Wie entstand der Krieg in Tschetschenien?


Term Paper (Advanced seminar), 2002

20 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Subjekte der ehemaligen Sowjetunion und das Verlangen nach eigenstaatlicher Souveränität.

3. Die Situation in Tschetschenien 1990-94
3.1. Die Unabhängigkeitsbewegung Tschetscheniens 1990-91
3.2. Die Folgen des Augustputsches in Tschetschenien
3.3. Tschetschenien 1992-94
3.4. Der Ausbruch des Krieges Nov./Dez. 1994

4. Hintergründe des Tschetschenienkrieges
4.1. Aspekte der russischen Innenpolitik 91-94
4.1.1. August 91 – September 93
4.1.2. Oktober 93 – Dezember 94
4.2. Der Sicherheitsrat
4.3. Russische Interessenpolitik in Tschetschenien
4.3.1. Die Interessen der RF in Tschetschenien.
4.3.2. Die Interessen der Akteure im Kreml
4.4. Exkurs über die russische Nationalitätenpolitik

5. Schlußbemerkung

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In dem Konflikt der Russländischen Föderation (RF) mit der Autonomen Republik Tschetschenien treffen verschiedene Akteure und Faktoren aufeinander. Einen wichtigen Aspekt bilden dabei die russischen Interessen in der Konfliktregion des Kaukasus‘, die mit dem Bestreben der Tschetschenen nach Unabhängigkeit konfligieren. Auf die Wahrung wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen pochend, betrachtet die russische Führung Tschetschenien als integralen Bestandteil der RF und besteht darum auf der Wiederherstellung des Status quo ante.

Diese Faktoren erklären aber nicht die Tatsache, dass es „erst“ am 11. Dezember 1994 zu einem offenen Krieg kam, drei Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens. In diesem Zeitraum, vom Ende der Sowjetunion 1991 bis zum Jahr 1994, hat sich ein entscheidender Wechsel der politischen Machtverhältnisse in der RF vollzogen, der sich, in Bezug auf die tschetschenische Situation als folgenschwer erwies.

Diesen Prozess möchte ich in meiner Hausarbeit in den Vordergrund stellen, und dagegen auf eine historische oder ethnische Begründung des Konfliktes verzichten. Historische und ethnische Hintergründe des Konfliktes sind für das Verhältnis von RF und Tschetschenien bedeutsam, aber ich möchte zeigen, dass sich letztendlich die politischen Akteure in Moskau aus verschiedenen Machtinteressen gegen eine politische Lösung des Konfliktes stellten. Dabei möchte ich zunächst kurz auf die Ereignisse in der Sowjetunion bis zum Augustputsch 1991 verweisen und die Situation in Tschetschenien in den Jahren 1990-94 wiedergeben, ehe ich auf die russischen Interessen und die innenpolitischen Hintergründe des Tschetschenienkrieges eingehe.

2. Die Subjekte der ehemaligen Sowjetunion und das Verlangen nach eigenstaatlicher Souveränität.

Das Verlangen nach Souveränität konnte, nach den politischen Veränderungen in den Jahren 1988-90, im Staatenverbund der ehemaligen UdSSR nicht mehr unterdrückt werden. Im Laufe des Jahres 1990 erklärten die Unionsrepubliken der UdSSR ihre Souveränität, deren Beispiel die RSFSR[1] am 11. Juni 1990 folgte. Diese Bestrebungen verliefen allerdings nicht nur auf Ebene der Unionsrepubliken. Die Desintegration erfasste auch die einzelnen Gebietskörperschaften der RSFSR. Nach dem Vorbild der Unionsrepubliken entstanden emanzipatorische Bewegungen, die sich zu organisierten Volksfronten entwickelten und zur Gründung von nationalen Volksvertretungen und Volksparlamenten führte[2]. Die Folge war, dass sich bis 1992 alle Autonomen Republiken der RSFSR und vier Autonome Gebiete zu souveränen Republiken erklärten[3].

In dieser Hinsicht ist die Bewegung des „Gesamtnationalen Kongresses des tschetschenischen Volkes“ und die durch den tschetschenischen Obersten Sowjet erfolgte Souveränitätserklärung aus dem Jahr 1990 nur ein Beispiel unter anderen. Diese Erklärung enthielt bereits Elemente, die von der russischen Führung als separatistisch eingeordnet wurden, weil in ihr die äußere Souveränität im Sinne einer angestrebten staatlichen Unabhängigkeit betont wurde[4]. Für das Jahr 1990 kann Tschetschenien noch als ruhiges und zurückhaltendes Beispiel des Auflösungsprozesses angeführt werden. Innerhalb der ehemaligen UDSSR entstanden zunächst andere Krisengebiete[5].

Nach dem das Fortbestehen der UDSSR in Frage gestellt war und es seit 1990 zu Versuchen kam, einen neuen Unionsvertrag zu formulieren, stellte sich auch die Frage nach dem Fortbestehen der RSFSR. Es galt die Frage zu klären, ob eine generelle Neugründung der RSFSR durchzuführen sei, oder ob es möglich sei mit Hilfe einer neuen Verfassung die Kontinuität der RSFSR zu waren. Die Entscheidung zu Gunsten einer Neugründung setzt allerdings voraus, dass den einzelnen Subjekten die Wahl eingeräumt wird, innerhalb der RSFSR, bzw. dem neu zu schaffenden Staatenverband zu verbleiben oder nicht.

Die Klärung dieser Frage spielte sich vor dem Hintergrund innenpolitischer Machtkämpfe zwischen Gorbatschow, als Staatspräsidenten der UDSSR und Boris Jelzin, als Vorsitzender des Obersten Sowjets der RSFSR ab. Gorbatschow versuchte durch die Stärkung der Autonomen Republiken die Position Jelzins innerhalb der russischen Führung zu schwächen. Jelzin hingegen kam diese weit reichende Souveränität der Autonomen Republiken zu Nutze, indem ein Gegengewicht zur Führung der Sowjetunion aufgebaut wurde.[6] Diese Instrumentalisierung der Souveränitätsbestrebungen zeigt sich in verschiedenen Gesetzen und Äußerungen der Politiker, die den Status der Autonomen Republiken stärkten und zugleich deren Souveränitätsbestrebungen förderten:

- Durch ein von Gorbatschow eingebrachtes Gesetz vom 26.4.1990 wurden die Autonomen Republiken zu Subjekten der UDSSR erklärt, wobei ihr genauer Status nicht erläutert wurde.[7]
- In einer berühmt gewordenen Rede in Tartastan, im September 1990, förderte Jelzin diesen Prozess. In einem an alle Republiken gerichteten Appell sprach Jelzin die Aufforderung aus, sich soviel Souveränität zu nehmen wie möglich.[8]
- Im April 1991 wurde vom Obersten Sowjet der RSFSR ein Gesetz „Zur Rehabilitation unterdrückter Völker“ verabschiedet. In diesem Gesetz sahen viele geschädigte Völker der UDSSR eine Aufforderung, eine einstmals verlorene Unabhängigkeit zurück gewinnen zu können.[9]
- Ein weiterer Punkt in dieser Entwicklung war ein Treffen von Gorbatschow und Jelzin mit den Führern der Autonomen Republiken am 12.5.1991. Auf diesem Treffen wurde von beiden die Souveränität der Autonomen Republiken untermauert und in Aussicht gestellt, dass sie den angestrebten Unionsvertrag auf gleichberechtigter Basis mit den Unionsrepubliken unterzeichnen können.[10]

Die Unterzeichnung des Unionsvertrages wurde für den 20. August 1991 angesetzt. Der Putschversuch vom 19. August vereitelte allerdings die Unterzeichnung dieses Vertrages. Restaurative Kräfte innerhalb der sowjetischen Führung versuchten mittels militärischer Unterstützung den Reformprozess in Russland aufzuhalten. Die Folgen des gescheiterten Putsches waren für die russische Politik gravierend: Wegen seiner Haltung gegen die Putschisten konnte sich Boris Jelzin als Präsident der RSFSR etablieren, was seine Stellung kurzfristig festigte[11]. Im Gegenzug verlor Gorbatschow an politischer Bedeutung, durch das folgende Verbot der KPdSU und die im Dezember 1991 beschlossene Auflösung der UDSSR.

Der Augustputsch führte in der gesamten RSFSR zu dramatischen Veränderungen. In den Republiken und Gebieten der RSFSR, die sich hinter die Putschisten gestellt hatten, wurden die kommunistisch geführten Obersten Sowjets abgesetzt und neue Regierungen gebildet. Durch diesen Prozess gewannen die nach Souveränität strebenden Kräfte der Republiken neuen Aufwind.

3. Die Situation in Tschetschenien 1990-94

3.1. Die Unabhängigkeitsbewegung Tschetscheniens 1990-91

Die tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung bildete sich in den Jahren 90-91 heraus. Die politischen Akteure befanden sich in dem von der Kommunistischen Partei geleiteten Obersten Sowjet der tschetscheno-inguschetischen ASSR und in dem neu gebildetem tschetschenischem Nationalkongress. Die legitime politische Führung besaß der Oberste Sowjet, dessen Vorsitzender zugleich Chef der KP war, Doku Zavgaev.

Der Nationalkongress, an dem auch Mitglieder des Obersten Sowjets teilnahmen, setzte sich nach seiner Gründung am 23.– 25. November 1990 die Aufgabe, eine souveräne tschetschenische Republik zu bilden. Auf staatlicher Ebene sollte Tschetschenien den Unionsrepubliken gleichgestellt werden. Von diesem Standpunkt aus erklärt sich die Ispolkom, die Leitung des Nationalkongresses, bereit Verträge mit der RSFSR einzugehen. Die selbst gesetzte Aufgabe der Ispolkom war es, diese Souveränität zu implementieren und die tschetschenische Sprache und Kultur fördern. Defacto hatte sich damit aber eine Gegenregierung zum Obersten Sowjet gebildet.[12]

Zum Vorsitzenden des Nationalkongress wurde der sowjetische General Dshocha Dudaev gewählt. Man entschloss sich für ihn, weil er einerseits durch seine Stellung in der Armee ein hohes Ansehen in Tschetschenien besaß und andererseits einigte man sich auf ihn, weil er lange Zeit nicht in Tschetschenien war und keine Verbindungen zu den führenden politischen Gruppen hatte[13]. Man hatte also eine Symbolfigur gefunden, derer man sich bedienen zu können glaubte. In seiner politischen Arbeit wendete sich Dudaev fortan gegen den von Zavgaev geführten Obersten Sowjet.[14]

3.2. Die Folgen des Augustputsches in Tschetschenien

Als im August 1991 der Putschversuch gegen Gorbatschow stattfand, befand sich Zavgaev in Moskau, wo er, Spannungen in seiner Republik befürchtend, blieb. Sein Vertreter in Grosny tauchte aus den gleichen Befürchtungen unter und schmälerte dadurch den Einfluss des tschetschenischen Obersten Sowjets. Dudaev indes nutzte seine Chance und organisierte Demonstrationen für Jelzin. Als Kommunistenführer Zavgaev nach dem Ende des Putsches nach Grosny zurückkehrte und den Obersten Sowjet der Republik einberief, beschuldigte Dudaev ihn und seine Administration öffentlich der Feigheit. In der Folge begann eine Reihe größerer Demonstrationen gegen den Obersten Sowjet in Grosny.[15] Wegen seiner Haltung im Augustputsch wurde der Oberste Sowjet von Moskau aus abgesetzt und durch einen provisorischen Oberster Sowjet abgelöst. Zugleich wurden aber im Obersten Sowjet der RF erste Befürchtungen laut, Tschetschenien könne sich von Russland lösen. Ursache dafür war, dass sich die Ispolkom nicht an Neuwahlen beteiligen wollte. Die Ispolkom lehnte eine Bevormundung durch Moskau ab und Dudaev setzte eigene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen für den 27.10.91 an.[16] Diese Entwicklung drohte im folgendem zu einem ernsthaftem Problem für Tschetschenien zu werden. Eine militärische Intervention war für Tschetschenien nicht mehr auszuschließen.

Im Oktober 1991 kam es in Grosny zu Unruhen. Ausgelöst durch die Befürchtung, dass ein vom KGB gesteuerter Putsch gegen Dudaev geführt werden sollte, wurde das KGB-Gebäude in Grosny von der Nationalgarde besetzt.[17] Dies wurde von der RF als Akt der Aggression eingestuft, dennoch kam der Vizepräsident der RF Aleksandr Rutskoi mit einer Delegation nach Grosny und traf mit den Vertretern beider Parteien zusammen. Nach seiner Rückkehr nach Moskau, verkündete Aleksandr Rutskoi, dass die Ispolkom ihre Arbeit einzustellen habe und die Nationalgarde bis zum 10.10. zu entwaffnen sei. Dies verstand Dudaev als Kriegserklärung und verkündete die Generalmobilmachung. Er warnte die Bevölkerung vor einem drohenden Krieg und beschwor eine Fortführung des russischen Genozids an dem tschetschenischem Volk. Rutskoi droht daraufhin mit dem Einsatz von Truppen des Innenministeriums, um die dortigen Russen und Tschetschenen vor dieser „illegalen Bande von Terroristen“ zu schützen[18]. Jelzin schloss sich dieser Forderung an und forderte Dudaev auf, seine Anhänger entwaffnen zu lassen, anderenfalls würden Maßnahmen zur Wiederherstellung der Verfassungsordnung unternommen.

Trotz aller Drohungen wurde Dudaev am 27.10. mit 85% der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Potentielle Gegenkandidaten zogen ihre Kandidatur im Vorfeld der Wahl zurück, weil abzusehen war, dass Dudaev die Wahl gewinnen würde. Unabhängige Beobachter waren bei der Wahl nicht zugelassen. Es wird nicht ausgeschlossen, dass es zu Wahlfälschungen kam, aber die Popularität Dudaevs lässt den Rückschluss zu, dass er mit ausreichend Stimmen zum legitimen Präsidenten Tschetscheniens gewählt wurde.[19] Im Anschluss an die Präsidentschaftswahl verkündete Dudaev die Unabhängigkeit Tschetscheniens. Russland weigerte sich jedoch, sowohl die Wahlen in Tschetschenien als auch die Souveränitätserklärung anzuerkennen, da beide ungesetzlich und nicht verfassungskonform seien.

[...]


[1] RSFSR – Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik.

[2] Vgl. Laninger 1998, S.14.

[3] Vgl. Götz/Halbach 1994, S. 15.

[4] Vgl. ebd.

[5] Seit 1988 kam es im Transkaukasus zu Kämpfen zwischen Armenien und Aserbaidschan, um die Enklave Nagornyj-Karabach. Das südossetische Gebiet in Georgien erstrebt einen Zusammenschluß mit Nordossetien. Die Abspaltung Transnistriens von der Republik Moldawien führt zu Konflikten, mit den dort lebenden russischen Staatsangehörigen. In Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan und Tuwa entwickeln sich Krisen, die zu Ausschreitungen und Konflikten führen. Vgl. „Informationen zur politischen Bildung“ (IzpB), 1995, S.14-47.

[6] Vgl. Dunlop 1998, S. 90-92.

[7] Vgl. Dunlop 1998, S. 91.

[8] Vgl. Soldner 1999, S. 91.

[9] Vgl. Dunlop 1998, S. 94.

[10] Vgl. Soldner 1999, S. 97.

[11] Jelzin wurde in Folge „vorgeworfen“ seine zu diesem Zeitpunkt bestehende Popularität nicht genügend ausgenutzt zu haben, um mittels neu angesetzter Wahlen, eine gestärkte Legitimation zu bekommen.

[12] Vgl. Dunlop 1998, S. 103f.

[13] Vgl. Dunlop 1998, S. 97ff. Als Luftwaffengeneral befehligte er einen Luftwaffenstützpunkt in Estland und verfolgte den Unabhängigkeitskampf der Esten. Er erlaubte das Hissen der estnischen Flagge auf dem Stützpunkt, was als erster Ausdruck seiner Sympathie für separatistische Bewegungen gewertet wird (vgl O´Ballance 1997, S. 165 f).

[14] Vgl. Dunlop 1998, S. 103f.

[15] Vgl. O´Ballance 1997, S. 166 ff.

[16] Vgl. Dunlop 1998, S. 115.

[17] Vgl. Dunlop 1998, S. 112f.

[18] Vgl. Dunlop 1998, S. 109-112.

[19] Vgl. Soldner 1999 S. 100.

Excerpt out of 20 pages

Details

Title
Wie entstand der Krieg in Tschetschenien?
College
Humboldt-University of Berlin
Course
Das politische System Russlands
Grade
1,7
Author
Year
2002
Pages
20
Catalog Number
V87820
ISBN (eBook)
9783638033855
ISBN (Book)
9783656734895
File size
469 KB
Language
German
Keywords
Krieg, Tschetschenien, System, Russlands
Quote paper
M. A. Martin Hagemeier (Author), 2002, Wie entstand der Krieg in Tschetschenien?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87820

Comments

  • No comments yet.
Look inside the ebook
Title: Wie entstand der Krieg in Tschetschenien?



Upload papers

Your term paper / thesis:

- Publication as eBook and book
- High royalties for the sales
- Completely free - with ISBN
- It only takes five minutes
- Every paper finds readers

Publish now - it's free