1. Allgemeiner Teil
1.1 Hinführung und Vorgehensweise
Memento mori! Carpe diem! – Zwei Sätze, zwei Aufforderungen, zwei lateinische Sprichwörter. Doch wie stehen diese beiden philosophisch klingenden Bruchstücke in Zusammenhang zueinander und zur Literaturwissenschaft? Eine Antwort darauf soll im Folgenden anhand einer Untersuchung Ronsard’scher Liebesgedichte gegeben werden.
Ausgewählt wurden dazu drei Gedichte, eines aus der Reihe der „Stances“, „Quand au temple nous serons...“ und zwei Sonette, „Marie, baisez-moi...“ und das berühmte „Quand vous serez bien vieille...“. Die Beispiele sind so ausgesucht, dass aus jedem der drei Gedichtzyklen Ronsards eines vertreten ist. Das erste Gedicht entstammt den „Amours de Cassandre“, die im Jahr 1552 erschie-nen sind. Das zweite ist, wie der Versanfang schon erraten lässt, den „Amours de Marie“ entnom-men, die in den Jahren 1555/56 veröffentlicht wurden, also noch in der Zeit, bevor Ronsard als „poète officiel“ am Hofe Karls IX. akzeptiert war. Das letzte und bekannteste Sonett gehört in die „Sonnets pour Hélène“, die 1578 als Ronsards Spätwerk vollendet wurden und in denen der alte und kranke Dichter versucht, sich in Erbitterung und Enttäuschung über diese späte Liebe hinweg-zutrösten.
Die Texte folgen in Wortlaut und Schreibung der Ausgabe von Friedhelm KEMP und Werner von KOPPENFELS. Zu den ersten beiden Gedichten ist nahezu keine Sekundärliteratur auffindbar, dem berühmten „Quand vous serez bien vieille...“ hingegen wurde seitens der Forschung bereits einige Aufmerksamkeit gewidmet.
Nach einer kurzen Erläuterung der Herkunft der Sprüche Memento mori! und Carpe diem! und einem Überblick über die Bedeutung der beiden Topoi in der Literatur sollen die oben genannten Gedichte näher betrachtet werden, wobei nur zu den ersten beiden eine genaue Interpretation ver-sucht und zum dritten aufgrund der Menge an vorliegenden Untersuchungen nur ein Bericht über ausgewählte Beiträge gegeben wird. Zum Schluss soll ein knapper Vergleich zwischen der Verar-beitung der Topoi bei Ronsard, im literarischen Werk seiner antiken Vorbilder und der Darstellung der Themen in der Unterhaltungskultur der Gegenwart Aufschluss über die Zeitlosigkeit dieser Motive geben.
Inhaltsverzeichnis
1. Allgemeiner Teil
1.1 Hinführung und Vorgehensweise
1.2 „Carpe diem“ und „Memento mori“ – Ursprung der Sprüche
1.2.1 „Carpe diem“
1.2.2 „Memento mori“
1.3 Bedeutung als Topoi der Liebeslyrik in Renaissance und Barock
2. „Carpe diem“ und „Memento mori“ bei Ronsard
2.1 Liebe und Tod als Grundthemen in Ronsards Liebesdichtung
2.2 Interpretation ausgewählter Gedichte
2.2.1 Gedicht 1: „Quand au temple nous serons…“
2.2.1.1 Textgrundlage
2.2.1.2 Form: „Stances“
2.2.1.3 Aufbau und Inhalt
2.2.1.4 Metrik und Reim
2.2.1.5 Interpretation
2.2.2 Gedicht 2: „Marie, baisez-moi…“
2.2.2.1 Textgrundlage
2.2.2.2 Das Sonett: Form, Metrik und Reim
2.2.2.3 Aufbau und Inhalt
2.2.2.4 Interpretation
2.2.3 Gedicht 3: „Quand vous serez bien vieille…“
2.2.3.1 Textgrundlage
2.2.3.2 Zusammenfassung ausgewählter Forschungsliteratur
2.3 Zusammenfassender Vergleich der drei Gedichte
3. Ausblick auf Vergangenheit und Gegenwart
4. Anhang: Parallelstellen aus der antiken Liebeslyrik
4.1 Catull
4.1.1 Carmen 5, V. 1–7
4.1.2 Carmen 85
4.2 Tibull
4.2.1 Elegie I, 3, 53–56
4.2.2 Elegie I, 3, 83–86
4.2.3 Elegie I, 6, 77–80
4.2.4 Elegie I, 8, 41–48
5. Literaturverzeichnis
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
5.2.1 Wissenschaftliche Beiträge zum Thema
5.2.2 Allgemeine Werke zur Renaissance, Literaturgeschichten und Lexika
1. Allgemeiner Teil
1.1 Hinführung und Vorgehensweise
Memento mori! Carpe diem! – Zwei Sätze, zwei Aufforderungen, zwei lateinische Sprichwörter. Doch wie stehen diese beiden philosophisch klingenden Bruchstücke in Zusammenhang zueinander und zur Literaturwissenschaft? Eine Antwort darauf soll im Folgenden anhand einer Untersuchung Ronsard’scher Liebesgedichte gegeben werden.
Ausgewählt wurden dazu drei Gedichte, eines aus der Reihe der „Stances“, „Quand au temple nous serons...“ und zwei Sonette, „Marie, baisez-moi...“ und das berühmte „Quand vous serez bien vieille...“. Die Beispiele sind so ausgesucht, dass aus jedem der drei Gedichtzyklen Ronsards eines vertreten ist. Das erste Gedicht entstammt den „Amours de Cassandre“, die im Jahr 1552 erschienen sind. Das zweite ist, wie der Versanfang schon erraten lässt, den „Amours de Marie“ entnommen, die in den Jahren 1555/56 veröffentlicht wurden, also noch in der Zeit, bevor Ronsard als „poète officiel“ am Hofe Karls IX. akzeptiert war. Das letzte und bekannteste Sonett gehört in die „Sonnets pour Hélène“, die 1578 als Ronsards Spätwerk vollendet wurden und in denen der alte und kranke Dichter versucht, sich in Erbitterung und Enttäuschung über diese späte Liebe hinwegzutrösten.[1]
Die Texte folgen in Wortlaut und Schreibung der Ausgabe von Friedhelm Kemp und Werner von Koppenfels.[2] Zu den ersten beiden Gedichten ist nahezu keine Sekundärliteratur auffindbar, dem berühmten „Quand vous serez bien vieille...“ hingegen wurde seitens der Forschung bereits einige Aufmerksamkeit gewidmet.
Nach einer kurzen Erläuterung der Herkunft der Sprüche Memento mori! und Carpe diem! und einem Überblick über die Bedeutung der beiden Topoi in der Literatur sollen die oben genannten Gedichte näher betrachtet werden, wobei nur zu den ersten beiden eine genaue Interpretation versucht und zum dritten aufgrund der Menge an vorliegenden Untersuchungen nur ein Bericht über ausgewählte Beiträge gegeben wird. Zum Schluss soll ein knapper Vergleich zwischen der Verarbeitung der Topoi bei Ronsard, im literarischen Werk seiner antiken Vorbilder und der Darstellung der Themen in der Unterhaltungskultur der Gegenwart Aufschluss über die Zeitlosigkeit dieser Motive geben.
1.2 „Carpe diem“ und „Memento mori“ – Ursprung der Sprüche
Bereits in der antiken Liebesdichtung waren die beiden Topoi nicht unbekannt und wurden von den Dichtern meist in Verbindung miteinander in die Werke einbezogen. Sowohl „Carpe diem!“ als auch „Memento mori!“ sind Wendungen, die schon in antiker Zeit zu Sprichwörtern geworden sind.
1.2.1 „Carpe diem“
Carpe diem ist ein berühmtes Zitat aus den Oden (Carmina) des römischen Dichters Horaz (65–8 v. Chr.)[3]:
(..) sapias, uina liques et spatio breui
spem longam reseces. Dum loquimur, fugerit inuida
aetas: carpe diem, quam minimum credula postero.
(Horaz, carmen 1,11,6–8)
Als Eklektiker hängt Horaz nicht einer speziellen philosophischen Schule an. Dieses Zitat jedoch entstammt der epikureischen Gedankenwelt, der der Augusteer in seinem Denken weitgehend verpflichtet ist: Jeden Tag als Geschenk zu erachten und so zu genießen, als wäre es der letzte, soll Ziel der Lebenshaltung sein.[4] Auch wenn das Carpe diem bei Horaz nicht auf die Liebe bezogen wird, kann es doch, wie sich zeigt, auch auf diesen Bereich des Lebens umgedeutet werden.
Nebenbei bemerkt schrieb Horaz als Hofdichter nicht nur über Religion und Politik, sondern auch über Lebensgenuss und Liebe, worauf nicht selten das „Todeserlebnis“ folgt,[5] ganz wie es dem Topos des Memento mori entspricht.
1.2.2 „Memento mori“
Diese Aufforderung wurde im antiken Rom bei Triumphzügen dem Triumphator von einem Sklaven ins Ohr geflüstert, um zu verhindern, dass die große Ehrerbietung allzu großen Stolz hervorrief. Zudem versprach man sich davon vermutlich eine apotropäische (= Unheil abwehrende) Wirkung.[6] In der Variante „Respice post te, hominem te esse memento!“ finden wir das Memento mori beim Kirchenschriftsteller Tertullian (160–220 n. Chr.) in seiner Schrift Apologeticum (33,4).[7]
1.3 Bedeutung als Topoi der Liebeslyrik in Renaissance und Barock
Der Tod – ein Thema, das in der Literatur allgegenwärtig ist und in alle literarischen Epochen eingeht. Zeit bedeutet für die Autoren soviel wie Endzeit, das irdische Leben erscheint als Durchgangsstation zum Jenseits. Zwei Zeitbegriffe werden dabei mit griechischen Bezeichnungen unterschieden: Χρόνος, womit ein linearer, gleichmäßig dahinfließender zeitlicher Ablauf verbunden wird, und καιρός, eine Vorstellung von Zeit, die in der griechischen Mythologie in einem „Knaben“ Verkörperung findet, „der mit wehendem Schopf vorbeihuscht und augenblicklich gepackt werden muss, soll er nicht unwiederbringlich verschwinden.“ Der καιρός ist also ein Augenblick, in dem eine Entscheidung getroffen werden muss, in der eine Gelegenheit genutzt oder versäumt wird.[8] Genau dies ist auch der Zeitbegriff, wie ihn die Autoren verstehen, wenn sie zum Carpe diem aufrufen, da sie die Existenz auf Erden vom Tod bedroht sehen (Memento mori!).
In der Renaissance, als man sich die antiken Autoren wieder stärker zum Vorbild nahm – für die Liebeslyrik galten vor allem Catull, Properz, Tibull und Ovid als die herausragenden Vertreter –, blühten auch deren gern verwendete Topoi von Neuem auf.[9] Als „Ronsard hédoniste“[10] bezeichnet Thomine den großen Dichter der französischen Renaissance, wenn dieser sich vom Carpe diem des Horaz inspirieren lässt, eine Aussage, deren Gültigkeit in Frage gestellt werden kann.
Der Tod wird im 16. und 17. Jahrhundert, in einer Zeit der Kriege und äußeren Bedrohungen für das menschliche Leben in Form von Epidemien und Hungersnöten[11] als „widriges Los und Ansporn zum Leben“[12] empfunden. Dem frühen und damit ungerechten Tod eines Menschen kann letztlich nur mit dem Genuss des geschenkten Augenblicks, dem Carpe diem, begegnet werden.[13]
Vielmehr noch als in der Renaissance finden die beiden Topoi im Barock ihren Platz, in dem der Tod als „sujet d’inspiration intellectuelle et poétique“[14] verstanden wird. Gibert zufolge drückt gerade die Verbindung des Memento mori mit dem Carpe diem den doppelten Aspekt der Todesthematik aus: einerseits die Warnung vor dem unabwendbaren Schicksal, andererseits die daraus resultierende Aufforderung zur Lebensfreude („avertissement et incitation“).[15]
Ergänzend sei hier gesagt, dass auch im deutschen Sprachraum, in dem die Eigenheiten des Barock noch viel stärkere Spuren hinterlassen haben, die beiden Topoi in der Liebeslyrik des Öfteren auftauchen. Exemplarisch dafür steht das Sonett „Vergänglichkeit der schönheit“ von Hoffmannswaldau.
2. „Carpe diem“ und „Memento mori“ bei Ronsard
2.1 Liebe und Tod als Grundthemen in Ronsards Liebesdichtung
Eines der schwerwiegendsten Hindernisse für Ronsard bei der Eroberung seiner Geliebten scheint der Tod zu sein. Immer wieder tauchen Reflexionen über dieses Thema in seinem Werk auf.[16] Dass in seinen Augen Liebe und Tod untrennbar zueinander gehören, kann man aus folgendem Vers schließen, mit dem Ronsard die „Sonnets pour Hélène“ und damit seine gesamte Liebesdichtung enden lässt:
„Car l’Amour et la Mort n’est qu’une même chose.“
Wie nun die beiden Topoi, das Memento mori und das daraus geschlossene Carpe diem, eines der wichtigen Motive bei Ronsard,[17] ihren Platz in der Liebeslyrik des wichtigsten Dichters der Pléiade finden, soll im Folgenden anhand von drei ausgewählten Gedichten gezeigt werden. Es gilt nun vor allem, herauszuarbeiten, wie der Dichter die Suche nach dem Genuss des Augenblicks entsprechend der epikureischen Philosophie mit der permanenten Erinnerung an das Sterben verknüpft und wie er versucht, die Geliebte dazu einzuladen, die kurze Dauer ihres Lebens genussvoll zu nutzen.[18]
2.2 Interpretation ausgewählter Gedichte
2.2.1 Gedicht 1: „Quand au temple nous serons…“
2.2.1.1 Textgrundlage
Stances
Quand au temple nous serons 1
Agenouillés, nous ferons
Les Dévots selon la guise
De ceux qui, pour louer Dieu,
Humbles se courbent au lieu 5
Le plus secret de l'église.
Mais quand au lit nous serons
Entrelacés, nous ferons
Les lascifs selon les guises
Des Amants, qui librement 10
Pratiquent folâtrement
Dans les draps cent mignardises.
Pourquoi donque, quand je veux
Ou mordre tes beaux cheveux,
Ou baiser ta bouche aimée, 15
Ou toucher à ton beau sein,
Contrefais-tu la nonnain
Dedans un cloître enfermée?
Pour qui gardes-tu tes yeux
Et ton sein délicieux, 20
Ton front, ta lèvre jumelle?
En veux-tu baiser Pluton
Là-bas, après que Charon
T'aura mise en sa nacelle?
Après ton dernier trépas, 25
Grêle, tu n'auras là-bas
Qu'une bouchette blêmie;
Et quand mort je te verrais
Aux Ombres je n'avouerais
Que jadis tu fus m'amie. 30
Ton test n'aura plus de peau,
Ni ton visage si beau
N'aura veines ni artères;
Tu n'auras plus que les dents
Telles qu'on les voit dedans 35
Les têtes des cimetières.
Donque tandis que tu vis,
Change, Maîtresse, d'avis,
Et ne m'épargne ta bouche.
Incontinent tu mourras: 40
Lors tu te repentiras
De m'avoir été farouche.
Ah, je meurs! ah, baise-moi!
Ah, maîtresse, approche-toi !
Tu fuis comme un faon qui tremble. 45
Au moins souffre que ma main
S'ébatte un peu dans ton sein,
Ou plus bas, si bon te semble.
[...]
[1] Vgl. Wittschier (1971), S. 65f., 91, 95.
[2] Kemp, F. / Koppenfels, W. von (Hrsg.): Französische Dichtung. Erster Band: Von Villon bis Théophile de Viau, München 22001.
[3] Vgl. Kl. Pauly (1975) s. v. Horatius [8], Bd. 2, Sp. 1219–1225.
[4] Vgl. Albrecht (2003), S. 580.
[5] Vgl. Kl. Pauly (1975) s. v. Horatius [8], Bd. 2, Sp. 1219–1225.
[6] Vgl. edb. s. v. Triumphus, Bd. 5, Sp. 973ff.
[7] Zu den Lebensdaten vgl. ebd. s. v. Tertullianus [2], Bd. 5, Sp. 613ff.
[8] Zu den Gedanken und zum wörtlichen Zitat vgl. Hausmann (1996), S. 10.
[9] Vgl. dazu Thomine (2001), S. 34f.
[10] Ebd., S. 34.
[11] Vgl. Landry / Morlin (2002), S. 6 und Bensimon (1962), S. 183.
[12] Pollmann (1975), S. 79.
[13] Ebd., S. 80f.
[14] Gibert (1997), S. 91.
[15] Ebd., S. 93
[16] Vgl. dazu auch Gendre (1970), S. 108.
[17] Vgl. auch Bellenger (1979), S. 201 und Bensimon (1962), S. 184.
[18] Vgl. Bensimon (1962), S. 184.
- Arbeit zitieren
- Stefanie Wind (Autor:in), 2008, Carpe diem und Memento mori bei Pierre de Ronsard, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86821
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