Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit soll die Untersuchung der Einflüsse der traditionellen europäischen Kunstmusik auf das sinfonische und konzertante Schaffen Gershwins stehen. Inwieweit folgt der Komponist den Traditionen der gewählten Gattungen? Welche Kenntnis hatte Gershwin überhaupt von der europäischen Kunstmusik? Und wie verbinden sich diese Vorstellungen mit der Ideologie des Musical Americanism in seinen Werken? Es soll versucht werden, ausgehend von der musikalischen Analyse der Werke Rhapsody in Blue, Concerto in F, und An American in Paris und unter Zuhilfenahme überlieferter Zitate sowie biografischen Materials, das Verhältnis des Komponisten zur europäischen Musiktradition einerseits und der amerikanischen Identität andererseits herauszustellen.
Inhalt
Einleitung
1. Einführende Betrachtungen
1.1. Der Weg in die Abhängigkeit: Kunstmusik in Amerika von den Anfängen bis zum Bürgerkrieg
1.2. Amerikanische Volksmusik
1.3. Europäisch geschulte Technik ohne Innovation: Kunstmusik in Amerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
1.4. Die Entstehung des Jazz
1.5. New York in den 1920ern
1.6. Musical Americanism – die Suche nach einer nationalen Musikästhetik
1.7. Musikalische Strömungen zwischen den Weltkriegen
1.7.1. Europäische Emigranten und Amerikanische Moderne
1.7.2. Die kunstmusikalische Rezeption des Jazz in Europa zu Lebzeiten Gershwins
2. George Gershwin – musikalischer Werdegang
3. Werke
3.1. Rhapsodie: Rhapsody in Blue
3.1.1. Gattungsbezüge
3.1.2. Form
3.1.3. Thematisch-motivische Arbeit
3.1.3.1. Die vier Themen
3.1.3.2. Grundmotiv, Sequenzbildung, klassisch-romantische und jazzige Elemente
3.2. Klavierkonzert: Concerto in F
3.2.1. Ausgangssituation und Entstehung
3.2.2. Gattungsgeschichtlicher Abriss und mögliche Vorbilder
3.2.3. Form
3.2.4. Thematisch-motivische Arbeit
3.2.4.1. Der erste Satz- grundlegende motivische Arbeit und die Themen A und B
3.2.4.2. Der zweite Satz – Thema C und D und das Blues-Band
3.2.4.3. Der dritte Satz – Thema E, Hilfsgedanke mit Fugato, Rückblicke
3.2.5. Europäisch-traditionelle Elemente
3.3. Sinfonische Dichtung: An American in Paris
3.3.1. Voraussetzungen und die Gattungsidee nach Liszt
3.3.2. Die Sinfonische Dichtung um die Jahrhundertwende in Europa
3.3.3. An American in Paris: Form
3.3.4. “In the manner of Debussy and the Six”?
3.3.5. Besondere Stellung der Komposition
3.3.6. Analyse
3.3.6.1. Erster Teil - Paris
3.3.6.2. Zweiter Teil – Amerika
3.3.6.3. Dritter Teil – Resümee
4. Ergebnisse
Literaturverzeichnis
Musikalien
Schrifttum
Tabellenverzeichnis
Aufbau Rhapsody in Blue
Motivverteilung Fugato Concerto in F
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Einleitung
Am 12. Februar 1924 wurde New York Schauplatz eines besonderen Konzertereignisses. Paul Whiteman (1890-1967), Dirigent eines populären Showorchesters der Zeit, hatte einen Konzertabend organisiert, der in der New York Herald Tribune als ‚Experiment in Modern Music’ angekündigt wurde.[1] Was ist amerikanische Musik? – die Beantwortung dieser Frage sollte dem Publikum und einem für den Abend bestimmten Kritiker-Komitee durch ein Programm erleichtert werden, das in durchaus didaktischer Absicht Entwicklungen der Jazz- und Unterhaltungsmusik der letzen Jahre aufführen und dann mögliche neue Wege einer amerikanischen Kunstmusik unter Berücksichtigung dieses popularmusikalischen Materials präsentieren sollte. Ausgang für diese Bemühungen war eine Kunstmusik in Amerika, die sich bis dato fast ausschließlich am Vorbild Europas orientiert hatte. Mit dem durch den wirtschaftlichen Aufschwung erstarkten Selbstbewusstsein des Landes war das Bedürfnis nach einer unabhängigen, genuin amerikanischen Kunstmusik immer größer geworden. Da die Musik der so genannten ultramodernen Komponisten jedoch für die an der traditionellen europäischen Ästhetik geschulten Ohren der Meisten zu experimentell klang, schien es eine interessante Alternative, das von Vielen als originär amerikanisch empfundene Idiom des Jazz (über die Schwierigkeiten bezüglich des zeitgenössischen Bedeutungsrahmens dieses Begriffs wird noch zu sprechen sein) als nationale Zutat in eine klassizistische Kunstmusik einzubinden. Dementsprechend war das Programm des Abends geprägt von der Begegnung zwischen Kunstmusik und einer vom Jazz inspirierten Unterhaltungsmusik. Auch wenn die kulturwissenschaftliche Zielsetzung Whitemans bei der Gestaltung des Abends umstritten ist[2], fand die Idee auch in Fachkreisen höchste Beachtung. So waren unter den Zuhörern viele namhafte Persönlichkeiten, wie z. B. die Komponisten Sergei Rachmaninow (1873-1943) und Ernest Bloch (1880-1959), die Opernsängerin Alma Gluck (1884-1938), und der Pianist Leopold Godowsky (1870-1938).
Nahezu alle an diesem Abend präsentierten Stücke sind heute in Vergessenheit geraten. Ein Beitrag stach jedoch aus dem übrigen Programm hervor, setzte eine rege Diskussion über das Verhältnis von Jazz und Kunstmusik in Gang, und machte seinen Komponisten reich und weltberühmt. Die Rede ist von George Gershwin (1898-1937) und seiner Rhapsody in Blue. Gershwin ist zu diesem Zeitpunkt als Komponist von Musicalmelodien bekannt, die Rhapsody ist sein erstes Werk im Bereich der sinfonischen Musik. Während der Komponist zu seinem Beitrag für das Whitemankonzert noch nahezu gedrängt wurde, findet er – ermutigt durch den Erfolg der Rhapsody in Blue – schließlich doch Gefallen an der Idee, eine amerikanische Kunstmusiktradition auf den Pfeilern des Jazz zu begründen. So setzt sich die Reihe der kunstmusikalischen Kompositionen parallel zum popularmusikalischen Schaffen Gershwins über weitere neun Beiträge bis zu seinem frühen Tod fort.
Für die im 19. Jahrhundert in Amerika aufkommende Ideologie einer spezifisch amerikanischen Kunstmusik prägte Barbara Zuck den Begriff Musical Americanism. Mögliche Quellen für eine solche Nationalmusik wurden (dem Beispiel einiger osteuropäischer Länder folgend) in den verschiedenen Volksmusiken des Landes gesucht. Die Einbeziehung des Jazz erscheint somit schlüssig. Bemerkenswert ist allerdings der Umstand, dass das Ziel dieser Bemühungen eine Kunstmusik nach europäischem Vorbild sein sollte. In der Gattungswahl Gershwins spiegelt sich dieser Anspruch wieder. Nach der Rhapsody in Blue entstehen weiterhin ein Klavierkonzert, Preludes für Klavier, eine sinfonische Dichtung, eine weitere Rhapsodie, eine Konzertouvertüre, eine Liedersammlung, Variationen, und letztendlich eine Oper. In dieser Werkreihe ist nahezu der gesamte traditionelle Gattungskanon der europäischen Kunstmusik zusammengefasst. Außer der Rhapsodie ist allerdings jede Gattung mit nur einem Werk bedacht. So scheint es, als ob Gershwin jeder traditionsreichen europäischen Gattung einen ‚amerikanischen’ Beitrag hinzufügen wollte. Lediglich die große Form der Sinfonie wird durch die in der Romantik entstandene freiere Form der sinfonischen Dichtung vertreten. Außer Oper und Klavierkonzert stehen generell die in der Romantik besonders gebrauchten Formen im Mittelpunkt, also jene Musik der aus Gershwins Sicht unmittelbar vergangenen Epoche. Umso interessanter wirken Gershwins Ambitionen, wenn man sich die zeitgleich stattfindende Jazz-Begeisterung europäischer Komponisten vor Augen hält. Während jene versuchen, sich von der Last der Tradition zu befreien indem sie einem verknöcherten, elitären Kunstverständnis das vermeintlich Urwüchsige einer Volksmusik wie dem Jazz entgegensetzen, bemüht sich dieser darum, den Jazz in die Sphäre einer hohen Kunstmusik nach klassisch-romantischem Vorbild zu erheben.
Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit soll die Untersuchung der Einflüsse der traditionellen europäischen Kunstmusik auf das sinfonische und konzertante Schaffen Gershwins stehen. Inwieweit folgt der Komponist den Traditionen der gewählten Gattungen? Welche Kenntnis hatte Gershwin überhaupt von der europäischen Kunstmusik? Und wie verbinden sich diese Vorstellungen mit der Ideologie des Musical Americanism in seinen Werken? Es soll versucht werden, ausgehend von der musikalischen Analyse der Werke Rhapsody in Blue, Concerto in F, und An American in Paris und unter Zuhilfenahme überlieferter Zitate sowie biografischen Materials, das Verhältnis des Komponisten zur europäischen Musiktradition einerseits und der amerikanischen Identität andererseits herauszustellen. Dabei ist die Position Gershwins im erwähnten zeitgeschichtlichen Kontext von besonderem Interesse, bestimmt von den Dualismen Amerika-Europa und Kunstmusik-Popularmusik. Nach Wissen der Verfasserin fand der so gewählte Gegenstand innerhalb der wenigen Untersuchungen zu Gershwins Kunstmusik noch nicht ausführlich Beachtung.[3] Musikwissenschaftliche Analysen zu Gershwins Kunstmusik finden sich meist im Rahmen von Aufsätzen, die sich um eine Rehabilitierung der kunstmusikalischen Kompositionskünste des Komponisten bemühen. So nennt Steven E. Gilbert seinen Artikel im Musical Quarterly bezeichnend Gershwins Art of Counterpoint; es handelt sich dabei um eine dem analytischen Ansatz von Heinrich Schenker folgende Auseinandersetzung mit den Werken Rhapsody in Blue, Concerto in F, American in Paris und den Variations on I got Rhythm. In der Monografie The music of Gershwin weitet Gilbert seine Analysen auf das gesamte popular- und kunstmusikalische Schaffen Gershwins aus, um den Ursprung der Popularität gershwinscher Melodien zu erforschen. „Nobody dislikes a Gershwin tune. This fact, more than any other, is the motivation behind the attempts in this book to discern and delineate those structural traits that make the melodies of George Gershwin memorable.”[4] Larry Starr beschäftigt sich in seinem Artikel Musings on “Nice Gershwin Tunes”, Form, and Harmony in the Concert Music of Gershwin ebenfalls mit der Frage, was es mit den vielfach gelobten Melodien speziell in der Kunstmusik Gershwins (im Beispiel an Rhapsody in Blue und An American in Paris) auf sich hat. Er kommt allerdings zu dem Schluss, dass sich die Themen der kunstmusikalischen Werke durchaus von den Melodien der Gershwinsongs bezüglich Geschlossenheit und Singbarkeit unterscheiden. Damit widerspricht Starr dem vielfach gemachten Vorwurf, Gershwins kunstmusikalische Werke wären eine bloße Aneinanderreihung von gefälligen Melodien. Anlässlich der 1952 durch die Mutter des Komponisten initiierten Übergabe des Gershwin-Nachlasses an die Library of Congress erschienen die beiden Artikel von Frank C. Campbell, die sich keiner bestimmten Fragenstellung widmen, sondern dem Leser einen Überblick über das kunstmusikalische Schaffen Gershwins geben sollen. Die einzige Monografie zu einem kunstmusikalischen Werk Gershwins liegt mit David Schiffs Rhapsody in Blue vor. Neben einer ausführlichen Analyse setzt sich der Autor auch kritisch mit der Werkgeschichte nebst den Beziehungen zwischen afroamerikanischer, jüdischer und europäisch orientierter, weißer Kunstmusik in Amerika auseinander. Das Verhältnis Gershwins zur europäischen Kunstmusik wird jedoch nur sehr kurz angesprochen. Peter W. Schatt widmet in seinem Buch Jazz in der Kunstmusik. Studien zur Funktion afro-amerikanischer Musik in Kompositionen des 20. Jahrhunderts ein Kapitel George Gershwin und setzt sich analytisch besonders mit der Rhapsody in Blue auseinander, doch auch das Conerto in F und An American in Paris finden Beachtung. Dabei geht Schatt auch auf den Umgang Gershwins mit der europäischen Musiktradition ein. Was an dortiger Stelle ansatzweise Beachtung findet, soll hier intensiver studiert werden. Als Hauptquelle zur Thematik des Musical Americanism ist A History of Musical Americanism von Barbara Zuck zu nennen.
Zur Klärung des zeitgeschichtlichen Rahmens geht der analytischen Arbeit ein einführender Teil voraus. Nach Betrachtung der Entwicklungen von Kunstmusik und Gebrauchsmusik in Amerika dient es ebenso dem besseren Verständnis des Folgenden, wenn der Entstehung des Jazz ein weiterer Abschnitt gewidmet ist. Mit der Schilderung New Yorks in den 1920er Jahren grenzt sich die Betrachtung auf das unmittelbare Umfeld Gershwins ein. Erläuterungen zur Entstehung des Musical Americanism, die Schilderung der zeitgenössischen musikalischen Strömungen in Europa und Amerika, und ein Überblick über die Verwendung des Jazz im Werk europäischer Komponisten runden diesen einführenden Teil ab. Mit der Schilderung von Leben und musikalischem Werdegang George Gershwins beginnt der zweite Teil der Arbeit. Es folgen dann die Analysen der drei Werke Rhapsody in Blue, Concerto in F und An American in Paris.
Wie im Titel der Arbeit bemerkt, handelt es sich hierbei um Studien – die Auswahl der untersuchten Werke ist somit exemplarisch. Sie rechtfertigt sich zum einen durch den begrenzten Rahmen der Untersuchung. Zugunsten einer intensiven Durchleuchtung des einzelnen Werks wurde die Anzahl auf drei Stücke begrenzt. Wie bereits erwähnt, finden sich im Oeuvre Gershwins noch weitere europäisch-traditionelle Gattungen der sinfonischen und konzertanten Art. So wäre die vorliegende Arbeit auch anhand der Cuban Ouverture, den Variations on I got Rhythm, den Preludes oder der Second Rhapsody denkbar gewesen. Die Entscheidung für Rhapsodie, Klavierkonzert und Sinfonische Dichtung, wurde jedoch auch durch die Quellenlage bestimmt. So sind Editionen der Cuban Ouverture und der Second Rhapsody momentan nicht erhältlich. Darüber hinaus zeichnet sich jedes der ausgewählten Werke auf spezielle Weise aus. Die Rhapsody in Blue ist als Erstlingswerk und aufgrund ihrer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Thematik des Musical Americanism stehenden Entstehungsgeschichte an sich von Interesse; auch steht die Form der Rhapsody traditionell in enger Verbindung mit der nationalen Identitätssuche. Darüber hinaus hat Gershwin einzig diese Form mit zwei Beiträgen bedacht. Das Concerto in F ist das erste selbst instrumentierte Werk Gershwins; es ist gleichzeitig auch das umfassendste (die Oper ausgeschlossen). Zudem handelt es sich beim Klavierkonzert um eine besonders traditionsreiche Gattung, deren Blütezeit jedoch zur Entstehungszeit des Concerto in F bereits vorbei war. Mit der sinfonischen Dichtung (oder auch ‚Tone Poem’) An American in Paris löst sich Gershwin das erste Mal von ‚seinem’ Instrument, dem Klavier. Darüber hinaus steht das von der Parisreise des Komponisten inspirierte Stück in einzigartigem Kontext zu Gershwins transatlantischen Beziehungen.
Die Form der musikalischen Analyse folgt keinem einheitlichen Schema, sondern versucht vielmehr, den Eigenheiten jedes einzelnen Stückes bzw. Satzes gerecht zu werden.
1. Einführende Betrachtungen
1.1. Der Weg in die Abhängigkeit: Kunstmusik in Amerika von den Anfängen bis zum Bürgerkrieg
Die USA sind ein vergleichsweise junges Land, dessen Ureinwohner nach der Entdeckung durch die Europäer sehr bald die Minderheit stellten. Die regelrechte Überschwemmung der neuen Welt durch europäische Aussiedler und Pilger resultierte in einer Betonung der europäischen ‚Hochkultur’ und der Nichtbeachtung der bereits im Land existenten Kulturen wie jene der diversen Indianerstämme. Es ist davon auszugehen, dass die ersten Pilger Amerikas vor allem Liedgut aus dem Bereich der Gebrauchsmusik aus ihrer früheren Heimat mitbrachten. Da diese Alltagsmusik nicht schriftlich fixiert wurde, kann ihr genauer Klang heute nicht mehr nachvollzogen werden; jedoch bezeugen zeitgenössische Darstellungen ihre Existenz. Eine kunstmusikalische Entwicklung lässt sich hingegen erst mit der ersten neuenglischen Schule (ca. 1620–1820) beobachten. Es handelt sich hierbei um so genannte Singschulen, deren Komponisten speziell Werke für den sakralen Bereich wie Psalmen und Hymnen verfassten. Als einer der herausragenden Vertreter sei William Billings (1746–1800) genannt. Er lebte und wirkte in Boston, dem Zentrum der neuenglischen Schule. Aus den wenigen überlieferten Werken dieser Epoche lässt sich erkennen, dass es sich hierbei um einen – am europäischen Standard der Zeit gemessen – recht eigenständigen Kompositionsstil handelt, gekennzeichnet durch „ ... a massive texture of close-position chords ...“[5].
Parallel zur musikgeschichtlichen Entwicklungen in Europa lässt sich mit der Mid-Atlantic Genteel Tradition (Struble) eine vermehrte Loslösung von der Vokalmusik hin zur Instrumentalmusik beobachten. In der Musik dieser etwa 1765-1875 bestehenden Strömung zeigt sich die räumliche und politische Nähe der an der Antlantikküste gelegenen englischen Kolonien zu ihrem Mutterland. Komponisten wie Francis Hopkinson (1737-1791) und Alexander Reinagle (1756-1809) verfassten Instrumentalwerke, die somit eher durch die ihnen zu Grunde gelegten patriotischen Topoi, als durch etwaige kompositorische Innovationen im Gedächtnis blieben. Institutionell wurde die kulturelle Bindung zum europäischen Festland darüber hinaus durch den bostoner Komponist Lowell Mason (1792-1872) verstärkt, der nicht zuletzt durch sein Engagement für die Aufnahme eines europäisch orientierten Musikunterrichts in den Lehrplan der amerikanischen Schulen die Verbreitung europäischer Konzertmusik in der neuen Welt förderte. So entwickelte sich in der amerikanischen Kunstmusik allmählich eine Überorientierung am europäischen Vorbild, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der nahezu verzweifelten Suche nach einer eigenen, amerikanischen Musiksprache gipfeln sollte: „ ...the damage was done, and the pervasive influence of European music dominated the cultivated musical circles of New York, Boston and Philadelphia throughout the 19th century and well into the 20th.”[6].
1.2. Amerikanische Volksmusik
Im Bereich der Volksmusik kann man dann von einer genuin amerikanischen Musik sprechen, wenn man die von den ersten europäischen Siedlern ins Land importierte Kultur als Grundlage einer Solchen definiert. Von den Geschehnissen an der Atlantikküste abgeschnitten, konnten so zum Beispiel die Folk-Balladen der irischen und schottischen Siedler, die sich in Appalachia und dem Mississippi-Tal niedergelassen hatten, bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs ohne Fremdeinflüsse überleben. Während des Bürgerkriegs (1861-1865) vermischten sie sich mit Balladen und Hymnen aus anderen Teilen Amerikas, und als sich mit Ende des Krieges und der Abschaffung der Sklaverei auch die vormals vielfach unterdrückte afroamerikanische Musikkultur frei entfalten konnte, war durch diese zusätzlichen Einflüsse der Grundstein für die noch heute gepflegten Musikstile Bluegrass und Country/Western gelegt – einer Musik, die heute zweifelsohne als ‚typisch amerikanisch’ angesehen wird, deren Einfluss auf die Kunstmusik jedoch marginal ist.
Versteht man unter ‚amerikanischer Volksmusik’ hingegen jene Musik, die auf dem nordamerikanischen Kontinent die längste Tradition aufweist, so muss man den Blick von den europäischen Siedlern abwenden. Der seit dem 16. Jahrhundert geführte Holocaust gegen die indianischen Stämme Nordamerikas blockierte bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Untersuchung der Musik der Ureinwohner Amerikas. Es handelt sich hierbei um eine oral tradierte, eng mit dem jeweiligen Stammesleben verbundene Gebrauchsmusik, deren Lieder besonders zur Meditation während religiöser Riten zum Einsatz kamen. Im Gegensatz zur – ebenfalls aus Stammesriten geborenen – musikalischen Tradition der als Sklaven deportierten Afrikaner, fand die Musik der amerikanischen Ureinwohner jedoch nur wenig Beachtung in der Kunstmusik. Dies liegt sicherlich zum einen an bereits erwähnter mangelnder Kenntnis und Beachtung durch die neu entstandene amerikanische Gesellschaft. Struble weist außerdem darauf hin, dass die so genannte ‚Call-and-Response‘ Praxis in den Liedern der afrikanischen Musiktradition der Psalmen-Praxis der neuenglischen Schule ähnelt und daher bereits Gemeinsamkeiten als Ansatzpunkt für eine Vermischung existierten.[7]
1.3. Europäisch geschulte Technik ohne Innovation: Kunstmusik in Amerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Während über Jahrhunderte hinweg europäisch geprägte Kunstmusik, Gebrauchsmusik der unterschiedlichen Siedlergruppen und indianische Volksmusik in den Weiten des Landes verteilt unabhängig voneinander existierten, fand durch den amerikanischen Bürgerkrieg erstmals ein breiter kultureller Austausch statt. In der Armee trafen Soldaten aus den entlegendsten Teilen des Landes zusammen. In den Schützengräben vermischten sich die Volkslieder der unterschiedlichen kulturellen Gruppen miteinander, und das so neu entstandene Einheitsgefühl und die Sehnsucht nach Heimat schlugen sich in Form einer ‚sentimentalen Romantik’ (Struble) auch in der Kunstmusik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nieder. Die zweite neuenglische Schule (auch Bostoner Schule genannt, ca. 1865-1900) markiert einen neuen Status der amerikanischen Komponisten. Man kann sagen, dass erst diese Komponistengeneration sowohl in ihrem eigenen Land als auch in Europa ernsthaft akzeptiert wurde. Gefördert wurde dieser Umstand durch die neue ökonomische und soziale Stellung Amerikas gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Mit der zunehmenden Schätzung ernster Musik, die allmählich auch einen Platz an den Hochschulen des Landes erhielt, hatten sich die Bedingungen für professionelle Musiker und Komponisten verbessert. John Knowles Paine (1839-1906) wurde der erste Musikdozent des Harvard College. Dieser der neuenglischen Schule unmittelbar vorangehende Komponist überzeugte durch ausgezeichnete technische Fertigkeiten in Komposition und Orgelspiel. Seine Ausbildung erfuhr er – wie nahezu alle seiner Nachfolger – in Europa. Auch wenn Paines Werke (darunter symphonische Gedichte, ein Oratorium, eine Oper, Sinfonien, Chor- und Kammermusik, Kantaten und Klaviersonaten) wenig musikalische Innovation aufweisen, so ist doch zu bemerken, dass sie zu Lebzeiten des Komponisten regelmäßig gespielt wurden; herausragend ist dabei die Aufführung seines Werkes Centennial Hymn zum hundertsten Jahrestag der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1876 in Philadelphia. Dass zu eben diesem Anlass auch eine Komposition Richard Wagners, der Centennial March, gespielt wurde, zeigt sowohl die neue Aufmerksamkeit für amerikanische Komponisten wie auch die immer noch dominierende Stellung europäischer Musik. Jene Komponistengeneration, die Paine folgte – darunter auch einige seiner Schüler – konnte unter bereits deutlich freundlicheren Bedingungen wirken: „Before Paine, a serious American composer was seen as a cultural oddity; after him, they became the subjects of intense interest and pride.“[8]
Zwar hatte mit den Komponisten der neuenglischen Schule die amerikanische ernste Musik erstmals einen Platz im internationalen Musikgeschehen gefunden, jedoch war dies mit einer Europäisierung der Musik einhergegangen, und Versuche, eigene Wege zu gehen, waren erfolglos geblieben. Die bekanntesten Vertreter dieser Generation sind: Horatio Parker (1863-1919), George Whitefield Chadwick (1854-1931), Arthur Foote (1853-1937), Arthur Whiting (1861-1936) und – als erste bedeutende Komponistin Amerikas – Amy Cheney Beach (1867-1944). Aaron Copland (1900-1990), selbst amerikanischer Komponist der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, beklagt die innovationslose Kopie der europäischen Vorbilder durch die Komponisten der neuenglischen Schule: „Will man Brahms oder Wagner mit ihren eigenen Waffen schlagen, so ist einem die Niederlage gewiss.“[9] Copland zufolge konnten die nachfolgenden Generationen daher auch wenig von den Erfolgen der neuenglischen Schule profitieren, allerdings betont er die exzellenten technischen Fertigkeiten, die diese Komponisten an ihre Schüler weitervermitteln konnten.[10]
Ein Zeitgenosse der neuenglischen Schule, der jedoch aufgrund seiner Authentizität eine herausragende Position einnimmt, ist Edward MacDowell (1861-1908). Auch MacDowell erfuhr seine musikalische Ausbildung in Europa; er blieb darüber hinaus für insgesamt zwölf Jahre in Frankreich und Deutschland, bevor er nach Amerika zurückkehrte. Dennoch schaffte es MacDowell, die Erfahrungen in Europa in einen eigenen Stil zu verarbeiten und in seiner Heimat besonders durch Lieder und kurze Charakterstücke für Klavier zu Ehren zu kommen. Durch seine „ ... Sensibilität, seine Poesie und sein ganz spezielles Gespür für harmonische Wendungen“[11] war MacDowell der einzige Komponist seiner Generation, dessen Werke nachhaltig im Gedächtnis blieben: „ ... [wir] kannten (...) um 1925 herum MacDowells Musik besser als jede andere amerikanische Musik“[12].
1.4. Die Entstehung des Jazz
Mit dem Begriff Jazz ist viel Verwirrung verbunden, da er zu Beginn des 20. Jahrhunderts für mehrere verschiedene Dinge verwendet wurde. In Anbetracht der erst jungen Geschichte dieser neuen Musik, die sich aus vielen Einflüssen speist, und sich in den 20er Jahren noch in einer sehr frühen Entwicklungsphase befindet, ist dies leicht nachvollziehbar. Im Folgenden soll daher kurz die nach dem heutigen Stand der Forschung beurteilte Entwicklung der verschiedenen Stile bis in die 1930er Jahre nachgezeichnet werden. Die Rolle des Jazz und seiner Derivate in der Unterhaltungsmusik der 20er Jahre wird im nächsten Kapitel untersucht werden.
Die seit dem 17. Jahrhundert als Sklaven deportierten Afrikaner brachten eine Kultur mit nach Amerika, in der die Musik eine besonders wichtige Stellung einnimmt. Dabei bestimmte die geografische Lage des zukünftigen Aufenthaltsortes schon gewissermaßen im Voraus, in wie weit die zur Arbeit Deportierten ihre Kultur weiter pflegen durften. Die im Norden der USA vorherrschende „ … angelsächsische, puritanisch eingefärbte Denkungsart … “[13] der dortigen Siedler garantierte zwar einen humaneren Umgang mit den Sklaven, jedoch verbot ihr missionarischer Eifer die Pflege der ‚wilden’ und ‚unchristlichen’ Kultur der zu bekehrenden Arbeiter. Im katholisch geprägten Süden hingegen wurden die rituellen Aktivitäten der Schwarzen eher akzeptiert und so konnte sich hier jene Akkulturation von christlicher und afrikanischer Kultur vollziehen, die musikalische Formen wie das Ring Shout, den Field Holler, das Spiritual und den Blues hervorbrachte. Diese Stile sind bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nachweisbar. Der für die Musik Gershwins bedeutsame Ragtime (ragged time = zerissene Zeit) wurde in besonderem Maße ab etwa 1890 durch den in Sedalia (Missouri) lebenden Komponisten-Pianisten Scott Joplin (1867(?)-1917) geprägt. Es handelt sich hierbei um eine komponierte, stark von der europäischen Klaviermusik der Romantik beeinflusste Musikrichtung in afroamerikanischem, synkopiertem Rhythmus, oder wie Joachim Berendt es formuliert: „Weiße Musik – schwarz gespielt“[14]. Von den etwa 600 komponierten ‚Rags’ Joplins sind noch heute besonders der Maple Leaf Rag (1899) und The Entertainer (1902) bekannt. Erst um 1900 beginnt mit dem Komponisten und Orchesterleiter Jelly Roll Morton (1889-1941) in New Orleans die Loslösung von der Komposition und die noch heute mit dem Jazz eng verbundene Tradition der Improvisation. Der so genannte New Orleans Jazz entwickelte sich als eine „ ... Zusammenführung von orchestralem Ragtime mit instrumentalem Blues ... “[15]. Im damaligen Handelszentrum New Orleans traf eine Vielzahl von Kulturen aufeinander: Preußische Marschmusik, puritanische Hymnen und Choräle, die Ring Shouts der Afroamerikaner, französische Ballettmusik, englische Volkslieder und spanische Tänze. Innerhalb der afroamerikanischen Bevölkerung hatten zu Zeiten der Sklaverei die französisch geprägten, in Freiheit lebenden Kreolen, die aufgrund ihrer helleren Hautfarbe und bürgerlichen Lebensart die soziale Oberschicht unter den Farbigen stellten, eine besondere Position inne. Ihre Musiker wurden nach europäischem Standard ausgebildet und sie unterhielten eine eigene Oper und ein Konservatorium. Auch Morton war Kreole, und die Übernahme der in der französischen Musik so beliebten Klarinette in die Jazzmusik geht auf diesen Einfluss zurück. Ebenso kreolisch war der wohl bekannteste amerikanische Komponist des 19. Jahrhunderts, Luis Moreau Gottschalk (1829-1869). Dessen Schaffen hat zwar wenig mit der Entwicklung des Jazz zu tun, dennoch sollte sein Name hier genannt werden, da er sich ebenfalls mit der Einbeziehung volksmusikalischer Quellen in die Kunstmusik befasste. Gottschalk wurde als Sohn einer Kreolin und eines Engländers in New Orleans geboren. Er erhielt seine musikalische Ausbildung in Frankreich und machte als Klaviervirtuose bald Chopin und Liszt Konkurrenz. Durch die Einbindung von karibischer Volksmusik in seine romantischen Klavierwerke tritt er aus dem Kreis seiner komponierenden Zeitgenossen heraus, deren „ … Haltung (…) auf einer derartigen Bewunderung für die europäische Kunstmusik und einer derartigen Identifikation mit ihr [beruhte], dass ihnen jegliches Streben nach einem andersartigen künstlerischen Idiom als Sakrileg erscheinen musste.“[16] Allerdings war die karibische Kultur im restlichen nordamerikanischen Raum zu wenig verbreitet, als dass Gottschalks Beispiel hätte Schule machen können. Auch verhinderte die popularmusikalische Tendenz in Gottschalks Oeuvre eine nachhaltige Beeinflussung seiner Komponistenkollegen. Mit Abschaffung der Sklaverei 1865 verloren die Kreolen zudem ihren besonderen Status und wurden den übrigen Afroamerikanern in der ‚separate-but-equal‘-Doktrin von 1894 – einem Gerichtsbeschluss, der der Rassentrennung in Amerika eine gesetzliche Grundlage gab – gleichgestellt. Damit konnte sich der musikalische Einfluss der ehemals niedriger gestellten Schwarzen verstärken. Besonders im Vergnügungsviertel der Stadt, genannt Storyville, wurden die verschiedensten kulturellen Einflüsse von den afroamerikanischen Musikern adaptiert und es entstand so der New Orleans Jazz. In diesen Stil flossen Ragtime, Blues, Spirituals und Märsche gleichermaßen ein. Dargeboten wurde die Musik von so genannten Combos in der Besetzung Kornett (oder Trompete, Melodie), Klarinette (Gegenmelodie, Verzierungen) und Posaune (Grundtöne, Harmonien) für die Melodie, und Klavier, Banjo, Tuba (oder Bass) und Schlagzeug für den Rhythmus. Charakteristisch ist dabei die Teilung in Melodie- und Rhythmusgruppe, sowie Gruppenimprovisation, synkopierter Rhythmus, und eine unreine, ausdrucksstarke Tonbildung bei den Blasinstrumenten, die ihre Wurzeln im ungenauen Intonieren des Bluesgesanges hat (sog. Blue Notes). Parallel zum afroamerikanischen New Orleans Jazz wurde von weißen Musikern und Bandleadern wie ‚Papa’ Jack Laine (1873-1966) eine ähnliche Musik – Dixiland genannt – etabliert. Diese Bands marschierten oder fuhren auf Wägen durch die Stadt und spielten dabei eine „ … besondere weiße Spielart des New Orleans Jazz (…): weniger ausdrucksvoll, aber dafür technisch versierter. Die Melodien waren glatter, die Harmonien >sauberer<, die Tonbildung nicht so ursprünglich; Schleiftöne, expressives Vibrato, Portamenti und Glissandi traten zurück, und wo all dies gebraucht wurde, gewann es immer ein wenig den Akzent des Bewussten, des So-aber-auch-anders-sein-Könnens, und rückte darüber in die Nähe des exzentrischen Ulks, während bei den schwarzen Bands im lebenslustigen Überschwang wie in der lastenden Blues-Stimmung immer das So-sein-Müssen dahinterstand …“[17]
Mit dem Kriegseintritt der USA 1914 wurde New Orleans zum Kriegshafen und Storyville wurde geschlossen. Viele Musiker waren dadurch arbeitslos geworden. Zusätzlich gab es durch den Krieg in den Industriestädten Nordamerikas einen erhöhten Bedarf an Arbeitskräften. So erhofften sich vor allem viele Schwarze durch die Emigration in den Norden ein besseres Leben. Das Hauptziel jener Zuwanderer aus dem Süden war Chicago. Hier wurde die Musik der aus New Orleans kommenden Gruppen hoch geschätzt und es entstanden erste Plattenaufnahmen. In Chicago entwickelte sich innerhalb der 20er Jahre ein mehr und mehr solistischer Stil. Maßgeblich beteiligt an dieser Entwicklung war der Trompeter Luis Armstrong, der mit seiner Paraphrasen-Technik einen Grundstein für die im späteren Jazz so bedeutende Soloimprovisation legte. Der Chicago Jazz war im Gegensatz zum New Orleans Jazz weniger polyphon gestaltet. Es wurde mehr Wert auf den Wechsel von Soli und homophonen Ensemblepartien gelegt. Außerdem erhielt das im New Orleans Jazz noch verpönte Saxophon Eingang ins Ensemble. Damit war der Grundstein gelegt für den in den 30er Jahren so populären Swing – eine Entwicklung, die am Beispiel der Swing-Ikone Benny Goodman nachvollziehbar ist, dessen Wurzeln ebenfalls im Chicago Jazz liegen. Als sich in den 20er Jahren das kulturelle Leben Amerikas in New York zu konzentrieren begann, verlagerte sich auch das Zentrum des Jazz dorthin.
1.5. New York in den 1920ern
Während die Bedeutung New Yorks vor dem ersten Weltkrieg noch hinter der politischen Hauptstadt Washington, der Intellektuellen-Hochburg und Universitätsstadt Boston und dem kulturellen Zentrum Philadelphia zurückstand, verhalf in den 1920er Jahren eine seit den 1890er Jahren dort ansässig gewordene Unternehmerschicht der Stadt dazu, die kulturelle Hauptstadt des Landes zu werden. Im Gegensatz zu Europa existierte in Amerika kein Fürstenstand, der sich für die Förderung von Kultur im Allgemeinen und Musik im Speziellen einsetzen hätte können, und auch der Staat übernahm diese Aufgabe nicht. Besagte Unternehmerschicht schlüpfte nun jedoch in die Rolle des Mäzens und demonstrierte durch Freigiebigkeit ihr neues Selbstbewusstsein vor dem Besitzbürgertum. Ihr Reichtum floss unter anderem in die Erbauung von Konzerthäusern wie der Metropolitan Opera (1883) und der Carnegie Hall (1891), in denen schon bald die besten Solisten und Dirigenten der Zeit zu sehen waren. Ein weiterer wichtiger Faktor in der Entwicklung New Yorks war die Rolle der Stadt als Auffangbecken für Flüchtlinge aus Europa. Die meisten europäischen Schiffe legten in New York an, und ein Großteil der Einwanderer verzichtete auf eine Weiterreise ins Landesinnere und ließ sich in der Stadt nieder. Es herrschte ein kosmopolitisches Klima. Besonders die Einwanderungswellen der Iren, dann der Juden und schließlich der innerhalb des Landes emigrierenden Schwarzen, befruchteten das musikalische Geschehen New Yorks ungemein. Nach dem ersten Weltkrieg hatte sich die bis dato gehegte Bewunderung für alles Deutsche in ein „hysterisches Hassgefühl“[18] gewandelt, und die seit der Revolution von 1848 hauptsächlich von Deutschen besetzten Plätze im amerikanischen Musikleben waren systematisch geräumt worden. Die Inspiration kam in der Kunstmusik nun aus Frankreich, und im Bereich der Unterhaltungsmusik ging Amerika seinen eigenen Weg, der ihm schon bald selbst die Position eines Vorreiters einbrachte. Gegenüber dem politisch belasteten Deutschland hatte Amerika nun die kulturfreundlicheren Bedingungen zu bieten, und der Gedanke an eine eigene ‚Amerikanische Musik’ nahm mehr und mehr Gestalt an. „Amerika begann sich zum ersten Mal als Weltmacht zu fühlen – damals wurden New York als kulturelle Hauptstadt und die amerikanische Musik als Idee mündig.“[19]
In den 1920er Jahren herrschte in New York ein reges kulturelles Leben, in dem Kunstmusik und populäre Musik nebeneinander existierten. Von der Niederlassung bedeutender Verlagsgesellschaften wie Beer & Schirmer (seit 1861) und Carl Fischer (seit 1872), der neu entstehenden Schallplattenindustrie (RCA Victor, Columbia) und den ersten nationalen Rundfunksendern (National Broadcasting Company seit 1926; Columbia Broadcasting Service seit 1927), profitierten beide Sektoren gleichermaßen. Ein Zentrum der weißen Unterhaltungsmusik war der Broadway mit einer Vielzahl von Musical-Theatergründungen zwischen 1910 und 1930. In Harlem vervierfachte sich in den 20er Jahren der afroamerikanische Bevölkerungsanteil, das Stadtviertel entwickelte sich so zum afroamerikanischen Zentrum. Im wohl berühmtesten Nachtclub der Zeit, dem 1923 eröffnetem Cotton Club, wurde das Klischee des Wilden und Ursprünglichen der ehemaligen Sklaven rassistisch unterfüttert. So waren zwar alle Musiker Afroamerikaner, doch Zutritt wurde nur weißem Publikum gewährt. Dieser Umstand ist beispielhaft für die Jazzrezeption im New York des beginnenden 20. Jahrhunderts. Neben Vertrieb und Management lag zum Großteil auch die Komposition in den Händen der weißen Bevölkerung, allein die Darbietung blieb den Afroamerikanern überlassen. Von den Jazz-Entwicklungen in Chicago zunächst noch unabhängig, hatten sich so in New York bereits eigene, auf die Vorlieben und Bedürfnisse der weißen Bevölkerung abgestimmte, Derivate der afroamerikanischen Musik herausgebildet. Eine bedeutende Position innerhalb dieser Entwicklung nimmt der afroamerikanische Bandleader James Reese Europe (1881-1919) ein. Er gründete 1910 den Clef Club, eine Vereinigung afroamerikanischer Tanzorchester. Am 11.3.1914 trat Europe mit seinem Orchester in der Carnegie Hall auf. Dieses Benefizkonzert brachte viele weiße New Yorker zum ersten Mal in Berührung mit afroamerikanischer Musik. Allerdings handelte es sich hierbei um eine durch ein großes Orchester präsentierte, am Zeitgeschmack orientierte ‚weiße’ Form des Jazz, vergleichbar mit Whitemans späterem Symphonic-Jazz. Als Europe einige Monate später erneut in der Carnegie Hall auftrat, um dieses Mal mit dem National Negro Symphony Orchestra hauptsächlich Spirituals und Plantation-Songs darzubieten, kam diese authentischere Form afroamerikanischer Volksmusik dementsprechend schlechter beim weißen Publikum an. Auch Gershwin wurde von der Musik Europes maßgeblich in seiner Vorstellung von Jazz beeinflusst. „One day (…) while roller-skating in Harlem, he heard jazz music outside the Baron Wilkins Club where Jim Europe and his band performed regularly. The exiting rhythms and raucous tunes made such an impression to him that he never forgot them.”[20] Es ist ebenso Europe, der 1915 den Foxtrott als elegantere (weil halb so schnelle), den keuschen Ansprüchen der weißen Bevölkerung angepasste Alternative zum Ragtime-Tanz entwickelt. Als in den 20er Jahren nach und nach in Konzerten der Musiker aus New Orleans und Chicago die dort entstandene Jazzmusik auch in New York zu hören war, wurden die Unterschiede zur bis dato etablierten Form deutlich, und um den bekannten Stil zu verteidigen, wurde diese neue Musik von vielen als Krach verurteilt.[21]
1.6. Musical Americanism – die Suche nach einer nationalen Musikästhetik
Im Vorangegangenen wurde bereits des Öfteren die Abhängigkeit des amerikanischen Musiklebens von europäischen, speziell deutschen, Vorbildern genannt und auf die hemmende Wirkung dieser Überorientierung an Europa für die Ausbildung einer eigenen, nationalen Musik in Amerika hingewiesen. Das Bedürfnis der Komponisten nach einer eigenen amerikanischen Musiksprache durchzieht die Geschichte der Kunstmusik in Amerika seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ist auch in den 1920er Jahren, die den Hintergrund für die spätere Betrachtung der Werke Gershwins bilden werden, noch deutlich zu spüren.
Der Musical Americanism nimmt seinen Anfang Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit der zunehmenden wirtschaftlichen Entwicklung Nordamerikas bekam auch die Musik erste institutionelle Grundlagen. Nahezu alle neu entstandenen musikalischen Posten wurden jedoch von besser ausgebildeten Europäern besetzt, was den Unmut einheimischer Komponisten zur Folge hatte. Um sich von der europäischen Konkurrenz abheben zu können, wäre eine eigene Musiksprache nötig gewesen. Das wachsende Bedürfnis nach einer solchen eigenen Musiksprache speiste sich gleichermaßen aus romantisch-patriotischen Gefühlen – gemessen am politischen Fortschritt gegenüber Deutschland wurde das bloße Nachahmen deutscher Vorbilder im musikalischen Bereich als unangebracht empfunden. Einer der engagiertesten Wortführer diesbezüglich war der Komponist William Henry Fry (1813-65). In den Vorbemerkungen zu seiner Oper „Leonora“ (1846) bemerkt Fry, dass der Schauplatz des folgenden Werkes nicht Amerika sein könne, da dazu auch eine amerikanische Musik von Nöten wäre und eine derartige Musik nun mal nicht existiere. Der Komponist lässt seine Oper also im Spanien des 16. Jahrhunderts spielen und folgt in der musikalischen Ausarbeitung des Werkes dem damals tonangebenden Vorbild der italienischen Oper. Lediglich in der Wahl des Stoffes versucht Fry neue Wege zu gehen. Vorlage für „Leonora“ ist eine Novelle des englischen Schriftstellers Edward George Earle Lytton Bulwer-Lytton. Wenn Fry die Nichtexistenz einer amerikanischen Musik beklagt, so ist davon auszugehen, dass damit die Abwesenheit einer genuin amerikanischen Kunstmusik gemeint ist. Zuck betont, dass Fry die – sehr wohl existente und ihm auch bekannte - amerikanische Volksmusik für nicht relevant erachtete.
„...the spirituals and folk and camp-meeting hymns of both whites and blacks were current. Black-face minstrelsy was well underway to becoming a nationwide fad, and the genteel parlour song was a staple of the booming sheet music industry. Rather, Fry probably found this music unacceptable as a source.”[22]
Mehr noch als in seinen musikalischen Werken setzte sich Fry jedoch verbal für die Förderung einer unabhängigen amerikanischen Kunst ein:
„It is time we had a Declaration of Independence in Art, and laid a foundation of an American school of Painting, Sculpture, and Music. Until this Declaration of Independence in Art be made – until American composers shall discard their foreign liveries and found an American School – and until the American public shall learn to
support American artists, Art shall not become indigenous to this country.”[23]
Unmut über die zu geringe Präsenz der Werke einheimischer Komponisten in der Konzertkultur seines Vaterlandes empfand auch George Friedrich Bristow (1825-98). Als Mitglied des New York Philharmonic Society Orchestra unterstützte er Frys Protest, auch wenn sich Bristow selbst eher selten öffentlich dazu äußerte. Er war allerdings Mitbegründer der American Music Association – einer von 1856-58 bestehenden Gesellschaft, die sich die Förderung einheimischer Komponisten und derer Werke zur Aufgabe gemacht hatte. In seinen eigenen Werken ist ein deutlicher Wille zur Loslösung von bestehenden (europäischen) Traditionen erkennbar. So hat Bristow mit seiner 1882 uraufgeführten Oper Rip Van Winkle die „… first native-composed grand opera on an American topic” vorgelegt.[24] Die Handlung greift Bilder der zeitgenössischen amerikanischen Alltagswelt auf, und der keinem festen Formprinzip folgende musikalische Ablauf wird durch Duette, einen Soldatenchor und ein Trinklied aufgelockert. Musikalischer Ideenreichtum ohne feste Form – dieser Kritik musste sich später Gershwin häufig stellen; inzwischen wird eben dieser ‚unbeschwerte’ Ansatz häufig als typisch amerikanisch empfunden.
Mit Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs 1861 bricht die mit Fry und Bristow begonnene Linie des Musical Americanism ab; es lässt sich leicht nachvollziehen, dass kulturelle Belange nicht oberste Priorität für ein im Krieg befindliches Land hatten. Zwar wuchs in den vier Jahren des Bürgerkriegs die Anzahl patriotischer (Volks-) Lieder immens, jedoch lässt sich im Bereich der Kunstmusikkomposition – deren Eigenart weniger die Zweckgebundenheit ist – so gut wie keine Aktivität feststellen. Als es nach dem Krieg zur Mode wurde, als amerikanischer Komponist zur Ausbildung nach Europa zu gehen, förderte dies noch die Dominanz der europäischen Kunstmusik im Land, und die Debatte um Art und Notwendigkeit einer speziell amerikanischen Musiksprache entflammte von Neuem. Mit der 1876 gegründeten Music Teachers National Associatio n entstand eine zunächst mit musikpädagogischen Zielen ins Leben gerufene Vereinigung, die jedoch schon bald eine bedeutende Plattform für einheimische Komponisten bot. In den durch die Vereinigung jährlich veranstalteten Konzerten wurden ausschließlich aktuelle amerikanische Kompositionen zu Gehör gebracht, und die schnell wachsende Mitgliederzahl (1884 waren es bereits 575) belegt das Bedürfnis von Komponisten, Lehrern und Musikern nach einer derartigen institutionellen Grundlage. Über 1000 Mitglieder fasste auch die 1889 in New York gegründete Manuscript Society, die sich ebenfalls für die Aufführung amerikanischer Kompositionen einsetzte. Es ist Vereinigungen wie diesen zu verdanken, dass in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die öffentliche Aufmerksamkeit für das Schaffen amerikanischer Komponisten geweckt wurde und somit die Grundlage für eine Diskussion über amerikanische Musik geschaffen war.
Einer der bedeutendsten Denkanstöße in dieser Diskussion wurde interessanterweise durch einen Europäer gegeben: Antonin Dvořák (1841-1904) war 1892 als Lehrer an das National Conservatory of Music of America nach New York gekommen und befruchtete die Diskussion während seines dreijährigen Aufenthalts mit der Idee, Elemente der amerikanischen Volks- und Popularmusik in die Kunstmusik aufzunehmen und somit eine eigene, durch Lokalkolorit eingefärbte Musiksprache zu entwickeln. Beispiel hierfür gab Dvořák in seiner Sinfonie Nr. 9 (Aus der neuen Welt, UA in New York, 1893), in der der Komponist versuchte, Charakteristika indischer und afroamerikanischer Melodien aufzunehmen. Es sei daran erinnert, dass bereits Gottschalk diverse Elemente der amerikanischen Volksmusik in seine Werke mit eingebunden hatte. Jedoch handelte es sich hierbei um einen Komponisten, in dessen Schaffen eine eindeutige Tendenz zur Unterhaltungsmusik erkennbar ist, und dessen Verwendung besagten Materials eher intuitiv denn theoretisch fundiert war. Dvořák war zur Zeit seines Amerikaaufenthalts bereits ein hoch angesehener, europäischer Komponist – dies allein brachte ihm schon Aufmerksamkeit ein, und die Möglichkeit, indianische und afroamerikanische Musik als mögliche Inspiration für die Kunstmusik zu akzeptieren, war in Anbetracht der immensen ethnischen Divergenzen Amerikas eine nahezu revolutionäre Vorstellung. Es wurde bereits erwähnt, dass Komponisten wie Fry diese Quellen als nicht standesgemäß für eine Verwendung in der Kunstmusik erachteten; und auch die Ende des 19. Jahrhunderts wirkenden Komponisten der neuenglischen Schule entstammten durchweg der gehobenen weissen Gesellschaftsschicht, die mit den in Ghettos lebenden Afroamerikanern keinerlei Kontakt pflegte. Nichts desto trotz folgten viele amerikanische Komponisten Dvořáks Aufruf und beschäftigten sich in den folgenden Jahren intensiv mit den volksmusikalischen Quellen Amerikas. Bis in die 20er Jahre des nächsten Jahrhunderts galt dabei das Hauptinteresse der indianischen Musik; bis sich schließlich die afroamerikanische Musikkultur durchsetzte und besonders nachhaltig die amerikanische Popularmusik prägte.
Arthur Farwell (1872-1952) war einer jener Komponisten, die Dvořáks Rat folgten und sich nun verstärkt daran versuchten, amerikanische – speziell indianische – Volksmusikquellen in ihr kunstmusikalisches Schaffen einfliessen zu lassen. Auf seinen Studienreisen durch Europa hatte Farwell die Entstehung diverser nationaler Schulen beobachtet, und er sah darin ein Vorbild für eine entsprechende Entwicklung in Amerika: „I had particularly observed that the countries which were gaining a national individuality of their own (…) where doing so through their own folk music.”[25]
Charles Wakefield Cadman (1881-1946) schuf mit seiner Oper The Robin Woman (Shanewis, UA 1918) „An American Opera“[26], in der originale indianische Melodien anklingen und die sich thematisch mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Indianern und weißer Bevölkerungsschicht beschäftigt. Unterstützt wurde die Suche der Komponisten nach authentischem Volksmusik-Material von der zeitgleich entstehenden amerikanischen Ethnomusik-Forschung.[27]
Der wohl stärkste Gegner eines Musical Americanism, ja eines Nationalismus in der Musik überhaupt, war MacDowell. Obwohl er bereits zwei Jahre vor der Uraufführung von Dvoráks 9. Sinfonie selbst die Arbeit an seiner von indianischen Melodien inspirierten Second (Indian) Suite (UA 1896) begonnen hatte, kritisierte er die ‚Kostümierung’ von Musik mit nationalen Gewändern:
„Moszkowski the Pole writes Spanish dances. Cowen in England writes a Scandinavian Symphony. Grieg the Norwegian writes Arabian music; and, to cap the climax, we have here in America been offered a pattern for an „American“ national musical costume by the Bohemian Dvořák – though what the Negro melodies have to do with Americanism in art still remains a mystery. Music that can be made by „recipe“ is not music, but „tailoring”. “[28]
Auch hier wird deutlich, wie unterschiedlich die Quellen ‘indianische Musik’ und ‘afroamerikanische Musik’ bezüglich ihrer Kompatibilität zur Kunstmusik von den meisten Komponisten bewertet wurden. Es ist zu bemerken, dass MacDowell selbst ein kompositorisches Interesse für die Musik der Indianer hegte. Jedoch gründete dieses Interesse nicht in einem Musical Americanism. Entscheidend sollte letztendlich die Qualität von Musik sein, nicht ihre Nationalität. Es ist somit auch einleuchtend, dass MacDowell tiefe Bewunderung für die europäische Musikkultur empfand und sich von ihrer Dominanz in Amerika keineswegs bedroht fühlte.
Auch Charles Ives (1874-1954), obwohl später als „most American of American composers“[29] geltend, distanzierte sich von einem Musical Americanism nach dem Vorbild Dvoráks. Seiner Auffassung von Kunst zufolge kann nur dann musikalische Qualität von Substanz erreicht werden, wenn die Seele des Komponisten in seine Musik einfliesst. Die Verwendung von volksmusikalischen Quellen im Werk eines Komponisten ist also immer dann gerechtfertigt, „ ... if he is confident that they have a part in his spiritual consciousness.“[30]. Im Falle Ives ist dies unter anderem Volksmusikmaterial aus seiner Jugend in Neuengland: „Ives did not need to study the music of camp meetings and small-town bands; he had absorbed it from boyhood“[31] Aufgrund dieses Ansatzes teilte Ives nicht das allgemeine Interesse seiner Zeitgenossen für indianische Volksmusik. Auch war sein Einfluss auf Zeitgenossen und die nachfolgende Generation gering. „By the time his music was widely known, musical Americanism as a movement was over“[32]
Wie bereits erwähnt, ebbte das Interesse für indianische Volksmusik in den 1920er Jahren ab. Die afroamerikanische Musikkultur zog nun die Aufmerksamkeit auf sich, bildete die Grundlage für die neue entstehende Popularmusikkultur und fand – bedeutender als die indianische Volksmusik bis dahin – auch Einzug in die Kunstmusik. Bereits bevor die Verwendung afroamerikanischen Materials in der Kunstmusik zur Mode avancierte, hatte Henry F. Gilbert (1868-1928), ein Schüler MacDowells und enger Freund Arthur Farwells, Ragtime und Spirituals für sich entdeckt und einige auf diesen afroamerikanischen Musikformen fußende Werke geschaffen; darunter die Comedy Overture on Negro Themes (1911) und The Dance in Place Congo, der zusammen mit Farwells bereits genanntem Werk Shanewis 1911 zur Uraufführung kam. Obwohl Gilberts Werke Anklang fanden und ihn die Kritik als „ ... American composer (...), whose music is essentially and distinctively American“[33] feierte; erschienen seine Kompositionen im Vergleich zu jenen Jazz-inspirierten Stücken der nachfolgenden Generation bereits ‚altmodisch’[34] und sein innovatives Schaffen wird gerne über den rasanten Entwicklungen der 20er Jahre und den damit verbunden Namen vergessen.
1.7. Musikalische Strömungen zwischen den Weltkriegen
1.7.1. Europäische Emigranten und Amerikanische Moderne
Gershwins gesamtes musikalisches Schaffen – von seinem ersten USA-weiten Erfolg Swanee 1918 bis zum Tod des Komponisten 1937 fällt in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Auch wenn – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – Gershwins kunstmusikalisches Schaffen stark von den europäischen Traditionen der Klassik und Romantik geprägt ist, so weisen ihn biografische Fakten und Stellungnahmen dennoch als aufmerksamen Beobachter der zeitgenössischen Musikszene aus. Durch welche Strömungen und Persönlichkeiten diese im Wesentlichen geprägt war, soll im Folgenden knapp geschildert werden.
Die musikalische Moderne ist bestimmt von der Suche nach neuen Wegen. Die Romantik hatte in den zwei bis dahin bestimmenden Kategorien Form und Harmonik alles Denkbare ausgereizt, wodurch der nachfolgenden Komponistengeneration eine Weiterentwicklung unmöglich scheint. Für Arnold Schönberg (1874-1951) liegt die Lösung im totalen Verzicht auf Tonalität. Dieser Schritt verlangt gleichzeitig ein neues Prinzip der musikalischen Strukturierung, das Schönberg in den 1920er Jahren in der Entwicklung der Zwölftonmusik findet, bei der eine aus den zwölf Tönen der chromatischen Tonleiter gebildete Reihe als grundlegende Formeinheit eines Musikstücks fungiert. Zu Schönbergs Schülern gehören Alban Berg (1885-1935) und Anton Webern (1883-1945), sowie der US-Amerikanische Komponist Marc Blitzstein (1905-1964). Schönberg emigriert 1933 aus Wien in die USA.
Die radikale Alternative zu Schönbergs Konzeption bietet der Neoklassizismus. Dieser Ansatz besteht in einer Rückwendung zu den klassischen Idealen der Klarheit und Einfachheit und der damit verbundenen Ablehnung von spätromantischer Expressivität und Impressionismus. Dabei wird vielfach auf Formmodelle der Renaissance, des Barock oder der Klassik zurückgegriffen. Der einflussreichste Vertreter des Neoklassizismus ist der Russe Igor Stravinsky (1882-1971), der nach der Februarrevolution 1917 nach Frankreich emigriert und ab 1939 in den USA lebt. Besonders sein Werk Le Sacre du printemps, dass bei seiner Uraufführung 1913 in Paris aufgrund seiner wilden Rhythmik und Dissonanz für Aufruhr sorgt, beeinflusst nahezu alle zeitgenössischen Komponisten auf die ein oder andere Weise. Paris ist in den 1920er Jahren das künstlerische Zentrum Europas, und in ihrem Drang, sich von der deutsch-österreichischen Prägung musikalisch zu befreien, prägt die Pariser Avantgarde das musikalische Geschehen zwischen den Weltkriegen. Neben dem ebenfalls in Paris wirkenden Maurice Ravel (1857-1937) sind in diesem Zusammenhang noch Erik Satie und die Groupe de Six zu nennen. Auf diese Künstler wird bei der Besprechung des Stückes An American in Paris noch zurückzukommen sein.
[...]
[1] Ausgabe vom 4. Januar 1924
[2] So urteilt David Schiff : “[the Program] consisted of entirely familiar material, the only innovation being its concert-hall setting. (…) The concert seems in retrospect to have been a pretentious showcase for a successful dance band.” [Schiff, David: Gershwin: Rhapsody in Blue, Cambridge, 1997, S. 51]
[3] Es ist zu bedenken, dass viele Sekundärquellen (speziell Essays) nur in Amerika erschienen und in Deutschland nicht zugänglich sind.
[4] Gilbert, Steven E.: The Music of Gershwin (Composers of the twentieth century), Yale, 1995, S. 8
[5] Struble, John Warthen: The History of American Classical Music, London, 1995, S. 3
[6] ebd. S. 9
[7] ebd. S. 13
[8] ebd. S. 33
[9] Copland, Aaron: “The Composer in Industrial America”, 6. Kapitel aus: Music and Imagination. The Charles Eliot Norton Lectures 1951 – 1952, Cambridge, 1952, S. 96-111. Zitiert nach: Danuser Hermann u. a. (Hrsg.), Amerikanische Musik seit Charles Ives, Laaber, 1987, S.239
[10] Vgl. ebd.
[11] Copland, Aaron. The Composer in Industrial America (wie Anm. 8), S. 240
[12] ebd.
[13] Hitchcock, Wiley H: „Charles Ives und seine Zeit“, In: Danuser, Hermann u. a. (Hrsg.): Amerikanische Musik seit Charles Ives, Laaber, 1987, S. 40
[14] Berendt, Joachim E.: Das große Jazzbuch – von New Orleans bis Jazz Rock. Frankfurt a. M. 19815, S. 21
[15] Hitchcock, Wiley H: „Charles Ives und seine Zeit“, In: Danuser, Hermann u. a. (Hrsg.): Amerikanische Musik seit Charles Ives, Laaber, 1987, S. 40
[16] Copland, Aaron: “The Composer in Industrial America” (wie Anm. 8) S. 239
[17] Berendt, Joachim E.: Das große Jazzbuch – von New Orleans bis Jazz Rock. Frankfurt a. M. 19815, S. 25
[18] Rockwell, John: “Faszination der Großstadt”, in: Danuser, Hermann u. a. (Hrsg.): Amerikanische Musik seit Charles Ives, Laaber, 1987, S. 34
[19] Rockwell, John: “Faszination der Großstadt”, in: Danuser, Hermann u. a. (Hrsg.): Amerikanische Musik seit Charles Ives, Laaber, 1987, S. 31
[20] David Ewen: A journey to Greatness: the Life and Times of George Gershwin, New York, 1956, zit. nach: Schiff, David: Gershwin: Rhapsody in Blue, Cambridge, 1997, S. 32
[21] vgl. Schiff, David: Gershwin: Rhapsody in Blue, Cambridge, 1997, S. 31
[22] Barbara Zuck: A History of Musical Americanism (Studies in Musicology, Bd. 19), Ann Arbor, Michigan, 1980, S.20
[23] Fry, William Henry: „Mr. Fry’s ‚American Ideas’ about Music”, In: Dwight’s Journal of Music II/23 (12.März 1853), S. 181, zit. nach: Barbara Zuck: A History of Musical Americanism (Studies in Musicology, Bd. 19), Ann Arbor, Michigan, 1980, S.18
[24] Barbara Zuck: A History of Musical Americanism (Studies in Musicology, Bd. 19), Ann Arbor, Michigan, 1980, S.32
[25] Farwell, Arthur: “Pioneering for American Music”, In: Modern Music, XII/3, 1953, S. 117, zit. nach: ebd., S. 62
[26] Von Cadman selbst gewählter Untertitel
[27] Eine Zusammenstellung der ersten diesbezüglich erschienenen Werke findet sich bei Barbara Zuck: A History of Musical Americanism (Studies in Musicology, Bd. 19), Ann Arbor, Michigan, 1980, S.64
[28] MacDowell, Edward, in einem Vortrag zum Thema „Folk Music“, in: Gilman, Lawrence: Edward MacDowell. A Study, New York, 1969, S. 83, zit. nach: ebd., S. 56
[29] Zuck, Barbara: A History of Musical Americanism (Studies in Musicology, Bd. 19). Ann Arbor, Michigan, 1980, S.71
[30] Ives, Charles: Essays Before a Sonata, Boatwright, Howard (Hrsg.), New York, 1970, S.81, zit. nach: ebd.
[31] Zuck, Barbara: A History of Musical Americanism (Studies in Musicology, Bd. 19), Ann Arbor, Michigan, 1980, S.73
[32] ebd.
[33] Downes, Olin: “An American Composer”, in: MQ, IV/1, 1918, S. 23, zit. nach: ebd., S. 78
[34] Vgl. Zuck, Barbara: A History of Musical Americanism (Studies in Musicology, Bd. 19), Ann Arbor, Michigan, 1980, S.78
- Quote paper
- Jennifer Ruwe (Author), 2007, Europäische Tradition und musical americanism, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87327
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