Das Niederdeutsche im Jahr 2005

in Mecklenburg Vorpommern


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

38 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1 Vorbemerkung

2 Die Entwicklung der niederdeutschen Sprache bis heute
2.1 Das Altniederdeutsche
2.2 Das Mittelniederdeutsche – die Hansezeit
2.3 Das Neuniederdeutsche
2.3.1 Vom 16. zum 19. Jahrhundert – Zeit des Übergangs
2.3.2 Hochdeutsch und Niederdeutsch – ein ungleiches Verhältnis
2.3.2.1 Missingsch
2.3.2.2 Niederdeutsche Einsprengsel in der hochdeutschen Literatur
2.3.3 Das 20. Jahrhundert
2.3.3.1 Zwanziger Jahre bis Nachkriegszeit
2.3.3.2 Das Niederdeutsche in der DDR

3 Plattdeutsch heute
3.1 Der Plattsprecher
3.1.1 Wer spricht mit wem Plattdeutsch?
3.1.2 Die Bedeutung des Plattdeutschen
3.2 Das Angebot der Medien
3.3 Plattdeutsch in der Bildung
3.3.1 Rahmenpläne und gesetzliche Verankerungen
3.3.2 Die gegenwärtige Situation in Kindergärten, Schulen und Hochschulen

4 Zusammenfassung und Ausblick

5 Anhang

6 Literaturverzeichnis

1 Vorbemerkung

Das Thema der vorliegenden Arbeit ist die aktuelle Situation des Niederdeutschen in Mecklenburg Vorpommern, welches im Folgenden als Dialekt bzw. Mundart bezeichnet wird. Diese zwei Begriffe werden synonym gebraucht[1] und verweisen auf die regionale Gebundenheit, die Ähnlichkeit zu anderen Systemen (welche mindestens partielle Verstehbarkeit ermöglicht), sowie das Fehlen einer Standardisierung im Sinne offiziell normierter orthografischer und grammatischer Regeln.[2] Es handelt sich um die im Umgang gesprochene Sprache[3].

Als weiter gefassten Begriff möchte ich auch den der Varietät aufnehmen, da Sprache aus einer Vielzahl dieser besteht. Varietät gilt als nicht wertender, neutraler Grundbegriff der Soziolinguistik[4], dessen Eigenschaften beispielsweise von historischen, regionalen, sozialen oder situativen Gegebenheiten abhängen. Genauer gesagt, sind es außersprachliche Faktoren, die die Varietät beeinflussen (Alter, Geschlecht, Gruppe, Region, historische Periode, Stil[5]). Diese sollen die verschiedenen Gesichtspunkte hergeben, unter denen das Thema untersucht wird.

Sprache ist in der Regel ein mehrdimensionaler Raum von Varietäten, je nach der Geschichte und dem sozialen Gefüge der Sprachgemeinschaften, in denen sie lokalisiert sind. Die Varietäten sind in diesem Raum Schnittstellen (Produkte) historischer, regionaler, sozialer und situationsbedingter Faktoren.[6]

Entsprechend dieser zitierten Faktoren, erfolgt zunächst ein historischer Abriss (Kapitel 1), der helfen soll, die Entwicklung des Niederdeutschen zu klären. Es handelt sich hierbei um die Betrachtung der diachronen Dimension[7] der Mundart – das Augenmerk liegt auf der Unterscheidung historischer Perioden/ Stadien (Altniederdeutsch, Mittelniederdeutsch, Neuniederdeutsch). Dies soll dazu beitragen, Tendenzen und Entwicklungen aufzuzeigen und zu verdeutlichen. Gerade die Frage nach dem Prestige und der Bewertung der niederdeutschen Mundart soll hier eine Rolle spielen.

Im 2. Kapitel werden dann Umfragen ausgewertet werden, die im Zeitraum August – September 2005 durchgeführt wurden.[8] Der Blick wird auf die aktuelle Situation des Niederdeutschen gerichtet, wobei die diastratische (soziale) Dimension der Variation[9] untersucht wird. Es stehen die Fragen nach dem realen Sprecher der niederdeutschen Mundart, dem soziokulturellen Umfeld und den Maßnahmen, die zum Erhalt des Dialekts getroffen werden oder werden sollen im Mittelpunkt. Wichtig sind an dieser Stelle die oben bereits erwähnten außersprachlichen sozialen und situationsbedingten Faktoren, wie z.B. Alter, Geschlecht, Status und Gruppe. Die diastratischen Unterschiede sind in den sozial-kulturellen Schichten zu suchen, während die diaphasische Dimension[10] auf die Situation abzielt (Unterschiede in der Ausdrucksmodalität). Man bezeichnet sie auch als funktionale Sprachvarietäten: Der Sprecher wählt in verschieden Situationen aus unterschiedlichen Sprachregistern aus.

Es sollen also die soziolinguistischen Fragestellungen nach

- den Normen des Sprachgebrauchs[11],
- den Zusammenhängen von Sozioökonomie,
- Geschichte,
- Kultur und
- sozialer Schichtung[12]

untersucht werden, welche am Ende ein umfassendes Bild ergeben sollen über die Entwicklung des Niederdeutschen bis heute, den aktuellen Stand, dessen Bewertung und die Arbeit an evtl. vorhandenen problematischen Tendenzen.

2 Die Entwicklung der niederdeutschen Sprache bis heute

2.1 Das Altniederdeutsche

Der Begriff des Altniederdeutschen (Andd.) setzt sich entsprechend der üblichen sprachgeschichtlichen Bezeichnungen (z.B. Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch) immer mehr durch, obwohl die traditionelle Wissenschaft diese Sprachstufe als Altsächsisch bezeichnet. Im Folgenden werde ich mich nun auf erstere Bezeichnungsform festlegen, wobei man trotz allem festhalten muss, dass die sächsische Sprachgrundlage nicht aufgegeben worden ist (Sprache des Sachsenstammes im Nordwesten Deutschlands).

Vom 5. bis zum 8. Jahrhundert spricht man von einer Art Vorstufe des Andd. vor der Eingliederung der Sachsen in das Frankenreich und in der Zeit von 800-1200 kann die eigentliche andd. Epoche eingeordnet werden, aus der es auch die meisten Sprachzeugnisse gibt. Das wichtigste dieser Art ist der „Heliand“, ein religiöses Epos und zugleich das älteste Denkmal der deutschen Nationalliteratur:

Sagda thuo is gisîðon duno drohtines,

That hie eft obar Iordan Iudeo liudi

Suokean uuelda.[13]

(Da sagte zu seinen Gesellen der Sohn des Herrn,

dass er wieder über den Jordan die Judenleute

aufzusuchen gedächte.)[14]

Im Andd. sind u.a. noch die vollen Vokale der Endsilbe bei Nomen und Verben erhalten, die später tonlos wurden:

andd. tunga > mndd. tunge > nndd. Tung

andd. sunna/o > mndd. sunne > nndd. Sünn

Weiterhin werden sehr viele Vokale, die später lang erscheinen, kurz gesprochen:

andd. watar > mndd. wāter > nndd. Water

Auch die Qualität der Vokale unterscheidet sich:

andd. cuning > mndd. kōnink > nndd. König

Dem Andd. folgt nun eine Lücke, da sich nur sehr selten ein niedersächsisches Wort in lateinischen Urkunden findet. Erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts tauchen wieder vereinzelte Aufzeichnungen auf.

2.2 Das Mittelniederdeutsche – die Hansezeit

Als mittelniederdeutsche Epoche bezeichnet man die Zeit vom 13. bis zum 17. Jahrhundert, wobei das Mndd. als Sprache der Hanse die größte Verbreitung und hohes Ansehen erlangte. Durch die Ostkolonisation vergrößerte sich der ndd. Sprachraum weiter bis ins Baltikum.

Mit dem Mndd. sollte im 13. Jahrhundert eine einheitliche Verkehrssprache, die über allen Dialekten steht, geschaffen werden. Durch sie gelang die Verständigung in ganz Norddeutschland, aber auch in England, Skandinavien, Russland, dem Baltikum etc. Man legte sich dabei auf die Mundart Lübecks fest.

Mit der Blütezeit der Hanse (ca. 1350-1500) kam auch die Glanzperiode des Mndd., während man im Bereich der Poesie und Literatur keine bemerkenswerte Bedeutung ausmachen kann (im Gegensatz zum Mittelhochdeutschen). Als Beispiel soll hier der „Reinke Voss“ angeführt werden, bei dem es sich aber nur um eine Übersetzung aus dem Niederländischen handelt.

Seine wirkliche Bedeutung entfaltete das Mndd. also im Bereich des Handels, wobei es einen tiefgreifenden Einfluss z.B. auf die festlandskandinavischen Sprachen hatte.

Das Mndd. unterscheidet sich sehr vom Andd. und ist nicht nur dessen Weiterentwicklung, sondern teilweise auch die der altniederländischen Sprache. Bis ins 13. Jahrhundert handelte es sich um eine nahezu schriftlose Sprache, die dann für den Bedarf der sie benutzenden Kreise, welche zum größten Teil aus Bürgern und Kaufleuten bestanden, ausgebaut wurde. So sind bei diesem Ausbau der Lexik verschiedene Sachgebietseinflüsse von Bedeutung (Recht, Theologie und Berufssprachen), sowie auch die der südlichen und westlichen Nachbargebiete (z.B. Slawen). Das Niederländische trug wesentlich zur Vermittlung romanischen Wortgutes bei. Einige Textbeispiele mit Übersetzungen finden sich im Sachsenspiegel (1225), in der hansischen Korrespondenz (1411) oder in der Lübecker Bibel (1494).[15]

2.3 Das Neuniederdeutsche

2.3.1 Vom 16. zum 19. Jahrhundert – Zeit des Übergangs

Hier kann man zuerst von einer Übergangszeit sprechen, in der die mndd. Schriftsprache durch das Hochdeutsche als Standardsprache abgelöst und somit dialektalisiert wurde. Dieser Sprachwandel vollzog sich v.a. im 16./ 17. Jahrhundert.

Als einer der Hauptgründe für diese Entwicklung ist der kulturelle, wirtschaftliche und politische Niedergang der hanseatischen Macht zu sehen. Skandinavien befreite sich von der hanseatischen Vormundschaft, Schweden kontrollierte ab Mitte des 17. Jahrhunderts gemäß der Bestimmungen des Westfälischen Friedens fast die gesamte Ost- und Nordseeküste und im Westen erlebten die Niederlande, die alten Widersacher der Hanse, ihre Blütezeit. Das hanseatische Wirtschaftssystem war veraltet und mit ihm seine Sprache, das Mittelniederdeutsche.

Weiterhin gilt die Reformation als Grund für den Rückgang der Bedeutung der ndd. Sprache: Durch Luther gewann zwar die Volkssprache an Ansehen, nicht jedoch die niederdeutsche, sondern die hochdeutsche. Zwar schätzte Luther die ndd. Sprache, war aber gegen eine dialektale Zersplitterung, gegen Dialekte und auch gelehrte Sprachen, durch die man immer nur einzelne Gruppen erreichen konnte. So gewann das Hd. an Ansehen und Verbreitung, zumal das Wort Gottes mit dem Text Luthers identifiziert wurde. Das lange Nebeneinander beider Sprachen führte aber auch dazu, dass das Ndd. einen Einfluss auf das Hd. ausübte und Luther selbst zog dann und wann die ndd. Variante vor.[16]

Viele hd. Theologen besetzten Stellen in Niederdeutschland und so gab es Predigten, Kirchenordnungen und theologische Veröffentlichungen fast nur noch auf Hochdeutsch. In literarischen Werken ließ man bald nur noch Diener und Bauern ndd. sprechen, was deutlich den sozialen Abfall der Sprache aufzeigt. Mundartsprechende Narren, die das Stück, die Handlung kommentieren, Bauern, Hirten; Knechte, Mägde figurieren als Kontrastgestalten zum hochdeutsch sprechenden Helden aus höherem Stand.[17] Das Ndd. war nun nur noch in Form regional unterschiedlicher Mundarten gebräuchlich.

Es entbrannte vielerorts Streit über das Niederdeutsche, welches ebenso viele Befürworter wie Widersacher hatte. So wandte sich beispielweise der Theologe Bernhard Raupach in seiner Rostocker Dissertation (1704) scharf gegen die soziale Klassifizierung des Niederdeutschen als die Sprache der Bauern und nimmt in dieser eine Eleganz des Ausdrucks, sowie eine Lieblichkeit und Süße der Worte wahr.[18] Weitere Vorzüge sind für Raupach: das höhere Alter des Ndd. gegenüber dem Hochdeutschen, Einfachheit, Innerlichkeit und Gefühl, Reinheit, Klarheit der Aussprache und [...] eine besondere Würde.[19] Erbittert stellt er fest, dass sogar die Bauern hinter dem Pflug begonnen haben, sich schon dieser Sprache zu schämen.[20]

Im Sinne der nationalen Einheit Deutschlands und zur Förderung der hochdeutschen Standardsprache wurde aber auch die Abschaffung des Ndd. erwägt, zu erreichen durch staatliche Regelungen, wie z.B. das Besetzen von Lehrstühlen durch ausschließlich hochdeutsch sprechende Lehrkräfte. Zentraler Gedanke Ludolf Wienbargs ist v.a. die Bildungsfeindlichkeit des Niederdeutschen: Es könne die geistigen und materiellen Fortschritte der Civilisation nicht fassen, nicht wiedergeben. Daher sei der bei weitem größte Teil der Volksmasse in Norddeutschland zu Unmündigkeit, Roheit und Ideenlosigkeit verurteilt.[21]

Bei aller Zuneigung für die ndd. Sprache machte sich der Philologe Friedrich Gedike schon im Jahr 1794 kaum noch Hoffnung auf ein Überleben derselben: Nur noch ein paar Menschenalter, und das Plattdeutsche wird für uns eine todte Sprache sein.[22]

Die Gründe, die für dieses langsame Aussterben der Sprache gesehen werden, gleichen erstaunlicherweise den heutigen: In erster Linie ist die Funktion des Ndd. als äußerst eingeschränkt zu sehen, da sie weder Sprache der Wissenschaft, der Bildung, noch der großen Literatur ist. Zum Mangel an abstrakten Begriffen kommt eine bäurische Ausdrucksweise der verachteten Volkssprache.[23]

Zu Beginn des 19.Jahrhunderts fanden altes Brauchtum und Volksdichtung erneutes Interesse: Für die Sammlung desselben engagierten sich u.a. Ernst Moritz Arndt[24], Friedrich Ludwig Jahn und Richard Wossidlo. Niederdeutsche Texte finden sich z.B. auch in der Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1806/08) von Achim von Arnim und Clemens Brentano und der Wolgaster Maler Philipp Otto Runge erzählte z.B. das Märchen „Von dem Fischer un syner Fru“ neu.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Prestige des Ndd. zumindest als Literatursprache noch einmal neu begründet: Namen wie Fritz Reuter; Klaus Groth und John Brinckman stehen für diese sogenannte klassische niederdeutsche Literatur[25]. Die Werke dieser Autoren erlebten nationalen Ruhm und wurden durch zahlreiche Übersetzungen auch international bekannt.

2.3.2 Hochdeutsch und Niederdeutsch – ein ungleiches Verhältnis

Wie bereits im vorangegangenen Kapitel erörtert, hatte das Hd. bereits Ende des 16. Jahrhunderts die ndd. Schriftsprache nahezu verdrängt. Gesprochene Sprache blieb zunächst weiterhin das Ndd., wobei man von einer Diglossiesituation[26] sprechen kann, d.h. es bestand eine Sprachsituation, in der die verschiedenen Varietäten (niedrige und hohe Sprachvarietät) streng funktional getrennt waren.[27]

Teilweise mischten sich das als Hd. bekannte Meißnisch und das Ndd., da sie ständig miteinander konkurrieren mussten und von Sprechern, die beider Sprachen nicht gleich mächtig waren, durcheinander gebracht wurden. Man spricht hier vom sog. Missingsch.[28]

Die lange Zeit des Nebeneinanders führte natürlich dazu, dass das Ndd. die werdende Standardsprache (das Hochdeutsche) dauerhaft beeinflusste. Es fanden sich in der hd. Schriftlichkeit zahlreiche Interferenzen bzw. es existierten hoch- und niederdeutsche Formen nebeneinander. Sogar Luther selbst zog oft ndd. Formen vor und man kann einen nordischen Einfluss in Schrift und Rede feststellen. So konnten nicht zuletzt durch die Autorität Martin Luthers zahlreiche ndd. Wörter in die Standardsprache eindringen.

Im 17. und 18. Jahrhundert wurden dann noch weitaus mehr Wörter direkt übernommen, nachdem das Neuhochdeutsche auch im Norden Standardsprache geworden war. Hier wiederum lassen sich enge Beziehungen zum Englischen ausmachen bzw. sie wurden in dieser Zeit verstärkt, da viele Wörter etymologische Entsprechungen des Engl. waren, wie z.B.:

fühlen (to feel) für empfinden

gleiten (to glide) für schlipfern

Krume (crumb) für Brosame

Lippe (lip) für Lefze[29]

Es fand also kein einseitiger, sondern ein wechselseitiger Sprachaustausch statt, der auch heute noch das Bild des hochdeutschen Wortschatzes prägt.

2.3.2.1 Missingsch

Missingsch ist das, was herauskommt, wenn ein Plattdeutscher hochdeutsch sprechen will. Er krabbelt auf der glatt gebohnerten Treppe der deutschen Grammatik empor und rutscht alle Nase lang wieder in sein geliebtes Platt zurück.[30]

Es handelt sich beim Missingsch also um eine Mischsprache: ein Niederdeutsch, welches stark vom Hochdeutschen durchsetzt ist. Die sächsische Sprache wird mit der meißnischen vermischt, wobei man den Prototyp dieser Sprachform in Fritz Reuters „Ut mine Stromtid“ findet: Unkel Bräsig. Weiteren Erklärungen möchte ich daher ein Zitat desselben vorausschicken:

„Hür mal, Korl! Naßkolt, waterig, klöterig – süh, das `s gar nichts dagegen. Sie machen den Menschen rein zu `ne Pogg`, un eher sich `ne menschliche Natur an `ne Poggennatur gewöhnt, da hat die menschliche Kretur so viel auszuhalten, dass man ümmer wünschen möchte, man wär as Pogg` auf die Welt gekommen... – Süh, erstens morgens die gewöhnliche Abschwitzung. Da wickeln sie dir in kolle Laken ein – ganz natt – un dann in wollne Decken un premsen dir so zusammen, dass du nichts von deinem menschlichen Leibe rögen kannst, als bloß die Tehnen...“[31]

Man findet sog. hyperkorrekte Formen, die der Missingschsprecher infolge seiner Unsicherheit bildet und die dann typische Fehlformen sind, wie z.B. die Verwechslung von mir und mich. Bei Reuter wurde das Missingsch aus dem realen Sprachgebrauch in die Literatur übertragen. Problematisch erscheint die Frage nach dem Missingsch nun, wenn man berücksichtigt, dass auch alle anderen Mundarten oft mit Hochdeutschem durchsetzt sind. Goossens gibt zur Antwort, dass es vom Sprecher abhängt: will dieser Plattdeutsch reden, so spricht er Mundart – versucht er Hochdeutsch zu sprechen, spricht er Missingsch.[32]

Für die Deutung der Bezeichnung Missingsch gibt es zwei Möglichkeiten: Zum ersten wird es hergeleitet von messingsch, also Messing, einem minderen Metallgemisch und zum zweiten vom mndd. mysensch (meißnisch). Beide ergeben Sinn, da sie auf die Vermischung der verschiedenen sprachlichen Elemente abzielen.

Bereits im Mittelalter lässt sich im 14. Jahrhundert in der höfischen Literatur des Nordens Hd. mit ndd. Einschlag beobachten bzw. Ndd. mit hd. Einsprengseln. Die Auseinandersetzung beider Sprachen ist also keine Erfindung Reuters, sondern sie ist wesentlich älter. Das Missingsch wurde später jedoch durch selbigen und wird gegenwärtig zur Darstellung von Charakterköpfen[33] bzw. zur Kritik an sozialen Umständen (wie z.B. das holprige Sprechen des Hochdeutschen, um mehr Sozialprestige zu erreichen) und zur Satire benutzt. Dabei wiederum stellt sich die Frage, ob Missingsch bzw. in welcher Form es als real gesprochene Sprachform existiert oder eher als geformte Literatursprache,[34] die lexikalischen Verdrehungen und humoristischen Zwecken dienen soll. Der Vergleich eines Missingschtextes mit einer nieder- und einer hochdeutschen Entsprechung ergab, dass das Missingsch eher als Hd. auf ndd. Grundlage gelten kann.[35]

Deutlich wird in jedem Falle, dass die Beziehung beider Sprachen eine lange Tradition hat, in der es immer wieder zu Beeinflussungen und Konfrontationen kam.

2.3.2.2 Niederdeutsche Einsprengsel in der hochdeutschen Literatur

In einer Vielzahl von Werken der Neuen Deutschen Literatur finden sich ndd. Passagen. Einige solche Beispiele sollen im Folgenden zitiert werden, um daraufhin den Kontext abzuleiten, in dem sie stehen.

- Der Zylinder ischa en finen statschen Haut, över wen dor nich mit grot worn is, denn rutscht hei ümmer werrer aff, dat deiht he...[36]
- Sie veräppeln mich ja. (S. 241); Hier, Murkel, ist Püpping. Halt Püpping gut fest! (S. 279); oller Dussel (S. 96); plattdeutsches Wiegenlied[37]
- Immer langsam mit de jungen Peer. (S. 8); Wat makt de Minschheit bloß fürn Prott wegen dat büschen Leben! (S. 8); Lat em lopen, een halbes Joar, un hei is wedder doar! Bur bliwt Bur, un wenn he bet Middag schlöppt! (S. 9); Dickkopp (S. 268); bevor die Klock voll schlägt (S. 440); bedremmelt (S. 64); wir Jungens (S. 46) etc.[38]

Die Beispiele zeigen, dass das Plattdeutsche sich nur vereinzelt im hd. Text findet und es dem Zweck der Schaffung einer persönlichen, heimatlichen Atmosphäre dient. Auch hier zeigt sich das Plattdeutsche als gemütliche, liebevolle und familiäre Sprache. Es handelt sich bei den Textbeispielen in erster Linie um Redewendungen/ Sprichwörter, um liebevolle Veralberung im familiären Rahmen oder Lieder und Gedichte – alles Dinge, die sich auf Traditionen und Bräuche berufen, die ein heimatliches Gefühl vermitteln.

2.3.3 Das 20. Jahrhundert

2.3.3.1 Zwanziger Jahre bis Nachkriegszeit

Gernentz zeigt die rasante Entwicklung der Städte in Deutschland auf, wobei um 1910 bereits 60% der Deutschen in diesen Leben, während es um 1800 nur 25% waren.[39] Seit 1871 war die Zahl der Großstädte von 8 auf 48 angestiegen. Immer weniger Menschen waren in der Landwirtschaft tätig, während die Zahl der Industriearbeiter anstieg. Viele Menschen befanden sich auf der Suche nach Arbeit, was eine enorme Binnenwanderung zur Folge hatte. Dadurch erfolgte eine ständige Umschichtung der Bevölkerung in den Städten und verschiedene Sprachelemente konnten sich mischen und neue Sprachformen entstehen lassen (Stadtmundarten[40]). Dies hatte natürlich auch eine Gefährdung der norddeutschen Mundarten zur Folge.

Weitere Gründe sind zu sehen in der Entwicklung der Technik, Industrie, Wirtschaft und Politik: Sehr schnell entstand ein neuer umfangreicher Wortschatz, der sich ausbreitete und überall aufgenommen wurde. Durch den Umgang mit den neuen Maschinen beispielsweise war auch jeder, der sie benutzte, gezwungen, sich mit dem dazugehörigen neuen Vokabular auseinander zu setzen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu weiteren großen Umformungen, da viele Flüchtlinge und Siedler auch auf dem Lande untergebracht wurden und sich so wieder die sprachlichen Verhältnisse änderten. Neue Sprachelemente durchdrangen die Sprache der Anwohner und es kam zu neuen Durchmischungen. Viele der Nicht-Einheimischen lernten aber auch das Ndd. verstehen und sprechen, oft gezwungenermaßen, um sich verständigen zu können, wie einige der Befragten angaben.[41]

Schon in den 50er Jahren lässt sich eine auffallende Diskrepanz zwischen dem aktiven Gebrauch und dem passiven Verstehen des Ndd. feststellen.[42] Höchstens im engsten Familienkreis wird meist Ndd. gesprochen und nur, wenn auch alle einheimisch sind. (Sonst richteten sich oft alle nach dem einen, der nicht verstehen konnte.) Die Sprache des Öffentlichen war das Hochdeutsche.

[...]


[1] Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft.- Stuttgart: Kröner, 1990. S. 177

[2] ebd.

[3] ebd.

[4] Dittmar, Norbert: Grundlagen der Soziolinguistik – Ein Arbeitsbuch mit Aufgaben.- Tübingen: Niemeyer, 1997. S. 180

[5] ebd. S. 177

[6] ebd. S. 129

[7] ebd. S. 178 (Der Begriff der Diachronie wurde von de Saussure eingeführt.)

[8] Die Umfragen wurden ausschließlich im Bereich Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt, womit der räumliche Rahmen festgelegt ist. Eine Abgrenzung und Unterscheidung von anderen lokalen oder regionalen Varietäten soll in diesem Rahmen nicht vorgenommen werden. Die Betrachtung der diatopischen Dimension bleibt also auf dieser Ebene.

[9] Der Vorschlag der Dreigliederung des Varietätenraumes (diaphasisch, diastratisch, diatopisch) geht auf Coseriu zurück.

[10] Dittmar, N.: S. 178 ff.

[11] Bußmann, H.: Wann und zu welchem Zweck spricht wer welche Sprache/ Sprachvarietät mit wem? (S. 692)

[12] ebd.

[13] Der Heliand (hrsg. von Burkhard Taeger): Vers 3984-3986, S. 63-64

[14] Heliand und die Bruchstücke der Genesis (Reclam): S. 127

[15] Stellmacher, D.: Niederdeutsche Sprache.- Bern: Lang, 1990. S. 45-51

[16] zum Verhältnis des Niederdeutschen zum Hochdeutschen siehe Kapitel 2.3.3.

[17] Herrmann-Winter, Renate: Zu Prestige und Bewertung von Niederdeutsch im Wandel der Jahrhunderte. In: Buske, Norbert (Hrsg.): Niederdeutsche Bibeltradition. Entwicklung und Gebrauch des Niederdeutschen in der Kirche.- Berlin und Altenburg: Evangelische Haupt-Bibelgesellschaft, 1990. S. 47

[18] ebd.

[19] ebd. S. 48

[20] ebd.

[21] ebd. S. 56

[22] ebd. S. 51

[23] ebd. S. 52

[24] Arndt veröffentlichte Märchen und Sagen aus Pommern und Rügen hochdeutsch und plattdeutsch (1818 und 1843)

[25] Herrmann-Winter, R.: Zu Prestige und Bewertung...: S. 55

[26] Keller, Rudolf E.: Die deutsche Sprache.- Hamburg: Buske, 1995. S.366

[27] Bußmann, H.: S. 183

[28] siehe Kap. 2.3.2.1.

[29] Keller: S. 434

[30] Tucholsky, Kurt: Schloss Gripsholm.- Hamburg: Rowohlt, 1996 (zuerst erschienen: 1931). S. 11-12

[31] Reuter, Fritz: Ut mine Stromtid, Kap. 8. In: Gesammelte Werke Band I-VIII (Hrsg. Kurt Blatt).- Neumünster: Karl Wachholtz, 1967

[32] Sanders, Willy: Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch.- Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1982. S. 56

[33] Stellmacher, D.: Niederdeutsche Sprache: S. 95

[34] ebd. S. 97

[35] ebd.

[36] Tucholsky: S. 12

[37] Fallada, Hans: Kleiner Mann – was nun?.- Reinbek: Rowohlt, 1997 (zuerst erschienen: 1932)

[38] Welk, Ehm: Die Lebensuhr des Gottlieb Grambauer.- Rostock: Hinstorff, 1959

[39] Gernentz, Hans Joachim: Niederdeutsch gestern und heute.- Berlin: Akademie, 1964. S. 109

[40] ebd. S. 112

[41] mehr zur Auswertung der Umfragen in Kapitel 3

[42] Gernentz: S. 141 ff.

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Das Niederdeutsche im Jahr 2005
Untertitel
in Mecklenburg Vorpommern
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Deutsche Philologie)
Veranstaltung
Soziolinguistik Hauptseminar
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
38
Katalognummer
V87894
ISBN (eBook)
9783638036542
Dateigröße
534 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
34 Einträge im Literaturverzeichnis, davon 13 Internetquellen.
Schlagworte
Niederdeutsche, Jahr, Soziolinguistik, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Antje Köpnick (Autor:in), 2005, Das Niederdeutsche im Jahr 2005, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87894

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