Das deutsche Grundgesetz verbietet es, Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder ihrer Sprache ungleich zu behandeln. Studien decken jedoch Unterschiede in den Bildungschancen auf, die unter anderem mit dem Migrationshintergrund zusammenhängen. Doch fühlen sich Schülerinnen und Schüler im deutschen Bildungssystem wirklich diskriminiert oder benachteiligt?
Grundsätzlich entwickeln Kinder bereits im Alter von sechs bis acht Jahren einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sinan Yildiz untersucht deshalb in seiner Publikation, ob Diskriminierung in Schulen noch immer gegenwärtig ist und wie Schülerinnen und Schüler die aktuelle Situation wahrnehmen. Seinen Fokus legt er auf die Erfahrungen von Lernenden mit Migrationshintergrund.
Dazu stellt er die Entwicklung von Migration und Bildung seit 1945 dar und geht auf verschiedene Zuwanderungsgruppen in Deutschland ein. Anschließend setzt er sich mit den Gründen für eine mögliche Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund auseinander. Sein Buch erklärt, wie institutionelle Diskriminierung funktioniert und welche Auswirkung diese Mechanismen auf das Empfinden der betroffenen Schülerinnen und Schüler haben.
Aus dem Inhalt:
- Integration;
- Bildungsgerechtigkeit;
- Bildungsungleichheit;
- soziale Herkunft;
- Chancengleichheit
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 „Jugend“ – Versuch einer Definition
1.2 „Adoleszenz“ – Begriffsbestimmung
2 Migration und Bildung in Deutschland seit 1945
2.1 Zuwanderungsgruppen in Deutschland
2.2 Ursachen und Gründe von und für Migration
2.3 Bildungsbe(nach)teiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrations- und Zuwanderungshintergrund
2.4 Soziale Disparitäten im deutschen Bildungssystem (PISA-Studie)
3 Diskriminierung
3.1 Institutionelle Diskriminierung
3.2 Mögliche Präventionsmaßnahmen
4 Empirische Erhebung
4.1 Quantitative Forschungsmethode
4.2 Erhebungsmethode
4.3 Rahmenbedingungen
4.4 Aufbau/Konzipierung des Fragebogens
4.5 Durchführung der Befragung
4.6 Auswertung der Ergebnisse
5 Interpretation der Ergebnisse
6 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Fragebogen
Elternbrief
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Impressum:
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 Modell für die Entstehung und Reproduktion von sozialer Ungleichheit der Bildungs-chancen nach Boudon (1974)
Abbildung 2 Konzeptueller Rahmen für die Untersuchung der Bildungsgerechtigkeit in PISA 2015
Abbildung 3 Handlungsebenen
Abbildung 4 Bausteine für ein schulisches Antidiskriminierungskonzept
Abbildung 5 Anzahl Geschlechter und Verteilung auf Schulformen
Abbildung 6 Alter der Befragten
Abbildung 7 Verteilung Schülerinnen und Schüler nach Migrationshintergrund und Geschlecht auf den Schulformen
Abbildung 8 Zuordnung Migrationshintergrund nach Kontinent
Abbildung 9 Persönliche Diskriminierungserfahrungen
Abbildung 10 Bildungsabschluss Mutter
Abbildung 11 Bildungsabschluss Vater
Abbildung 12 Auszug "schlechtere Note"
Abbildung 13 Von wem ging Diskriminierung aus?
Abbildung 14 Diskriminierungserfahrungen nach Konfession
Abbildung 15 Diskriminierungserfahrungen nach Geschlecht und Migrationshintergrund
1 Einleitung
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (vgl. Bundesamt für Justiz o. J.).
Dieser Artikel, eines der Grundrechte jedes Bürgers der Bundesrepublik, des Grundgesetzes verbietet Menschen wegen diverser Dinge ungleich zu behandeln. Bereits im Kindesalter entwickeln – schon Sechs- bis Achtjährige – einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn (vgl. Bartens 2014, o. S.).
In den letzten Jahren haben zudem diverse Schulleistungsvergleiche sowohl national (IGLU) als auch international (PISA) die Unterschiede im Bildungsbereich vermehrt in das Bewusstsein der Bevölkerung und Öffentlichkeit gerückt. Hierbei sind vor allem das Geschlecht, die soziale Herkunft wie auch der Migrationshintergrund entscheidende Faktoren (vgl. Gomolla 2010, S. 81). Doch fühlen sich Schülerinnen und Schüler im deutschen Bildungssystem wirklich diskriminiert oder benachteiligt? Dieser Frage soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden.
Zunächst sollen die Begriffe ‚Jugend‘ und ‚Adoleszenz‘ definiert werden. Dabei wird versucht beide Begrifflichkeiten voneinander abzugrenzen und näher darzustellen, da beide Wörter oft synonym verwendet werden, was jedoch allgemein nicht richtig ist.
Im darauffolgenden Kapitel soll die Entwicklung von Migration und Bildung seit 1945 untersucht werden. Hier wird zunächst versucht die verschiedenen Zuwanderungsgruppen in Deutschland näher zu beschreiben. Dabei liegt der Fokus vor allem auf den Spätaussiedlern aus den ehemaligen Sowjetstaaten, den Gastarbeitern aus den südlichen europäischen Ländern sowie den Flüchtlingen und Asylsuchenden. Unter anderem soll eine Antwort auf die Fragen, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland leben, aus welchen Nationen sie ursprünglich kommen und wie es aktuell aussieht, gegeben werden. Die Flüchtlinge und Asylsuchenden wurden in dieser Arbeit bewusst berücksichtigt, da es in den letzten Jahren vermehrt Zuwanderung aus den Ländern Syrien, Afghanistan und anderen Staaten, um nur einige Beispiele zu nennen, gab oder gibt. Ferner sollen mögliche Gründe und Ursachen von und für Migration dargestellt werden. Darauffolgend soll die Bildungsbenachteiligung bzw. Bildungsbeteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrations- und Zuwanderungshintergrund aufgegriffen werden. Hier wird vor allem nach möglichen Gründen für die Benachteiligung von Migrantenkindern gesucht, die schon früh doppelt benachteiligt sind (vgl. Lokhande 2016, S. 4). Darüber hinaus soll der Terminus ‚Soziale Ungleichheit‘ definieren werden, um anschließend auf zwei Theorien einzugehen. Zum einen wird versucht die Theorie der Herkunftseffekte nach Boudon zu erläutern. Andererseits wird die Kapitaltheorie nach Bourdieu mit seinen verschiedenen Ebenen ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital dargestellt. Daran anknüpfend sollen, anhand der PISA-Studie, soziale Disparitäten im deutschen Bildungssystem zu verdeutlicht werden.
Außerdem wird der Begriff Diskriminierung definiert. Hier soll die Frage beantwortet werden, was Diskriminierung allgemein ist und wie diese zustande kommt. Der Fokus liegt hier insbesondere auf der ‚Institutionellen Diskriminierung‘, da in der vorliegenden Arbeit die Diskriminierungserfahrungen von Schülerinnen und Schülern mit Migrations- und Zuwanderungshintergrund hinsichtlich verschiedener Schul- und Altersstufen untersucht werden soll. Folglich sollen mögliche Präventionsmaßnahmen, wie Benachteiligung im Allgemeinen, aber auch im schulischen Kontext verhindert werden könnte, genannt werden.
Mithilfe einer empirischen Erhebung wird, anschließend an den theoretischen Teil, versucht zu erforschen, wie die Diskriminierungserfahrungen von Schülerinnen und Schülern mit sowie ohne Migrations- und Zuwanderungshintergrund sind, um eine Gegenüberstellung beider Perspektiven möglich zu machen. Die Forschungsfrage der vorliegenden wissenschaftlichen Arbeit ist hierbei: ‚ Fühlen sich Schülerinnen und Schüler mit Migrations- und Zuwanderungshintergrund im Kontext Schule benachteiligt?‘ . Nach Vorstellung der Erhebungsmethode, den Rahmenbedingungen sowie dem Aufbau des Erhebungsinstruments und der Durchführung der Befragung, sollen die Ergebnisse ausgewertet und präsentiert werden. Dabei werden mögliche Annahmen, die zuvor formuliert wurden, widerlegt, belegt und interpretiert, um abschließend eine Schlussfolgerung und ein Fazit formulieren zu können.
Ziel dieser Arbeit ist zu untersuchen, ob Diskriminierung in Institutionen, wie Schulen, noch immer gegenwärtig ist. Dabei soll der Fokus hauptsächlich auf den Erfahrungen von Lernenden mit Migrationshintergrund basieren.
1.1 „Jugend“ – Versuch einer Definition
Eine Definition des Begriffs „Jugend“ erweist sich als komplex, da es sich dabei um keinen wissenschaftlichen Terminus handelt, sondern um einen gewöhnlichen Begriff aus dem Alltag (vgl. Scherr 2009, S. 17). Ferner gibt es keine einheitliche Definition in den Fachterminologien der Pädagogik, Soziologie oder Psychologie, da alle Fachdisziplinen unterschiedliche Sachverhalte ins Zentrum stellen (vgl. ebd. S. 18). Im alltäglichen Sprachgebrauch wird zumeist sehr undifferenziert über die so genannte „Jugend“ gesprochen (vgl. Ecarius et al. 2011, S. 13). Dies ist ein vielfältiger Terminus, der „kategorial gestaltet und innerhalb eines Aussagen- bzw. Handlungssystems eingebunden [ist]“ (ebd.). Im Folgenden soll der Begriff Jugend definiert werden.
Es handelt sich bei dem Wort Jugend um eine Phase des Lebens, welche unscharf unterschieden wird sowie um eine Gruppe von Personen, die dieser zugeordnet werden, wie beispielsweise Jugendliche (vgl. ebd.; Gudjons & Traub 2016, S. 135; sowie Kessels 2013, S. 39). Sie erstreckt sich von der Kindheit bis zum Erwachsenenleben (vgl. Ecarius et al. 2011, S. 13) und „legt Annahmen über besondere Verhaltensmuster und Eigenschaften nahe [...]“ (Scherr 2009, S. 17). Laut Gudjons und Traub wird unter dem Terminus Jugend oftmals eine Altersphase verstanden, welche gewöhnlich vom 13. bis zum 20. Lebensjahr andauert (vgl. Gudjons & Traub 2016, S. 135). „Aus entwicklungspsychologischer Perspektive wird [...] das Eintreten der Geschlechtsreife (Pubertät) als Ende der Kindheit und Beginn des Jugendalters angesehen“ (Kessels 2013, S. 39). Der gegenwärtige Terminus Jugend dient „im rechtwissenschaftlichen Bereich zur Bezeichnung von jungen Menschen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, jedoch noch keine 18 Jahre alt sind [...]“ (Ecarius et al. 2011, S. 13).
Die wissenschaftliche Jugendforschung ist im Gegensatz zur Alltagskommunikation auf das Klären eines Grundbegriffs angewiesen, da es für empirische Untersuchungen unüberwindbar ist Altersgrenzen festzulegen, um darüber entscheiden zu können, wer als jugendlich gilt (vgl. Scherr 2009, S. 17). Zudem ist Jugend bei weitem nicht gleich Jugend (vgl. Gudjons & Traub 2016, S. 135), auch wenn ein „lebensweltlich-umgangssprachliche[s] Verständnis [...]“ ausreichend ist, „um zu wissen, was gemeint ist, wenn man von der ‚Jugend von heute‘ oder ‚unserer Jugend‘ spricht“ (Ecarius et al. 2011, S. 13). Es ist unausweichlich von einem selbstverständlichen Gebrauch des Begriffs abzusehen und zu verdeutlichen, in welchem Kontext eine Person von Jugend spricht (vgl. ebd., S. 13).
Albert Scherr sowie Hubertus Godjons und Silke Traub zufolge ist Jugend ein Phänomen, das gesellschaftshistorisch ist (vgl. Gudjons & Traub 2016, S. 135; sowie Scherr 2009, S. 19). Dies bedeutet, dass es eine Jugendzeit, wie sie in der heutigen Zeit üblich ist, nicht immer gab und dass sich bei vielen Naturvölkern ebenfalls keine ausgedehnte Jugendphase findet. Viel eher wird hier die Aufnahme in das Erwachsenenleben durch diverse Riten der Initiation geregelt (vgl. Gudjons & Traub 2016, S. 135).
Rudolf Richter nach ist Jugend, wie wir sie heute bezeichnen, gekennzeichnet durch Besonderheiten in der sozialen und psychischen sowie biologischen und kulturellen Entwicklung (Richter o.J., S. 27). Biologisch betrachtet „dient ‚Jugend‘ zur Bezeichnung der Entwicklungsstrecke zwischen dem so genannten puberalen Wachstumsschub und dem Abklingen des zweiten Gestaltwandels [...]“ (Ecarius et al. 2011, S. 13f). So beginnt diese Phase der Jugend, im biologischen Sinne, mit der Entwicklung einer Sexualreife (vgl. Richter o.J., S. 28). In der sozialen Phase wiederum sind Jugendliche auf der Suche nach ihrer Stellung in der Gesellschaft (vgl. ebd.). Hierbei ist die Lebensphase gemeint, „in der ein Mensch nicht mehr die stark in familiäre Zusammenhänge eingebundene Rolle des Kindes spielt, zugleich aber auch noch nicht die Rolle eines Erwachsenen einnimmt [...]“ (Ecarius et al. 2011, S. 14).1
Die Jugend als eine eigenständige Lebensphase zu betrachten, die von der Kindheit unterschieden wird, wurde erst im 19. und 20. Jahrhundert realisiert (vgl. Scherr 2009, S. 19). In den frühen 1800er Jahren wurden männliche Heranwachsende, die dem Adel angehörten, als „junge Herren“ bezeichnet (vgl. ebd.). Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, genauer 1880, trat der Ausdruck „Jugendlicher“ hervor, welcher als eine eng mit der Geschlechtsreife verknüpfte Entwicklungs- sowie Lernphase zu verstehen ist, „in der [eine] besondere pädagogische Aufmerksamkeit und eine geschlechtsbezogen differenzierte Erziehung erforderlich sind“ (vgl. ebd.; Scherr 2009, S. 19). Seit Anfang des 20. Jahrhunderts sind die Begriffe „Jugendlicher“ und „Jugendliche“ geläufig, welche eine übergeordnete Bezeichnung für beide Geschlechter ist. Hierbei sind Heranwachsende gemeint, die nicht mehr als Kinder, aber auch nicht als volljährige bzw. vollwertige Erwachsene angesehen werden (vgl. Ecarius et al. 2011, S. 15). Der Terminus Jugend „[...] wurde immer wieder mit dem Begriff >> Sturm und Drang << in Zusammenhang gebracht, den man als Schlüsselwort für unstete Gefühlslagen und Lust am Risiko verstand“ (Schneider & Lindenberger 2012, S. 236).
Im Anschluss an dieses Kapitel wird im Folgenden der Begriff Adoleszenz näher betrachtet.
1.2 „Adoleszenz“ – Begriffsbestimmung
Der Terminus Adoleszenz bezeichnet einen Zeitraum, der mit Eintritt der Geschlechtsreife beginnend eine länger gespannte Phase der Entwicklung umfasst (vgl. Gudjons & Traub 2016, S. 136). Dabei sollte beachtet werden, dass der Begriff „Adoleszenz“ keineswegs identisch mit dem Begriff „Jugend“ ist, obwohl beide Termini in adoleszenztheoretischen Werken synonym verwendet werden (vgl. Tressat 2011, S. 17). Folglich soll Adoleszenz definiert und vom Begriff Jugend differenziert werden.
Der Terminus stammt vom Lateinischen „adolescere“ ab und bedeutet übersetzt „heranwachsen“ oder „aufwachsen“ (vgl. Konrad & König 2018, S. 2). Tressat nach betont die „adoleszenztheoretische Sicht der Jugendphase [...] insbesondere, dass der adoleszente Entwicklungsprozess ein Individuierungsprozess ist [...]“ (ebd.).
In der Adoleszenz geht es um Identitätsfindung und einen Selbstkonzeptaufbau mit diversen Teilaspekten, wie beispielsweise dem Geschlecht, Sozialstatus und der Religion (vgl. Schneider & Ulman 2012, S. 53).
Hierbei werden drei bzw. vier Phasen der Reifung unterschieden. Um den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu überschreiten, liegt das besondere Augenmerk auf der Phase der mittleren Adoleszenz. Die beiden anderen Phasen der Reifung, Früh- und Spätadoleszenz werden lediglich kurz erläutert, wohingegen die Postadoleszenz keine Beachtung findet.2
Die erste Reifungsphase ist dabei die Pubertät, auch frühe Adoleszenz genannt, welche die sexuelle und physische Reifung einleitet, die einen entscheidenden Platz in der Frühpubertät einnimmt (vgl. Woolfolk 2014, S. 71; sowie Gesellschaft für Familienorientierung 2004, S. 1). Diese Phase der Adoleszenz kann, nach Berk, für einige Jugendliche eine grundsätzlich schwierige Phase sein, bringt jedoch signifikant verbesserte Eigenschaften zum logischen Denken mit sich (vgl. Berk 2011, S. 488). Im Gegensatz zur Jugend kann in der Adoleszenz eine Altersspanne eingegrenzt werden. Gudjons und Traub grenzen den Zeitraum der Pubertät bzw. der frühen Adoleszenz auf 10 bis 13 Jahre ein, wohingegen nach Laurence Steinberg diese Phase vom zehnten bis zum vierzehnten Lebensjahr reicht (vgl. Gudjons & Traub 2016, S. 136; sowie Steinberg 2008, S. 7). Die Gesellschaft für Familienorientierung wiederum unterscheidet nochmals unterschiedliche Altersgruppen bei Mädchen und Jungen. So wird die frühe Adoleszenz bei Mädchen auf 10 bis 13 Jahre und bei Jungen auf 11 bis 14 Jahre eingegrenzt (vgl. Gesellschaft für Familienorientierung 2004, S. 1). Die Ansicht, dass die Pubertät den Beginn der Adoleszenz charakterisiert, macht deutlich, dass „biologische Veränderungen zu dieser Zeit eine wesentliche Grundlage der weiteren Entwicklung darstellen“ (Konrad & König 2018, S. 3).
In der mittleren bzw. eigentlichen Adoleszenz, mit der die sexuelle Reife vollendet ist, wirken viele Jugendliche optisch zumeist wie ausgewachsene Menschen (vgl. Gesellschaft für Familienorientierung 2004, S. 2). Laurence Steinberg nach reicht die Altersspanne der zweiten Reifungsphase von etwa 14 bis 17 Jahre, wohingegen Fend diesen Zeitraum auf 15 bis 17 Jahre eingrenzt (vgl. Steinberg 2008, S. 7; sowie Fend 2005, S. 92). Die Suche nach Objektbesetzungen in dieser Phase nimmt neue Aspekte an, differente als die, die in den beiden anderen Stadien der Adoleszenz bestanden haben (vgl. Blos 1992, S. 104). Peter Blos bezeichnet diese Reifezeit der Adoleszenz als den zweiten Akt eines klassischen Dramas (vgl. ebd., S. 105). Die Zuschauer sehen dabei ein, dass ein Bruch mit den Erwartungen und Ereignissen der Vergangenheit von Nöten ist und dass diese Auseinandersetzung entschieden zur Schluss-Klimax vorantreibt (vgl. ebd.). Laut Blos haben in diesem Akt Vorfälle eine entscheidende Wendung genommen, wobei das exakte Ende noch nicht bekannt sei, da nur der letzte Akt Aufklärung geben könne (vgl. ebd.). Erste neue psychische Strukturbildungen beginnen, nachdem die alten, die sexuelle Lust betreffende Bindungen, allmählich verdrängt worden sind und sich die ablehnende Haltung gewissermaßen erschöpft hat (vgl. Fend 2005, S. 92). Das „Ich-Ideal“, welches zur essenziellen neuen Regulationsinstanz der Person werden muss, kündigt sich an, nachdem sich die libidinöse Energie nun auf das imaginäre Ich richtet, das das an die Erziehungsberechtigten gebundene Über-Ich ablöst (vgl. ebd.). Somit bricht der Heranwachsende endgültig mit den infantilen Liebesobjekten (vgl. Blos 1992, S. 105). Das Aufgeben der bisexuellen und narzisstischen Haltung ermöglicht hierbei eine Objektbesetzung, welche heterosexuell ist. Dies charakterisiert die psychologische Entwicklung in dieser Phase der Adoleszenz (vgl. ebd., S.104). „Das Schwanken der libidinösen Zuwendung zum eigenen oder dem anderen Geschlecht läßt nach, und die Präferenzen beginnen sich deutlich auf gegengeschlechtliche Partner zu richten“ (Fend 2005, S. 92). Blos formuliert dies als Zuwendung zur heterosexuellen Liebe (vgl. Blos 1992, S. 105). In diesem Entwicklungsabschnitt wird es stets bedeutsamer, die zunehmende Komplexität der mentalen Entwicklung in ihre Komponenten zu zerlegen, da im geistigen Bereich die Frage nach dem „Wer bin ich?“ in den Vordergrund rückt, die von Phantasien über Zukunftsträume und ideale Freundschaften begleitet wird (vgl. ebd., S.104; sowie Fend 2005, S. 92). Die Grundhaltung der mittleren Adoleszenz ist die „von bevorstehender Unwiderruflichkeit und entscheidender Wendung“ (Blos 1992, S. 105). Das Emotionale ist im Gegensatz zur vorherigen und nachfolgenden Phase „intensiver, tiefer und hat einen größeren Spielraum“ (ebd.). Laut Peter Blos löst ein stark gestiegener geschlechtsgerechter Trieb, der maßgeblich Einfluss hat, zunehmend Konfliktangst im ‚Ich‘ aus (vgl. ebd., S. 104). Dies ruft „ Abwehrstrategien gegenüber den neuen sexuellen Impulsen auf den Plan [...]“ (Fend 2005, S. 92), wobei sich Anpassungs- und Abwehrmechanismen in all ihren vielschichtigen Variationen in den Vordergrund des mentalen Lebens drängen (vgl. Blos 1992, S. 104). Das endgültige Ziel ist die sexuelle Identifizierung der adoleszenten Triebdifferenzierung in diesem Abschnitt (vgl. ebd., S. 106). Außerdem lässt sich, so Blos, bei beiden Geschlechtern ein Anstieg von Eigenliebe feststellen (vgl. ebd.). Dies führt wegen der Entziehung der Objektbesetzung „zu einer Überschätzung des Selbst, einer erhöhten Selbstwahrnehmung auf Kosten der Realitätsprüfung, zu einer extremen Empfindlichkeit und Selbstbezogenheit und ganz allgemein zu Egozentrizität und Selbstvergrößerung“ (ebd., S. 107). Die Unfähigkeit, die befriedigenden Eltern aufzugeben, an deren Absolutheit der Heranwachsende gewöhnt war, führt eine narzisstische Abwehr herbei, welche für die Reifezeit charakteristisch ist (vgl. ebd.). Um die eigentliche Adoleszenz beschreiben zu können, ist es notwendig viele getrennte Perspektiven detailliert in Betracht zu ziehen (vgl. ebd., S. 148). „Gedanken unterliegen hier einer größeren Reflexion, aber auch einem größeren kritischen Geist als in der Pubertät“ (Gesellschaft für Familienorientierung 2004, S. 2). Die adoleszente Person denkt vermehrt abstrakter, objektiver und mehr analytisch, weshalb sich der Bereich des Realitätsprinzips erweitert (vgl. Blos 1992, S. 148). Interessen, Begabungen, Erfahrungen sowie Talente werden durch gestaffelte Innovationen in den Vordergrund gerückt (vgl. ebd.). Letztendlich „kommt die mittlere Adoleszenz mit dem Sich-Abzeichnen einer idiosynkratischen Konflikts- und Triebskonstellation zum Abschluss [...]“ (ebd., S. 149).
In der letzten Reifungsphase, der Spätadoleszenz, tritt gewiss die „ aktive Identitätsarbeit in den Vordergrund“ (Fend 2005, S. 92). Der direkte Übergang in das Erwachsenenalter prägt die Spätadoleszenz, wobei hier eine relative Reife erreicht ist, obwohl bedeutsame Restaufgaben noch ungelöst sind (vgl. Konrad & König 2018, S. 3; sowie Fegert et al. 2009, S. 560). Das Ich-Ideal ist inzwischen nicht mehr so phantasievoll und realitätsfern, sondern stärker in das reale Ich integriert (vgl. Fend 2005, S. 92). Die gesamte innere Organisation hat inzwischen an Stabilität gewonnen und somit kehrt erneut Ruhe in das Leben der jungen Erwachsenen ein (vgl. Fegert et al. 2009, S. 560; sowie Gesellschaft für Familienorientierung 2004, S. 2). Steinberg grenzt diese Phase auf ein Alter zwischen 18 und 21 Jahren ein und Fend bestimmt einen Zeitraum von 18 bis 20 Jahren, so wie Fegert, Streeck-Fischer sowie Freyberger auch (vgl. Steinberg 2008, S. 7; Fend 2005, S. 92; sowie Fegert et al. 2009, S. 560). In der Spätadoleszenz sind junge Erwachsene zugänglicher für Kompromisse und das Gespräch mit ihnen ähnelt immer mehr dem mit einem Erwachsenen (vgl. Fegert et al. 2009, S. 560). Außerdem besitzt der Adoleszente inzwischen intellektuelle Fähigkeiten eines Erwachsenen und hat somit sein Denken im Griff (vgl. Gesellschaft für Familienorientierung 2004, S. 3). In dieser Phase der Adoleszenz überkommen junge Erwachsene letztendlich ihre Ängste und Introvertiertheit und sie fügen sich besser in der Gesellschaft ein (vgl. ebd.).
Um die Ausgangsfrage beantworten zu können, folgt nun eine Darstellung der historischen Entwicklung von Migration und Bildung in der Bundesrepublik Deutschland.
2 Migration und Bildung in Deutschland seit 1945
Migration ist ein elementarer Bestandteil der deutschen Historie und setzte in etwa mit der Gründung der Bundesrepublik ein (vgl. Berlinghoff 2018 o. S.; sowie Diehm 2017, S. 14). Der Terminus Migration leitet sich etymologisch vom lateinischen Wort „migrare“ ab, welcher übersetzt „wandern, wegziehen“ bedeutet (vgl. Hintermann & Herzog-Punzenberger 2018a, S. 25). „Nach den in der Migrationsforschung, insbesondere seit den 1950er Jahren erarbeiteten Definitionen und Vorschlägen zur Typologisierung von ‚Migration‘ wird zwischen räumlichen, zeitlichen und motivationalen Kriterien unterschieden“ (ebd.).3 Nachfolgend soll in diesem Kapitel der vorliegenden Arbeit der Begriff Migrationshintergrund beschrieben werden.
In Deutschland hatten im Jahr 2017 etwa 19,3 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund (vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 2019, S. 193). Folglich hat etwa jede vierte Person in Deutschland, in allgemeinbildenden Schulen sogar ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler, einen Migrationshintergrund (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2018; sowie Destatis 2017). Der Großteil der Lernenden in deutschen Schulen hat keine Migrationserfahrung, sondern ist in Deutschland geboren und besitzt von Geburt an die deutsche Staatsangehörigkeit (vgl. Destatis 2017).
Stanat und Edele definieren Menschen mit Migrationshintergrund als Personen - unabhängig vom Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit -, die selbst in die Bundesrepublik Deutschland zugewandert sind sowie Menschen, die hier geboren sind, deren Eltern oder Großeltern jedoch aus einem anderen Land stammen (vgl. Stanat & Edele 2011, S. 181). Laut dem Statistischem Bundesamt hat eine Person einen Migrationshintergrund, „wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt“ (Destatis 2018, S. 4). Demzufolge umfasst die Definition folgende Personen im Einzelnen:
1. „zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländer
2. zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte
3. (Spät-)Aussiedler
4. Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Adoption durch einen deutschen Elternteil erhalten haben
5. mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Kinder der vier zuvor genannten Gruppen“ (ebd.).
Ferner wird der Begriff Migrationshintergrund in einem engeren und weiteren Sinn unterschieden. „Migrationshintergrund im engeren Sinn bedeutet, dass nur die Informationen über die Eltern verwendet werden, die auch im gleichen Haushalt leben“ (ebd., S. 5). Im Gegensatz dazu werden beim Migrationshintergrund im weiteren Sinn alle Informationen über die Eltern genutzt, weshalb er nur in den Jahren 2005, 2009 und 2013 ausgewiesen werden kann, da in diesen Jahren „explizit nach den Migrationsmerkmalen der Eltern gefragt [wurde]“ (ebd.).
Darüber hinaus unterscheiden Stanat und Edele noch drei Generationen von Menschen mit Migrationshintergrund. Der ersten Generation werden dabei Personen zugerechnet, die selbst zugewandert sind, also eigene Migrationserfahrungen gemacht haben (vgl. Stanat & Edele 2011, S. 182). Der zweiten Generation dagegen werden Personen zugeordnet, die in Deutschland geboren sind, von denen aber mindestens ein Elternteil im Ausland geboren ist (vgl. ebd.). Die dritte Generation bilden Personen, die selbst sowie deren Eltern in Deutschland geboren sind, jedoch die Großeltern im Ausland (vgl. ebd.).
In diesem Kapitel liegt das Augenmerk insbesondere auf den vier Hauptgruppen, der in Deutschland lebenden Migranten sowie den Ursachen und Gründen von und für Migration, die im Folgenden zu klären versucht werden. Anschließend soll die Bildungsbeteiligung bzw. Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrations- und Zuwanderungshintergrund aufgegriffen werden. Hierbei sollen die Herkunftseffekte, die primär oder sekundär sein können, kurz erläutert werden. Ein weiterer Punkt in diesem Kapitel wird die Kapitaltheorie nach Bourdieu sein, die ebenfalls kurz dargestellt werden soll. Des Weiteren sollen durch zwei Theorien der modernen Bildungssoziologie Erklärungen für die Nachteile von Migrantenkindern exemplifiziert werden, da es in dieser Arbeit hauptsächlich um die Benachteiligung geht. Letztlich wird in dieser Arbeit versucht, die soziale Herkunft und ihren Einfluss auf den Kompetenzerwerb von Migrantenkindern im Rahmen der PISA-Studie zu untersuchen.
2.1 Zuwanderungsgruppen in Deutschland
Nachdem in dem vorherigen Kapitel der Begriff Migrationshintergrund zu definieren versucht wurde, sollen in den folgenden Punkten 2.1.1. bis 2.1.3. die verschiedenen Zuwanderungsgruppen ausführlicher dargestellt werden. Letztlich sollen zudem in Punkt 2.1.3.1. einige aktuelle Daten zu Asyl und Flüchtlingen angeführt werden.
2.1.1 (Spät-) Aussiedler
Gemäß § 4 des Gesetzes über die Angelegenheit der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz – BVFG) ist ein Aussiedler bzw. Spätaussiedler „in der Regel ein deutscher Volkszugehöriger, der die Republiken der ehemaligen Sowjetunion nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen und innerhalb von sechs Monaten im Geltungsbereich des Gesetzes seinen ständigen Aufenthalt genommen hat [...]“ (Bundesamt der Justiz und Verbraucherschutz o.J. a). Ebenso sind Spätaussiedler deutsche Volkszugehörige aus den gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3 (Bundesvertriebenengesetz – BVFG) genannten Gebieten (vgl. ebd.). Diese Staaten sind „die ehemals unter fremder Verwaltung stehenden Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die ehemalige Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China [...]“ (Bundesamt für Justiz und Verbraucherschutz o.J. b).
Aussiedler, im späteren Sprachgebrauch Spätaussiedler, zählen zu den ältesten und größten Zuwanderungsgruppen in der Bundesrepublik (vgl. Tröster 2016, S. 78). Seit den 1950er Jahren sind mehr als vier Millionen Spätaussiedler nach Deutschland emigriert (vgl. do Mar Castro Varela & Mecheril 2010, S. 26). „Anerkannt [als solche] wurden [dabei] diejenigen, die ihre ‚Deutschstämmigkeit‘ nachweisen konnten“ (Gogolin & Krüger Potratz 2010, S. 65), „durch das Bekenntnis zum deutschen Volkstum durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur“ (Hoesch 2018, S. 247). Der Großteil von ihnen reiste in den letzten 25 Jahren ein, wobei zwischen den Jahren 1991 und 2006 etwa zwei Millionen in die Bundesrepublik zogen (vgl. ebd., S. 246). Ihre Ausreise erfolgte hierbei in erster Linie auf der Grundlage von inoffiziösen humanitären Abmachungen zwischen nichtstaatlichen Organisationen, angesichts der komplizierten politischen Beziehungen zwischen den Ausreiseländern und Deutschland (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 65). Es handelt sich bei ihnen „um Deutsche, die sich im 18. und 19. Jahrhundert aus wirtschaftlichen Gründen in Russland und Osteuropa angesiedelt hatten, teilweise auch um Vertriebene der Weltkriegszeit“ (Hoesch 2018, S. 246).
Aufgrund des Verständnisses von nationaler Zugehörigkeit und der Tatsache, dass Aussiedlern, im Gegensatz zu Flüchtlingen, eine sehr willkommene und umworbene Gruppe von Migranten waren, genossen diese zahlreiche Privilegien (vgl. do Mar Castro Varela & Mecheril 2010, S. 27; sowie Hoesch 2018, S. 247). Zu diesen Sonderrechten gehörten „die sofortige Einbürgerung, Hilfen bei der Integration in Arbeitsmarkt und Bildungssystem wie z.B. Sprachkurse und Förderangebote“ (Hoesch 2018, S. 247). Außerdem gelten für sie spezielle Verordnungen, Gesetze und Verfahren und nicht das sogenannte Ausländerrecht (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, o.J. a). Diese Bevorzugung der Spätaussiedler führte zu Benachteiligung und Ärger zwischen Ausländern der ‚Gastarbeiter-Generation‘, Deutschen und Aussiedler-Deutschen (vgl. ebd., S. 246).
Wegen der steigenden Aussiedlerzahlen wurde die zuvor großzügige Zulassung dieser Gruppe eingeschränkt (vgl. ebd.). Unter anderem wurden Aufnahmebedingungen erschwert, ebenso wurde diese Art der Einwanderung zahlenmäßig begrenzt, zeither haben sich die Zahlen offensichtlich dezimiert (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 65). Während in den 1990er Jahren ca. 400.000 Spätaussiedler nach Deutschland zogen, ist diese Zahl 2012 auf unter 2.000, genauer 1.817 Menschen, gesunken (vgl. ebd.; sowie Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat o.J.). Für das Jahr 2017 jedoch rechnete das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat mit einem erneuten Zuzug von etwa 6.500 Spätaussiedlern und deren Familienangehörigen, da es seit 2013 gesetzliche Erleichterungen bei der Aufnahme von Spätaussiedlern gibt (vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat o.J.).
Was Migrationsstatistiken betrifft werden Spätaussiedler als Deutsche erfasst, da sie automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten (vgl. Hoesch 2018, S. 247).
2.1.2 Arbeitsmigranten – „Gastarbeiter“
Mitte des 20. Jahrhunderts arbeitete sich die Wirtschaft Westdeutschlands empor zum „Wirtschaftswunder“, was zur Folge hatte, dass Arbeitsplätze geschaffen und gleichzeitig benötigt wurden (vgl. do Mar Castro Varela & Mecheril 2010, S. 28). Der Bedarf an Arbeitskräften konnte trotz des Zuziehens von Übersiedlern aus der Deutschen Demokratischen Republik nicht ausreichend gedeckt werden (vgl. ebd.). Die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften, sogenannten „Gastarbeitern“, durch die Bundesrepublik Deutschland, begann in den 1950er Jahren - um dem Mangel an Arbeitskräften entgegenzuwirken (vgl. Diefenbach 2010, S. 221; sowie Bundeszentrale für politische Bildung o.J. b).
Der Begriff „Gastarbeiter“, welcher den im Kaiserreich gängigen Terminus „Fremdarbeiter“ ablöste, macht deutlich, dass die Behörden davon ausgingen, dass der Aufenthalt der Arbeitnehmer aus den Anwerbeländern nicht dauerhaft sein sollte und sie in ihre Heimatländer zurückkehren sollten (vgl. Diehm 2017, S. 14; Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 64; sowie Bundeszentrale für politische Bildung o.J. b). Gogolin und Krüger-Potratz nennen dies das „Rotationsprinzip“ (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 64). Der Terminus „Gastarbeiter“ hat seinen Ursprung dabei in der Alltagssprache, und ist ein bis ca. 1973 nicht amtlich verwendeter Begriff (vgl. Yildiz 2019, S. 79).
Das erste Anwerbeabkommen zur Mobilisierung ausländischer Arbeitskräfte schloss die Bundesagentur für Arbeit, ehemals Bundeanstalt für Arbeit, am 22. Dezember 1955 mit Italien ab (vgl. Göbel & Buchwald 2017, S. 24; Oltmer 2017, S. 50; Hoesch 2018, S. 224; sowie Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 63f). Dies war der Beginn der millionenfachen Erwerbstätigkeit ausländischer Arbeitsmigranten (vgl. Oltmer 2017, S. 50). In den darauffolgenden Jahren schloss die Bundesregierung bilaterale Verträge zum Anwerben ausländischer Arbeitnehmer mit diversen anderen Nationen. Infolgedessen kamen Arbeitskräfte aus Griechenland und Spanien (1960), aus der Türkei (1961), aus Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und aus dem ehemaligen Jugoslawien (1968) nach Deutschland (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 63f; Bundeszentrale für politische Bildung o.J. b; Oltmer 2017, S. 50f). „Die Anwerbung erfolgte für Arbeitsplätze, für die keine fachliche Ausbildung, vorausgesetzt wurde, wohl aber die Bereitschaft, harte Arbeit zu leisten und keine besonderen Ansprüche hinsichtlich Unterbringung und Verpflegung zu stellen“ (Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 64). Diese Abkommen zur Anwerbung bewirkten, dass die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen in Deutschland rapide anstieg (vgl. Hoesch 2018, S. 224). Hierfür war unter anderem auch der Mauerbau, welcher den Zustrom ostdeutscher Arbeitskräfte beendete, verantwortlich (vgl. Trost & Linde 2016, o.S.). Viele gehen davon aus, dass es sich bei den angeworbenen Ausländern hauptsächlich um männliche Personen gehandelt habe, „die vor allem aus ländlichen Gebieten ohne Qualifikationen zugewandert seien, um durch einen auf kurze Zeit geplanten Arbeitsaufenthalt Geld für ein ‚besseres Leben‘ im Herkunftsland zu erwerben“ (Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 64). Jedoch wurde die Anwerbung von Frauen für einige Zweige der Industrie ebenso aktiv gefördert (vgl. ebd.; sowie do Mar Castro Varela & Mecheril 2010, S. 29).
Die Arbeitsmigration sorgte dafür, dass der Ausländeranteil in Deutschland rapide stieg. Waren es 1960 noch 1,2 Prozent, stieg diese Zahl bis Ende 1980 auf etwas mehr als sieben Prozent an (vgl. Oltmer 2017, S. 51). Zwischen den Jahren 1950 und 1973 kamen ca. 14 Millionen Arbeitnehmer aus den Anwerbeländern nach Deutschland, von denen elf Millionen jedoch wieder abwanderten (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung o.J. b; Oltmer 2017, S. 51; sowie do Mar Castro Varela & Mecheril 2010, S. 29). Die Sättigung des Arbeitsmarktes machte sich 1973, im Zuge der Ölkrise und der daraus resultierenden Wirtschaftskrise, mit dem Anwerbestopp bemerkbar und setzte dieser Art der Migration ein Ende (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 64; Hoesch 2018, S. 231).
Es war kaum vorstellbar, dass die ausländischen Arbeitskräfte dauerhaft in Deutschland bleiben würden, doch der Anwerbestopp rief eben diesen Effekt hervor, da er die Niederlassung der Arbeitsmigranten nicht beschränkte (vgl. Trost & Linde 2016; Göbel & Buchwald 2017, S. 25; sowie Oltmer 2017, S. 48). Viele Gastarbeiter holten ihre Familien nach und richteten sich auf einen längeren Aufenthalt ein, da sie im Falle einer Rückkehr in ihre Heimatländer nicht mehr mit der Intention der Arbeitsaufnahme in Deutschland einreisen konnten (vgl. Seifert 2012; sowie Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 64). Dies führte dazu, dass die Zahl der Migranten trotz des Anwerbestopps stieg (vgl. do Mar Castro Varela & Mecheril 2010, S. 30). Aufgrund der Tatsache, dass die Bundesrepublik von der Maxime ausging kein Einwanderungsland zu sein, etablierte die Regierung keine anderen Maßnahmen der Integration, wie sie es bei den Spätaussiedlern getan hatte (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 64). Im Gegensatz zu den Spätaussiedlern wurden Familiennachzüge von bestimmten Bedingungen wie Aufenthaltsdauer, hinreichenden Wohnungen und ausreichend finanziellen Mitteln, um nur einige Beispiele zu nennen, abhängig gemacht (vgl. ebd.). Deutschland erkannte lange Zeit nicht, dass eine Integrationspolitik notwendig ist (vgl. Trost & Linde 2016). Stattdessen wurde Integration viel zu spät als bedeutendes gesamtgesellschaftliches Feld der Politik erkannt (vgl. Meier-Braun 2016, S. 17).
Erst mit der Jahrtausendwende und der am 1. Januar 2000 verabschiedeten erleichterten Einbürgerungsbestimmung allen voran für Ausländerkinder kam ein politischer Wandel (vgl. ebd.; Oltmer 2017, S. 51). Es dauerte einige Jahre, bis die deutsche Regierung sich als „Einwanderungsland“ gesehen hatte (vgl. Meier Braun 2016, S. 18). „In der 1999 veröffentlichten Broschüre der Bundesregierung zum neuen Staatsangehörigkeitsrecht wurde denn auch zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik regierungsamtlich festgestellt: „Deutschland ist schon längst zum Einwanderungsland geworden“ (ebd.).
Ein Großteil der Gastarbeiter lebt noch heute in der Bundesrepublik Deutschland, viele von ihnen sind inzwischen auch im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit, da die Regierung vom Abstammungsprinzip dem sogenannten „Ius Sange = Recht des Blutes“ abrückte und durch das Geburtsrecht, „Ius Soli = Recht des Bodens“, ersetzte (vgl. Trost & Linde 2016; sowie Meier-Braun 2016, S. 18). Menschen aus der Türkei machen gegenwärtig, mit etwa 1,6 Millionen, die größte Gruppe unter den Ausländern in Deutschland aus (vgl. ebd.).
2.1.3 Flüchtlinge und Asyl
Als Flüchtlinge werden Menschen bezeichnet, die von Varianten der Zwangsmigration betroffen sind (vgl. Höfling-Semnar 1995, S. 25). Sie bilden dabei die drittgrößte Gruppe von Migranten (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 65). „Der Begriff „Flüchtlinge“ wird als zentraler Begriff gewählt, um die Ambivalenz und Uneindeutigkeit deutlich zu machen, und politische, normativ-moralische oder handlungspraktische Aushandlungsprozesse zu analysieren“ (Eppenstein & Ghaderi 2017, S. 6).
Die Genfer Flüchtlingskonvention, ein Abkommen der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, dient hierbei als Grundlage für die Definition des Begriffs „Flüchtling“ (vgl. Herzog-Punzenberger & Hintermann 2018b, S. 32; sowie UNHCR 1951/1967, S. 2).
Gemäß Artikel 1, Absatz 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist ein Flüchtling eine Person, die sich „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung [...] außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will“ (UNHCR 1951/1967, S. 2).
Deshalb begrenzte sich dieses Abkommen zunächst auf den Schutz von Menschen, die wegen besonderen Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sind, zu Flüchtlingen geworden sind (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 65). Ferner beschränkte sich die Konvention auf Europa, weshalb 1967 eine geografische und zeitliche Restriktion durch das „Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ in New York aufgehoben wurde und globale Gültigkeit zu besitzen begann (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung o.J. c). Dieses Verständnis von Flucht wird dem der gegenwärtigen Flucht nicht gerecht und ein Bezugnehmen auf die Genfer Flüchtlingskonvention, welche den jeweiligen Flüchtlingsstatus verleiht, ist problematisch (vgl. do Mar Castro Varela & Mecheril 2010, S. 32; sowie Herzog-Punzenberger & Hintermann 2018b, S. 32). Laut Herzog-Punzenberger und Hintermann flieht die Mehrheit der Flüchtlinge weltweit aus Motiven, die vom Abkommen bzw., der sich darauf beziehenden Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland nicht ausdrücklich abgedeckt werden (vgl. Herzog-Punzenberger & Hintermann 2018b, S. 32). Es handelt sich dabei beispielsweise um „Bürgerkriege, ökologische Probleme und Hungerkatastrophen, geschlechtsspezifische Fluchtursachen, wie systematische Vergewaltigungen von Frauen oder die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung“ (ebd.). Maria do Mar Castro Varela und Paul Mecheril führen als weitere zentrale Fluchtbedingungen noch „[...] willkürlich gezogene Staatsgrenzen, inner- und zwischenstaatliche Kriege, ethnische und religiöse Konflikte, Verfolgung spezifischer Minderheiten (etwa Schwule, Lesben, Transgender [...]), Armut [...]“ (do Mar Castro Varela & Mecheril 2010, S. 32) an. Dies ist daher unumgänglich und macht es notwendig den Flüchtlingsbegriff zu erweitern und die historische Kategorisierung zu verändern (vgl. Herzog-Punzenberger & Hintermann 2018b, S. 32). Vor allem, weil der Terminus „Flüchtling“ in differenter Bedeutung verwendet wird (vgl. AG Integration 2015, S. 6). Dies führt in regelmäßigen Abständen zu Missverständnissen, da in den Medien Flüchtlinge oftmals als Personen bezeichnet werden, die außerhalb von geregelten Wegen für Arbeitsmigration und am Grenzschutz vorbei nach Europa kommen wollen (vgl. ebd.).
Fluchtbewegungen sind Folgen des politisch-ökonomischen Status und entstehen keineswegs zufällig (vgl. Herzog-Punzenberger & Hintermann 2018b, S. 32). Letztendlich ist zu bedenken, dass Geflüchtete und Vertriebene mitnichten nur Flüchtlinge ohne persönliche Entscheidungsmöglichkeiten sind, sondern ebenfalls selbst bestimmen können, ob sie flüchten oder in ihren Heimatländern bleiben (vgl. ebd.).
Gemäß Artikel 16a Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes genießen politisch Verfolgte Asylrecht (vgl. Sodan 2018, S. 220). Es ist damit eines der Grundrechte in der Bundesrepublik, das im Grundgesetz verankert ist, im Gegensatz zu anderen Nationen (vgl. AG Integration 2015, S. 1). Das Asylrecht ist das einzige Grundrecht, worauf allein ausländische Staatsangehörige einen Anspruch haben (vgl. ebd.). Das Recht auf Asyl greift nicht, „wenn ein Schutzsuchender Deutschland über den Landweg erreicht hat“ (UNHCR o.J. a). Das im Jahre 1997 in Kraft getretene Dubliner Übereinkommen, ein völkerrechtlicher Vertrag, das 2003 durch die Dublin Verordnung (Dublin II) abgelöst wurde, regelt welcher Staat innerhalb der Europäischen Union für einen Asylantrag zuständig ist (vgl. Hüttmann & Wehling 2009, S. 76). Dies soll verhindern, dass Personen zeitgleich und nacheinander Asylanträge in EU-Staaten stellen (vgl. ebd.). Feste Kriterien regeln, welcher Staat für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, so hat grundsätzlich derjenige EU-Staat ein Asylverfahren zu prüfen, in das die Asylsuchenden einreisen (vgl. ebd.). Außerdem wird in der Praxis relativ rar Schutz kraft dieses Grundrechts gewährt (vgl. UNHCR o.J. a).
Drei weitere Schutzformen, die neben dem im Grundgesetz verankerten Asyl gewährt werden, sind der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention, der subsidiäre Schutz sowie das Abschiebungsverbot (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung o.J. d). Der subsidiäre Schutz wird gewährt, wenn Asylsuchenden in ihren Herkunftsländern die Todesstrafe droht (vgl. Kraft 2016). Das Verbot einer Abschiebung kann festgestellt werden, sollte eine konkrete und erhebliche Gefahr für das Leben oder die Freiheit eines Asylsuchenden bestehen (vgl. ebd.).
Eine Unterscheidung der Begriffe „Asylbewerber“ und „Asylsuchende“ ist notwendig, da es sich nicht um dieselben Begriffe handelt. Asylsuchende sind laut Definition des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge „Personen, die beabsichtigen, einen Asylantrag zu stellen und die noch nicht als Asylantragstellende beim Bundesamt erfasst sind“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge o.J.), wohingegen Asylbewerberinnen bzw. Asylantragstellende Personen sind, die auf eine Entscheidung über ihren gestellten Asylantrag, seitens der Behörden warten (vgl. ebd.).
Im Gesamten ist die Asylpolitik europaweit immer noch auf Abschreckung ausgerichtet (vgl. Meier-Braun 2016, S. 27). „Asyl- und flüchtlingspolitische Entwicklungen in den Aufnahmeländern von Asylsuchenden und Flüchtlingen haben nicht selten politische Auseinandersetzungen über die absolute Höhe der Zugangszahlen von Asylsuchenden bzw. Asylbewerbern in diesen Ländern als aktuellen Hintergrund“ (Maier-Borst 2016, S. 89).
Für die Dauer des Asylverfahrens werden Asylbewerber nach dem „Königsteiner Schlüssel“4 auf die jeweiligen Bundesländer verteilt, wo sie in Gemeinschaftsunterkünften oder Einzelwohnungen leben (vgl. ebd.; sowie do Mar Castro Varela & Mecheril 2010, S. 33). In der Regel erhalten sie keine Erlaubnis für eine Erwerbstätigkeit, da sie im ersten Aufenthaltsjahr einem gesetzlichen Arbeitsverbot unterliegen (vgl. ebd.). Für ihre Existenzsicherung sowie Geld- und Sachleistungen sind die Bundesländer verantwortlich (vgl. Meier-Braun 2015, S. 85f). Zudem können sie „danach eine offene Stelle nur dann annehmen [...], wenn keine deutschen Staatsangehörigen oder andere bevorrechtigte Ausländer den Arbeitsplatz annehmen“ (Maier-Borst 2016, S. 90). Ferner unterstehen Asylbewerber der sogenannten Residenzpflicht, die ihnen lediglich einen Aufenthalt in dem Bezirk gestattet, in dem sie einen Antrag gestellt haben (vgl. do Mar Castro Varela & Mecheril 2010, S. 33).
2.1.3.1 Aktuelle Daten
Bis zum Ende des Jahres 2018 waren weltweit erstmals mehr als 70 Millionen Menschen auf der Flucht - etwa 50 Prozent davon Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren - von denen 41,3 Millionen Binnenflüchtlinge (Flüchtlinge, die innerhalb ihres Landes auf der Flucht sind), 25,9 Millionen Flüchtlinge und 3,5 Millionen Asylsuchende sind (vgl. UNHCR o.J. b; sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, S. 8). Die drei Länder, aus denen die meisten Flüchtlinge stammen sind Syrien, Afghanistan und Südsudan (vgl. ebd.; sowie ebd., S. 11). Sie machen mehr als die Hälfte der bei der UNHCR registrierten Flüchtlinge aus (vgl. UNHCR o.J. b). Demnach sind laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie UNHCR etwa 6,7 Millionen Menschen aus Syrien, ca. 2,7 Millionen aus Afghanistan und ca. 2,3 Millionen Menschen aus dem Südsudan auf der Flucht (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, S. 11; sowie UNHCR o.J. b). Der Großteil der Menschen, die auf der Flucht sind, flieht oftmals in die Nachbarstaaten ihrer Herkunftsländer (vgl. UNHCR o.J. b). Im Durchschnitt fliehen 37.000 Menschen pro Tag wegen Konflikten und aufgrund von Verfolgung (vgl. ebd.). Die drei Hauptaufnahmeländer weltweit sind die Türkei (ca. 3,7 Millionen aufgenommene Flüchtlinge), Pakistan (ca. 1,4 Millionen) und Uganda (ca. 1,17 Millionen) (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, S. 12). Deutschland hingegen belegt in diesem Ranking, mit etwas mehr als einer Million aufgenommener Flüchtlinge, den fünften Platz hinter dem Sudan (vgl. ebd.).
Im ersten Halbjahr dieses Jahres hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Deutschland insgesamt 84.866 Anträge auf Asyl entgegengenommen, wovon 72.953 Erstanträge gewesen sind (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, S. 3). Im Juni 2019 wurden beim Bundesamt 8.288 Erstanträge eingereicht und 1.403 Folgeanträge registriert, die niedrigste Zahl seit Mai 2013 (vgl. ebd., S. 4). Im Vergleich zum Vorjahr, wo zum selben Zeitpunkt 11.509 Erstanträge und 1.745 Folgeanträge gestellt sowie registriert wurden, ist dies ein Rückgang von 3.221 Erstanträgen auf Asyl (vgl. ebd.). Die meisten Antragsteller, im Zeitraum von Januar bis Juni 2019, kommen aus Syrien, dem Irak und Nigeria, auch wenn die Zahlen der Asylsuchenden aus Syrien und dem Irak rückläufig sind (vgl. ebd., S. 9).
Seit 1990 reichten etwas mehr als 4 Millionen Menschen Anträge auf Asyl in Deutschland ein (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2018). Ein erster Höchststand der Asylantragszahlen, mit 438.191, wurde dabei 1992 erreicht und die Zahl sank in den darauffolgenden Jahren kontinuierlich (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, S. 5; sowie Maier-Borst 2016, S. 89). Ab 2009 jedoch stieg die Zahl der Asylanträge wieder ununterbrochen, bis sie in den Jahren 2015 (ca. 442.000 Erstanträge) und 2016 (ca. 722.000 Erstanträge) erneut einen Höchststand erreichte (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, S. 5). Die Gründe dafür werden im folgenden Kapitel noch einmal näher erläutert. Bei einem Vergleich der Werte dieses Jahres, lässt sich erkennen, dass die Zahl der Asylanträge erneut kontinuierlich sinkt. Waren es im Januar noch etwa 17.000 Anträge insgesamt, sank die Summe auf etwa die Hälfte im Juni (9.691 Anträge insgesamt) (vgl. ebd., S. 6).
Fakt ist, dass im Zeitraum von 1953 bis 2018 knapp 5,8 Millionen Menschen einen Antrag auf Asyl in Deutschland stellten, allein 4,9 Millionen davon zwischen 1990 und 2018 (vgl. ebd., S. 5). Von Januar bis Juni 2019 wurden insgesamt 102.489 Entscheidungen über Asylanträge getroffen (vgl. ebd., S. 11). Lediglich 1,2 Prozent (1.185 Anträge) wurden als Asylberechtige anerkannt, wohingegen 31.421 Anträge (30,7 Prozent) abgelehnt wurden (vgl. ebd.).5
2.2 Ursachen und Gründe von und für Migration
Die Migration von Menschen ist kein ausschließlich gegenwärtiges Phänomen, sondern in der Geschichte der Menschheit anhaftend, was im Rahmen von Untersuchungen der historischen Migrationsforschung deutlich wird (vgl. Göbel & Buchwald 2017, S. 16). Sie ist in Zeiten der Globalisierung zu einem festen Bestandteil unseres Alltags geworden (vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2011, S. 7). Im vorherigen Kapitel wurde versucht die einzelnen Migranten- und Zuwanderungsgruppen ausführlicher darzustellen. Doch was sind die Gründe und Ursachen von und für Migration? Dieser Frage soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden.
Im Jahre 2011 lebten etwa drei Prozent der Weltpopulation außerhalb ihrer Herkunftsländer, von denen circa 45 Prozent in ein Industrieland gingen (vgl. ebd., S. 6). Im Vergleich dazu waren 2015 mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht, von denen etwas mehr als die Hälfte minderjährige Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren waren (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Dies entspricht einer Zahl von 24 Menschen pro Minute, täglich (vgl. ebd.). „Wanderbewegungen oder Migration treten immer dann ein, wenn große Unterschiede in Einkommens- und Lebensverhältnissen zwischen zwei Regionen existieren [...]“ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2011, S. 6). Der überwiegende Teil der Menschen, die auf der Flucht sind, sind Personen, die innerhalb ihres Landes vertrieben werden – so genannte Binnenvertriebene (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Geflüchtete Menschen verlassen ihr Zuhause oftmals gezwungenermaßen (vgl. ebd.). Dabei sind die Gründe vielseitig.
Göbel und Buchwald geben als mögliche Ursachen „Naturkatastrophen, Epidemien, Ressourcenknappheit aber auch Kriegs- und Konfliktsituationen“ an, „die Menschen dazu veranlassen, ihre Heimat zu verlassen“ (Göbel & Buchwald 2017, S. 16). Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung führt „Perspektivlosigkeit, schlechte Regierungsführung, hohe Arbeitslosigkeit, politische und soziale Konflikte, fehlende Bildungschancen, mangelnde Gesundheitsversorgung, Dürre, zunehmende Umweltzerstörung und Klimaveränderungen“ (Bundeministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2011, S. 6) als wesentliche Motive an. Die Bundeszentrale für politische Bildung komplettiert diese Punkte noch mit Diskriminierung und Verfolgung (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2017, o. S.). Aber auch Terror durch religiöse Gruppen, wie dem Boko Haram oder dem Islamischen Staat, führt dazu, dass Menschen ihre Herkunftsländer verlassen (vgl. Europäische Kommission 2017).
Es steht außer Frage, dass in kommenden Zeiten immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen werden, aufgrund von sich dauerhaft verändernder Lebens- und Umweltbedingungen (vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung o. J.). Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch einen deutlichen Anstieg von Migrationsströmen (vgl. Göbel & Buchwald 2017, S. 17). Dies führt zu einer Expansion der Diversität von Kulturen und Sprachen (vgl. ebd.).
2.3 Bildungsbe(nach)teiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrations- und Zuwanderungshintergrund
„In Deutschland glaubt man immer noch, dass beim Übergang zur fünften Klasse festgestellt werden kann, welches Kind auf die Universität gehört, welches sich auf eine Facharbeiterexistenz vorbereiten soll und welches sich bestenfalls für die >>Jedermanns<< - oder besser >>Jederfrausarbeitsmärkte<< der Randbelegschaften und der Selbstbeschäftigten rüsten kann“ (Bude 2011, S. 8).
Bildung und Bildungspolitik sind in Deutschland wieder Themen, die in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und Politik gerückt sind, spätestens seit mit der PISA-Studie Schulleistungen immer wieder evaluiert, international verglichen und medienwirksam besprochen werden (vgl. Piepenbrink 2008, S. 2). Bildungsspezifische Benachteiligung von Gruppen wird in Deutschland als Bildungsbenachteiligung bezeichnet (vgl. Range 2012, S. 1). Diese Gruppierungen verfügen meist über geringe soziale, kulturelle oder finanzielle Mittel (vgl. ebd.).
Wie bereits in Kapitel 2 erwähnt, hat ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler in allgemeinbildenden Schulen in Deutschland einen Migrationshintergrund (vgl. Destatis 2017). Im Gegensatz zur Mehrheitsbevölkerung haben diese Jugendlichen und Kinder geringere Chancen im Bildungsbereich und tun sich im deutschen Bildungssystem auffällig schwer (vgl. Lokhande 2016, S. 5). Die Gründe dafür sind vielseitig. Mittlerweile ist belegt, „dass die familiäre Herkunft und die damit verbundenen Unterschiede in der ökonomischen, sozialen und kulturellen Ausstattung die Kompetenzentwicklung und die Schulleistungen von Schülerinnen und Schülern sowohl direkt (primäre Herkunftseffekte) als auch vermittelt über bildungs- und sozialschicht-abhängige Bildungsentscheidungen (sekundäre Herkunftseffekte) beeinflussen“ (Müller & Ehmke 2016, S. 285). Außerdem ist das Resultat, dass Kinder und Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem Nachteile im Gegensatz zu einheimischen Lernenden haben keineswegs neu (vgl. Diefenbach 2010, S. 13).
In gegenwärtigen Gesellschaften ist Bildung die essenzielle Ressource für individuelle Lebenschancen, für eine Teilnahme am ökonomischen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Leben sowie für zukünftigen, den Beruf betreffenden, Erfolg (vgl. Geißler & Weber-Menges 2008, S. 14).
Zudem wurde mehrmals empirisch belegt, „dass Unterschiede im Berufsstatus und bei den Arbeitsmarktchancen und damit zusammenhängend beim Einkommen, Lebensstandard, bei der sozialen Sicherheit und dem gesellschaftlichen Ansehen sowie Unterschiede in der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Beteiligung mit Unterschieden im Bildungsniveau zusammenhängen“ (ebd.).
Im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung gibt es unter Zuwanderern mehr Personen aus armutsgefährdeten Familien, die ebenso eine geringere Schulbildung haben (vgl. Lokhande 2016, S. 3). Zudem kann nicht eindeutig geklärt werden, ob Bildungsmisserfolg tatsächlich auf die Zuwanderungsgeschichte zurückgeführt werden kann oder, ob diese auf die soziale Herkunft zurückzuführen ist (vgl. ebd.).
Des Weiteren belegen mehrere Studien, dass Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungs- und Migrationshintergrund in ihrer Bildungskarriere bis hin zum Abschluss doppelt benachteiligt sind (vgl. ebd.). „Die Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im Bildungssystem entsteht schon früh in der Familie“, da unterschiedliche Lerngelegenheiten in den Familien gegeben sind (ebd., S. 4).
Was sind die Ursachen für die Bildungsbe(nach)teiligung von Jugendlichen und Kindern mit Migrations- und Zuwanderungshintergrund und welche Faktoren haben einen Einfluss darauf?
Alle Faktoren und Ursachen zu untersuchen, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschreiten, weshalb hier nur auf die primären und sekundären Herkunftseffekte, die soziale Ungleichheit sowie auf die Kapitaltheorie nach Pierre Bourdieu eingegangen werden soll. Letztlich sollen soziale Disparitäten im deutschen Bildungssystem unter Berücksichtigung von Daten aus der PISA-Studie verdeutlicht werden.6
2.3.1 Soziale Ungleichheit
Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg definiert soziale Ungleichheit als einen Zustand, der beschreibt, „wenn Menschen aus gesellschaftlichen Gründen über bestimmte Ressourcen [z.B. der Bildungsgrad oder das Einkommen] oder Lebensbedingungen [z.B. die Wohnverhältnisse, Sicherheit oder Gesundheit] [unterschiedlich] verfügen“ (LBP-BW 2018). Hradil zufolge bezieht sich der Begriff auf konkrete Güter, die in Gesellschaften als „wertvoll“ gelten (vgl. Hradil 2005, S. 28). Dabei entscheiden diese Gegebenheiten darüber, ob die Lebens- und Verwirklichungschancen besser oder schlechter sind (vgl. LBP-BW 2018). „Je mehr die einzelnen von diesen „Gütern“ besitzen, desto günstiger sind ihre Lebensbedingungen“ (Hradil 2005, S. 28). Hierbei ist von einer gesellschaftlich entstehenden Ungleichheit auszugehen, welche nicht gleichzusetzen ist mit vorübergehenden Ungleichheiten (vgl. LBP-BW 2018). Vorübergehende Ungleichheiten sind dabei „individuelle, momentane oder natürliche Vor- oder Nachteile“, welche soziale Ungleichheiten bedingen können (vgl. ebd.). Soziale Ungleichheit ist in ihrer Form und Dimension zu unterscheiden und lässt sich in allen Gesellschaften finden, da in der Bevölkerung Werte bestehen, die bestimmte Güter als wertvoll hervorheben (vgl. LBP-BW 2018; sowie Hradil 2005, S. 28). In der heutigen Zeit gilt ein hoher Bildungsabschluss definitiv und zweifelsfrei als wertvoll und zählt zu den essenziellen Formen sozialer Ungleichheit (vgl. Hradil 2005, S. 28). „Insofern bestimmte „Güter“ [...] Lebens- und Handlungsbedingungen darstellen, die zur Erlangung von allgemein verbreiteten Zielvorstellungen einer Gesellschaft dienen, kommen sie als Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit in Frage“ (ebd.). Außerdem enthält der Terminus ‚soziale Ungleichheit‘ eine Vorstellung über die Verteilung der Ressourcen, damit diese nicht als ungleich gelten (vgl. ebd.).
Dabei ist nicht klar, was der Begriff Ungleichheit meint, jedoch wird zwischen absoluter und relativer Ungleichheit unterschieden. Stefan Hradil definiert absolute Ungleichheit als gegeben, wenn einige wenige Gesellschaftsmitglieder mehr wertvolle Ressourcen erhalten als andere (vgl. ebd.). Demgegenüber besteht relative Ungleichheit im Hinblick auf bestimmte Kriterien der Verteilung, wie beispielsweise Leistung und Alter (vgl. ebd., S. 28f). „Wenn als „wertvoll“ geltende „Güter“nicht absolut gleich verteilt sind“, spricht man in der Soziologie von sozialer Ungleichheit (vgl. ebd., S. 29).
Soziale Ungleichheiten reproduzieren sich über Generationen hinweg, haben ihren Ursprung im privaten Raum und drücken sich beispielsweise durch das Bildungssystem in Noten und Karriere aus (vgl. Klundt 2017, S. 44; sowie Bühler-Niederberger & Türkyilmaz 2017, S. 78). Nach Geißler wird soziale Ungleichheit nicht als sukzessiv abgestufte Ungleichheit zwischen Geschlechtern, Altersgruppen oder sozialen Schichten erfasst (vgl. Geißler 2014, S. 119). Im Fokus stehen vielmehr diejenigen, die besonders benachteiligt werden und denen ein Platz im anerkannten Gefüge der Gesellschaft verweigert wird (vgl. ebd.).
Hradil unterscheidet zwischen Verteilungs- und Chancengleichheit. Die unterschiedliche bzw. ungleiche Verteilung eines wertvollen Gutes, wie beispielsweise die des Einkommens oder einer Lebensbedingung, die unvorteilhaft sein kann, bezeichnet Hradil als Verteilungsungleichheit (vgl. Hradil 2012). Im Gegensatz dazu bedeutet Chancenungleichheit, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen einer Gesellschaft, wie zum Beispiel Frauen oder Migranten, ungleiche Möglichkeiten besitzen an vorteilhafte bzw. nachteilige Positionen innerhalb solcher Verteilungen zu gelangen (vgl. ebd.). Beide Dimensionen der Gleichheit verändern sich oft unabhängig voneinander (vgl. ebd.). Die Einkommensverteilung in Deutschland ist in den letzten Jahren immer mehr auseinandergegangen, jedoch haben sich demgegenüber die Einkommenschancen von Frauen denen der Männer angeglichen (vgl. ebd.).
Insbesondere zwischen Bildungs- sowie Berufsgruppen, Geschlechtern, ethnischen Gruppen und Regionen besteht Chancenungleichheit (vgl. ebd.). Zum einen sind sie individuell erworben, andererseits werden Chancenungleichheiten gesellschaftlich zugeschrieben (vgl. ebd.). Es ist somit nicht unüblich, dass Bildungsgrade oder Lebensformen nicht frei wählbar und die soziale Herkunft oder ethnische Zugehörigkeit für Individuen nicht veränderbar ist (vgl. ebd.).
So sind, laut Schlicht, die in den Bundesländern unterschiedlichen bildungspolitischen Kompositionen durch den Bildungsföderalismus bedingt (vgl. Schlicht 2011, S. 11). Im Hinblick auf soziale Ungleichheit unterscheiden sich die Bildungsleistungen der Länder, worauf vergleichende Schulleistungsstudien stets hinweisen (vgl. ebd.). „Die soziale Chancengleichheit im Bildungswesen gilt in meritokratischen Gesellschaften als wesentliche Bedingung gesellschaftlicher Mobilität und wird daher als Gütekriterium des Bildungswesens wahrgenommen“ (ebd.).
Nach Schlicht lassen sich zwei voneinander selbstständige Formen von sozialer Bildungsungleichheit identifizieren (vgl. ebd.). Zum einen die soziale Ungleichheit im Bildungszugang, die beschreibt, inwiefern soziale Herkunft einen Gymnasialbesuch beeinflusst. Andererseits erfasst die soziale Ungleichheit im Bildungsprozess, welche Rolle die soziale Herkunft auf den Kompetenzerwerb der jeweiligen Schülerinnen und Schüler einnimmt (vgl. ebd.). „Soziale Ungleichheit im Bildungswesen wird folglich auch als Vorbote weiterer sozialer Ungleichheiten [...] gesehen“ (ebd., S. 25).
Hradil formuliert soziale Ungleichheit zusammengefasst als vorliegend, „wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den „wertvollen Gütern“ einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten“ (Hradil 2005, S. 30).
2.3.2 Herkunftseffekte
Raymond Boudon war einer der entscheidendsten Soziologen, auf den einer der wichtigsten bildungssoziologischen Ansätze zur Darlegung erklärender Mechanismen zurückzuführen ist (vgl. Voigt 2018, S. 20). Boudons Überlegungen beeinflussen empirische Analysen zur Exploration herkunftsbedingter Bildungsungleichheiten (vgl. ebd.). Laut Hanna Dumont, die nach Becker und Lauterbach zitiert, „lassen sich soziale Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung als Ergebnis individueller Entscheidungen, die in einem institutionellen Kontext des Bildungssystems getroffen werden, verstehen“ (Dumont et al. 2014, S. 2f). Unterschiedliche Aspekte haben dabei einen Einfluss auf diese Bildungsentscheidungen (vgl. ebd., S. 3). Boudon zufolge wird für eine Erklärung der Bildungsentscheidung in primäre und sekundäre Effekte der familiären Herkunft unterschieden (vgl. ebd.).
Im Folgenden soll versucht werden, diese beiden Herkunftseffekte kurz zu definieren.
2.3.2.1 Primäre Herkunftseffekte
Der primäre Effekt wird als Einfluss der sozialen Herkunft definiert, welcher sich auf die Entwicklung von Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler auswirkt (vgl. Möller o.J.). Primäre Herkunftseffekte zeigen sich in Folge in Zensuren, Übergangsempfehlungen und Schulformwahlen der Lernenden (vgl. ebd.). Unterstützung und Förderung zu Hause, differente Anregungen sowie die unterschiedliche Nutzung von schulischen Lernangeboten tragen zur Entstehung dieser bei (vgl. ebd.).
Kinder und Jugendliche werden in ihren Elternhäusern unterschiedlich stark zum Lernen ermuntert sowie angeregt und erfahren in unterschiedlichem Umfang ungleich gute oder schlechte Unterstützung (vgl. Lokhande 2016. S. 7). Demnach lesen gebildete Eltern ihren jüngeren Kindern öfter vor und motivieren sie, im Schulalter häufiger zum Lernen, wohingegen dies bei weniger gebildeten Eltern seltener der Fall ist (vgl. ebd., S. 7f). Die Lernausgangsbedingungen beim Schuleintritt werden dabei von unterschiedlichen Lerngelegenheiten und der familiären Sozialisation beeinflusst (vgl. ebd., S. 8). Diese Lerngelegenheiten haben ebenso einen Einfluss darauf, inwiefern Schülerinnen und Schüler Kompetenzen während ihrer Bildungskarriere entwickeln (vgl. ebd.).
„ Primäre Effekte ergeben sich, weil Kinder aus niedrigen Sozialschichten infolge geringer Anregungen, niedriger kultureller und materieller Ausstattung im Elternhaus und möglicherweise auch aufgrund genetischer Voraussetzungen schlechtere schulische Leistungen erzielen“ (Neugebauer 2010, S. 202f). Vor allem beim Übergang auf das Gymnasium scheitern sie deshalb häufig an den Selektionshürden des Bildungssystems (vgl. ebd., S. 203).
Außerdem ist es ebenso denkbar, dass Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer familiären Herkunft verfügbare Ressourcen unterschiedlich nutzen (vgl. Dumont et al. 2014, S. 3).
2.3.2.2 Sekundäre Herkunftseffekte
Sekundäre Herkunftseffekte sind „diejenigen Einflüsse des sozialen Hintergrundes, die unabhängig von der Schulleistung entstehen und zum Beispiel aus unterschiedlichen Bildungserwartungen, sozial gekoppelten Notengebungen und Bildungsempfehlungen der Lehrerinnen und Lehrer und einem unterschiedlichen Entscheidungsverhalten der Eltern und Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Sozialschichten resultieren“ (Möller o.J.).
[...]
1 Die anderen Besonderheiten in der Entwicklung zu untersuchen, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschreiten, weshalb für nähere Informationen auf die zitierte Literatur verwiesen wird.
2 Weitere Literatur und nähere Informationen dazu siehe: Blos, P. (1992); Steinberg, L. (2008); Lohaus, A. (Hrsg.) (2018); Fend, H. (2005).
3 Weitere Literatur und nähere Informationen dazu siehe: Gogolin, I., Georgi, V. B., Krüger-Potratz, M., Lengley, D., & Sandfuchs, U. (Hrsg.) (2018).
4 Ausführlichere Informationen dazu finden sich in: Meier-Braun, K.-H. (2015).
5 Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu überschreiten, werden die Gründe und mögliche Ursachen nicht ausführlich angeführt. Weitere Informationen dazu finden sich in den angegebenen Werken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge.
6 Ausführlichere und weiterführende Informationen dazu siehe: OECD (2015).
- Quote paper
- Sinan Yildiz (Author), 2020, Institutionelle Diskriminierung und Bildungsungleichheit in der Schule. Fühlen sich Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund benachteiligt?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/882603
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