In den meisten neuen Demokratien Osteuropas, deren politische Systeme sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neu konsolidierten, gibt es heute Verfassungsgerichte. Obwohl sie in den einzelnen Ländern fast zeitgleich etabliert wurden, finden sie in ihrer Art und Stärke jedoch zum Teil sehr unterschiedliche Ausprägungen. Ich möchte in dieser Arbeit den Versuch unternehmen, diese unterschiedlichen Ausprägungen von Verfassungsgerichtsbarkeit in elf Ländern anhand zweier Variablen zu erklären. Meine These ist, dass die Stärke von Verfassungsgerichtsbarkeit in den untersuchten Ländern von der ethnischen Fragmentierung der Gesellschaft, sowie der Anzahl der beteiligten Akteure beim Verfassungsgebungsprozess abhängt. Die erste Variable stellt die Fragmentierung der Gesellschaft des jeweiligen Landes dar, während die zweite von der Anzahl der Akteure, die am Verfassungsgebungsprozess vor, oder während der Transformationsphase beteiligt waren, gebildet wird.
Die Thesen, die ich aufstellen, und im Laufe dieser Arbeit verfolgen werde, sind fogende:
Erstens: Je stärker fragmentiert die Gesellschaft eines Landes ist, desto stärker ausgeprägt ist die Verfassungsgerichtsbarkeit.
Zweitens: Je mehr Akteure bei der Verfassungsgebung des jeweiligen Staates beteiligt waren, desto eher wurde ein Verfassungsgericht etabliert, und desto stärker ist die Verfassungsgerichtsbarkeit. Untersucht werden dabei acht der jüngsten EU-Mitgliedsstaaten mit kommunistischer Vergangenheit, namentlich: Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn und Polen sowie die drei EU-Beitrittskandidaten Bulgarien, Rumänien und Kroatien.
Dabei werde ich wie folgt vorgehen: Zunächst werde ich die beiden Kernhypothesen aufstellen und theoretisch begründen. Daran anknüpfend werde ich die unabhängigen Variablen darstellen und ihre Erhebung sowie die Operationalisierung erläutern. Um die Überprüfung der Thesen einfacher zu gestalten, werde ich eine eigene Variable entwickeln, welche aus den beiden den erhobenen unabhängigen Variablen eine Synthese bildet. In einer Analyse werden die Thesen empirisch überprüft und nachvollzogen, ob die Ausprägung von Verfassungsgerichtsbarkeit durch die verwendeten unabhängigen Variablen zu erklären ist. Dafür werde ich verschiedene Möglichkeiten die abhängige Variable, die Stärke von Verfassungsgerichtsbarkeit der einzelnen Länder zu messen, vorstellen. Abschließend werde ich die Ergebnisse und mögliche Zusammenhänge analysieren.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Entwicklung der Kernhypothesen
- 2.1. Die Fragmentierung der Gesellschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit
- 2.2. Akteursbeteiligung bei der Verfassungsgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit
- 3. Operationalisierung der Variablen
- 3.1. Die Fragmentierung der Gesellschaften (HH-Index)
- 3.2. Akteursbeteiligung bei der Verfassungsgebung (N)
- 3.3. Konstruktion der eigenen unabhängigen Variable U
- 4. Etablierung von Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa
- 4.1. Kompetenzen von Verfassungsgerichten
- 4.2. Operationalisierung der Stärke von Verfassungsgerichtsbarkeit
- 4.3. Der Judicial Power Score (JPS)
- 4.4. Index of judicial independence
- 4.4.1. Der de iure-Index
- 4.4.2. Der de facto-Index
- 5. Analyse
- 6. Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Seminararbeit untersucht die unterschiedlichen Ausprägungen von Verfassungsgerichtsbarkeit in elf Ländern Osteuropas, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre politischen Systeme neu konsolidiert haben. Die Arbeit konzentriert sich auf zwei Variablen, um diese Unterschiede zu erklären: die ethnische Fragmentierung der Gesellschaft und die Anzahl der Akteure, die am Verfassungsgebungsprozess beteiligt waren. Die These der Arbeit ist, dass diese beiden Faktoren maßgeblich die Stärke der Verfassungsgerichtsbarkeit in den untersuchten Ländern beeinflussen.
- Einfluss der ethnischen Fragmentierung auf die Stärke von Verfassungsgerichtsbarkeit
- Bedeutung der Akteursbeteiligung am Verfassungsgebungsprozess für die Ausprägung der Verfassungsgerichtsbarkeit
- Analyse der Kompetenzen von Verfassungsgerichten in den untersuchten Ländern
- Empirische Überprüfung der Thesen anhand von verschiedenen Messinstrumenten für die Stärke der Verfassungsgerichtsbarkeit
- Bewertung des Zusammenhangs zwischen den unabhängigen Variablen und der Stärke von Verfassungsgerichtsbarkeit
Zusammenfassung der Kapitel
- Kapitel 1: Einleitung
- Kapitel 2: Entwicklung der Kernhypothesen
- Kapitel 3: Operationalisierung der Variablen
- Kapitel 4: Etablierung von Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa
Die Einleitung stellt die Forschungsfrage der Arbeit vor und erläutert die These, dass die Stärke von Verfassungsgerichtsbarkeit in den untersuchten Ländern von der ethnischen Fragmentierung der Gesellschaft und der Anzahl der am Verfassungsgebungsprozess beteiligten Akteure abhängt. Die Arbeit untersucht acht der jüngsten EU-Mitgliedsstaaten mit kommunistischer Vergangenheit sowie drei EU-Beitrittskandidaten.
Dieses Kapitel definiert die unabhängigen und abhängigen Variablen der Arbeit. Es stellt die Hypothese auf, dass eine stärker fragmentierte Gesellschaft mit einer stärkeren Verfassungsgerichtsbarkeit einhergeht. Des Weiteren wird argumentiert, dass eine höhere Anzahl an beteiligten Akteuren beim Verfassungsgebungsprozess zu einer stärkeren Verfassungsgerichtsbarkeit führt. Das Kapitel beleuchtet verschiedene Theorien, die die Etablierung von Verfassungsgerichtsbarkeit im Kontext der Transformationsprozesse in Osteuropa erklären können.
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Messung der beiden unabhängigen Variablen. Es werden konkrete Indikatoren zur Erfassung der ethnischen Fragmentierung (HH-Index) und der Akteursbeteiligung (N) vorgestellt. Die Arbeit entwickelt außerdem eine eigene unabhängige Variable (U), die aus den beiden erhobenen Variablen eine Synthese bildet.
Dieses Kapitel untersucht die Entwicklung von Verfassungsgerichtsbarkeit in den untersuchten Ländern. Es beleuchtet die Kompetenzen von Verfassungsgerichten und präsentiert verschiedene Messinstrumente zur Operationalisierung der Stärke von Verfassungsgerichtsbarkeit, wie z.B. den Judicial Power Score (JPS) und den Index of judicial independence. Das Kapitel analysiert die Entwicklung von Verfassungsgerichtsbarkeit im Kontext der jeweiligen historischen, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten.
Schlüsselwörter
Verfassungsgerichtsbarkeit, Osteuropa, ethnische Fragmentierung, Akteursbeteiligung, Verfassungsgebungsprozess, Transformation, EU-Mitgliedschaft, Judicial Power Score (JPS), Index of judicial independence, de iure, de facto, Kompetenzen, Stärken, Vergleichende Analyse.
- Quote paper
- Bachelor of Arts Johannes Schumm (Author), 2006, Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa - Zwischen ethnischer Fragmentierung und Akteursinteressen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87978