. Eine dritte Möglichkeit neben der Wahl zwischen n-fachen oder binären Verzweigungen von Konstituenten besteht in der Kombination beider Möglichkeiten. In diesem Fall wird für jeweils eine Konstituentenebene eine der beiden Verzweigungsstrukturen gewählt.
2.2 Der Fuß und der Takt
In den meisten prosodischen Theorien ist die nächst größere, über der Silbe angesiedelte Konstituente der Fuß. Nach Yu (1992: 13) ist der Fuß eine Einheit aus genau einer starken Silbe und keiner bis mehreren benachbarten schwachen Silben. Eben aus diesem Umstand ist die Entscheidung für die flache, n- verzweigende Repräsentation im vorangehenden Kapitel motiviert: Eine Domäne [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] repräsentiert genau dann angemessen Prominenzrelationen, wenn sie einen s-Knoten und optionale w-Knoten enthält. Die Füße einer Sprache sind demzufolge dann hinlänglich bestimmt, wenn die „basic ingredients to a metrical constituent“ (Roca, 1994: 210) angegeben werden: a) wie lang sie sind (Bindung) und b) welche Silbe, der Kopf des Fußes, betont wird (Prominenz). Der Fuß ist somit maßgeblich an der wortinternen Prominenzverteilung und Rhythmik einer Sprache beteiligt.
Selkirk (1984) führt die Kategorie Fuß in die metrischen Bäume ein (10"), um strukturelle Prominenzunterschiede in der Nebenbetonung zwischen m[i[cón] i[tèst]] und ffl[i[témpest]] angemessener beschreiben zu können:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wiese (1996) sieht die Konstituente Fuß für das Deutsche durch folgende drei Argumente motiviert: 1) der Fuß fungiert - genau wie die Silbe - als Regeldomäne für phonologische Mechanismen; 2) er hat einen entscheidenden
Einfluss auf die Wortbildung[10] und 3) auf die Akzentzuweisung (siehe Kapitel I.3). Verschiedene phonologische Erscheinungen können ohne die Konstituente Fuß nur schwer beschrieben werden, so etwa der phonetische Status des phonemischen /h/ und das Vorkommen des Glottisverschlusslautes. Letzterer wird im Deutschen vor einen vokalischen Anlaut eingefügt, z. B. in [?am.pal]; sein fußinternes Auftreten ist zwar nicht grammatikalisch falsch, aber doch eher unüblich: [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]. Wortintern, aber fußinitial, wird er dagegen eingefügt; so heißt es [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], aber nicht [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten].
Ebenso verhält es sich mit der artikulatorischen Realisierung des phonemischen /h/. In Wörtern wie gehangen, hängen, verhalten wird das /h/ artikuliert, in den Wörtern gehen, stehen, in denen der glottale Frikativ nicht realisiert wird, tritt das phonemische /h/ fußintern auf. Dieser Umstand trägt auch zur Bestimmung der Fußstruktur in Wörtern bei und betont die Bedeutsamkeit des Wortstammes: Die Vorsilbe der ge-Präfigierung wird nicht etwa in den Fuß des Stamms integriert, sondern bildet einen eigenen Fuß aus (Wiese, 1996).
Der Fuß ist eine metrische Struktureinheit; der Parameter Bindung scheidet Fußformen in gebundene und ungebundene Füße (Roca, 1994; Kager, 1995). Erstere besitzen eine feste Silbenanzahl, die den Fuß bilden, letztere nicht: Als Struktureinheit dauert ein Fuß - sofern er nicht gebunden ist - genau so lange bis er auf eine für ihn geltende Grenze stößt. D. h. ein nebenbetonungsloser Fuß weist in einem isolierten Simplex genau die Länge auf, die zwischen dem DTE und dem Wortende aufgespannt wird. Steht dasselbe Wort aber in einem Kontext, ändert sich die Fußstruktur abhängig davon wie der Betonungsstatus der Folgesilbe ist. Dieses Verhalten ungebundener Füße wird durch das Maximal Foot Construction Principle ausgedrückt, „...which ensures that the largest possible foot must be constructed“ (Kager, 1995: 371).
Die Anzahl der möglichen Silben im Fuß wird für das Deutsche auf maximal vier Silben beschränkt; das Spanische weist ausschließlich zweisilbige Füße auf, eine ungerade Silbenanzahl im Wort hinterlässt im Spanischen ungefußte Silben, die erst auf der Ebene n+2 gebunden werden und Principle 2 (siehe Abb. (12) des vorangehenden Kapitels) verletzen. Die Verzweigungsanzahl für Füße im Deutschen ist folglich unär bis quaternär (Uhmann, 1991; Wiese,1996; Yu, 1992 u. a.), die für das Spanische binär (Roca, 1994; Harris, 1995). Beiden Sprachen gemein ist die fußinitiale, starke Silbe, wodurch man im Spanischen ausschließlich trochäische Füße findet, im Deutschen außerdem noch Daktylen und viersilbige Füße; jambische Füße sind in beiden Sprachen ausgeschlossen. Die Füße der beiden Sprachen unterscheiden sich also nur in der Verzweigungsanzahl.
In Kapitel I.0 haben wir den musikalischen Takt als Folge von Schlägen kennen gelernt, deren erster i. d. R. die Hauptbetonung enthält. Ungebundene Füße wie sie im Deutschen vorkommen zeigen große Ähnlichkeit mit dem musikalischen Takt: Auch sie kennzeichnen sich durch eine starke, initiale Silbe, der optional mehrere Silbenschläge folgen können. Insofern rechtfertigt sich die von Pheby (1980) vorgeschlagene Bezeichnung Takt.
Spanische Füße allerdings weisen nicht diese Eigenschaften auf; sie bilden eine rasche Abfolge von betonten und unbetonten Schlägen. Daher wollen wir die Bezeichnung Fuß für das Spanische weiterhin gelten lassen.
3. Autosegmentale Phonologie: Melodieeinheiten
Im Rahmen der linearen Phonologie behandelt das SPE-Modell (Chomsky & Halle, 1968) Prominenz als Zuordnung von skalaren Akzentuierungswerten zu bestimmten Segmenten, den Vokalen; der unprominenteste Vokal erhält den Wert „1“, der jeweils prominentere einen um „1“ erhöhten Wert:
(20) Lineare SPE-Darstellung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Sämtliche phonologischen Informationen werden im SPE-Modell als lineare Kette von Merkmalsbündeln repräsentiert. In die in Kapitel I.1 geschnürten, durch artikulatorische Merkmale und Oberklassenmerkmale bestimmten phonologischen Lautpakete werden weitere Informationen, z. B. metrische und tonale, integriert.
Eine Kritik an der Akzentdarstellung der SPE-Phonologie bezieht sich erstens darauf, dass Akzent eine Eigenschaft ganzer Silben sei, nicht einzelner Vokale (Lehiste, 1970 u. a.), denn die Akzentuierung einer Silbe beeinflusse nicht nur den Vokal, sondern auch die Konsonanten in ihren Marginalrändem. Zweitens wird bemängelt, dass Akzent nur als Relation zu benachbarten mehr oder weniger akzentuierten Silben begreifbar sei; isoliert betrachtet ist etwa der Akzentwert „3“ für die Silbe fant nicht interpretierbar.
In der Auseinandersetzung mit dem linearen SPE-Modell entstand in den 1970er Jahren das nicht-lineare Repräsentationsmodell der Autosegmentalen Phonologie (das im Wesentlichen auf die Dissertation von Goldsmith (1976) zurückgeht).
(21) Ebenendarstellung der Autosegmentalen Phonologie
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Autosegmentale Phonologie beschreibt die Interaktion von Sprachsegmenten in einem mehrdimensionalen System, das Informationen über die phonologische Struktur auf verschiedenen Ebenen kodiert (siehe Abbildung (21)). Ursprünglich zur Repräsentation von Tönen in Tonsprachen entwickelt, wurde es auch auf andere Bereiche wie Quantitätsstruktur, Silbenstruktur, Intonation u. a. ausgeweitet. Das Modell löst „den Zusammenhang zwischen Segmenten, Tönen und Prominenz auf und postuliert von der segmentalen Ebene unabhängige tonale und/oder metrische Ebenen (tiers), die jeweils wieder selbständige Segmente enthalten“ (Uhmann, 1991: 19). Diese selbständigen Einheiten nennt man Autosegmente. Die in Kapitel I.1 vorgestellten Phoneme werden auf der segmentalen Ebene repräsentiert. Die metrischen Konstituenten aus Kapitel I.2 befinden sich auf einer anderen, der metrischen Ebene. Die zentrale Ebene, die CV-Schicht, haben wir bereits im CV-Modell der Silbe kennen gelernt. Sie fungiert als gemeinsame Zeitachse (daher auch die Bezeichnung timing tier), die die unterschiedlichen Quantitätsverhältnisse der auf voneinander unabhängigen Ebenen angesiedelten Autosegmente auf einen abstrakten Maßstab projiziert. Die Verbindung der Autosegmente unterschiedlicher Ebenen wird über Assoziationsprinzipien, z. B. Text-Gitter-Regeln geleistet; so muss z. B. für eine mögliche Interaktion in der Prominenzverteilung die Schnittstelle zwischen Segmentebene und metrischer Ebene nach ihrer Quantitätssensitivität bestimmt werden.
Die metrische Struktur ist nicht Teil der silbischen Organisation und andersherum. D. h. es gibt Sprachen, in denen die beiden Ebenen völlig unabhängig voneinander operieren (z. B. welche mit einem strengen Akzentuierungsalgorithmus, der nur aus sich selber heraus operiert) und welche, in denen es Beeinflussung gibt: die Quantitätssensitivität.
3.1 Das Prosodische Wort
Mit dem Prosodischen Wort (PW) betreten wir eine Domäne, in der erstmals nicht nur Teile von Sinneinheiten repräsentiert werden. Zwar können Wörter auch aus einzelnen Silben oder Füßen bestehen, jedoch umfassen diese konzeptionell lediglich Einheiten unterhalb der Wortebene. I. d. R. stellt das Prosodische Wort genau das Terminalsymbol der syntaktischen Kette dar. Ebenfalls passieren wir mit dem Prosodischen Wort die Schwelle von akzenttragenden (Silben) und melodietragenden (Fuß) Einheiten zu Einheiten, die eine eigene Melodie sowie eine eigene Semantik aufweisen. Füße sind insofern lediglich melodietragend, als sie stets mit einer betonten Silbe anfangen; erst in der Kombination zu Wörtern offenbart sich eine prosodische Melodie. Die Sprachen Deutsch und Spanisch weisen verschiedene Verfahren auf, um Wörter in Isolation mit Akzent zu versehen. In beiden Sprachen fangen Füße mit betonten Silben an; ist ein Fuß derart in ein Prosodisches Wort eingebettet, dass er nicht mit der ersten Silbe beginnt, so zeigen die beiden Sprachen ein unterschiedliches Verhalten: Das Deutsche bildet einen sog. entarteten Fuß aus (Wiese, 1996); das Spanische lässt ungefußte Silben zu (Lleó & Demuth, 1999): dt.:[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]vs. sp.:[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]
3.1.1 Der Wortiktus im Deutschen
Eine Iktus- und Akzentplatzierung wird in der Autosegmentalen Phonologie über Assoziationsprinzipien geleistet. Uhmann (1991) beschreibt sie in der Anwendung metrischer Gitter auf das Deutsche als Text-Gitter-Regeln, die eine Projektion von Schlägen auf die metrische Ebene leisten. Zusätzlich wird eine zweite Gruppe von Regeln angenommen: Die Wohlklangsregeln, die rhythmische Alternation zwischen Schlägen intern auf der metrischen Ebene herstellen (siehe Kapitel I.3.2.3).
Die Unterscheidung von Iktus und Akzent geht im Deutschen auf eine Trennung von potentieller, durch die Wortakzentuierungsregeln generierter Akzentuierungsposition und tatsächlicher Akzentrealisierung in Phrasen, Akzent genannt, zurück. „Wörter an sich sind ja überhaupt nicht akzentuiert. Sie sind allenfalls akzentuierbar [...]. Die Akzentstelle des Wortes gibt lediglich an, welche Silbe prominent wird, wenn das Wort akzentuell oder rhythmisch hervorgehoben wird.“ (Vennemann, 1986: 60). Uhmann schafft für das Deutsche sämtliche prosodische Kategorien zwischen der Silbe und der Intonationsphrase ab. In die Akzentgenerierung fließen syntaktische Größen wie Wort (W), Stamm, Affix, Phrase, Satz ein. Die Text-Gitter-Regeln (22) bis (24) bestimmen die Iktusposition, die Phrasenregeln (37) und (38) legen dann die tatsächliche Akzentposition fest und verbinden die Ikten und Akzente mit tonaler Information.
Die kleinste Einheit der rhythmischen Organisation des Deutschen ist die Silbe. In diesem Sinne generiert die Regel (22) für jede Silbe einen Basisschlag auf Ebene 0 des metrischen Gitters:
(22) Silbenprinzip (Uhmann, 1991: 177)
Jede Silbe erhält unabhängig von ihrer internen Struktur einen Schlag auf der untersten Ebene.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Silbenstruktur wird durch Schlagzuweisung auf der ersten Ebene erfasst: (23) Regel für potentielle Iktusträger (ebd.: 177)
Alle Silben, die einen unreduzierten Vokal (kein [э] und keinen silbischen Konsonanten) aufweisen, erhalten einen Schlag auf der 1.Ebene.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[...]
[1] Die deutschen Daten stammen aus einer Longitudinalstudie im Rahmen des DFG- Forschungsprojekts „Frühkindliche Zweisprachigkeit: Italienisch - Deutsch und Französisch - Deutsch im Vergleich“, 1999-2005, gefördert aus DFG-Mitteln unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Müller. Vgl.: Müller et al. (2006).
[2] Vgl.: MacWhinney, B. (2000).
[3] Zur Diskussion über die Klassifikation der Vokale mit den Merkmalen der Gespanntheit oder der Länge: Vgl. z. B. Ramers (1988), Vennemann (1988), Eisenberg (1998) u. a..
[4] [в] nimmt ebenfalls nicht teil, kann aber ausgeschlossen werden, da dieser Laut eine Instanz der Konsonantenkombination /er/ oder des vokalisierten /r/ ist.
[5] Die More ist allerdings kein prosodischer Grundstein, sondern eine Struktureinheit. Da aber Silbenstrukturen nicht vollständig ohne das Konzept der More zu beschreiben sind, werden sie an dieser Stelle bereits mitbehandelt.
[6] In Ausnahmefällen jedoch können auch konsonantische Elemente die Position V besetzen (pst oder umgangssprachliches habη); vokalische Elemente besetzen sogar in Diphthongen und Langvokalen ganz regelmäßig die Position C.
[7] Verzweigende Nuklei (CV oder VC) werden im CV-Modell der Silbe nicht in ihrer Art (z. B. Langvokal vs. Diphthong) differenziert. Für die Beschreibung des Erstsprachphonologie- erwerbs werden im Folgenden Silbenstrukturen mit dem Konstituentenmodell repräsentiert. Das CV-Modell wird dennoch vorgestellt, um sich dem Begriff des Silbentemplates zu nähern.
[8] Das Problem der Affrikata im Deutschen soll an dieser Stelle nicht behandelt werden. Eine ausführliche Darstellung findet sich z. B. in Wiese (1988).
[9] Im Spanischen findet sich als alleiniges extrametrisches Segment der koronale Frikativ [s]. Konsonantencluster des Onsets sind auf Kombinationen aus Obstruenten und Liquiden beschränkt (Pomino & Zepp, 2004: 63).
[10] Dieses Argument wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit vernachlässigt. Siehe: Wiese (1996: Kapitel 4).
- Arbeit zitieren
- Michael Bradley (Autor:in), 2007, Der Einfluss von Rhythmus und Prosodie auf den morphosyntaktischen Erstspracherwerb, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88618
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