Die Geschichte Irans im zwanzigsten Jahrhundert war geprägt von Abgrenzungs- und Eigenständigkeitsbestrebungen. Der hegemoniale Einfluss des Westens schuf das Paradigma einer allmählichen Verwestlichung weiter Teile der iranischen Gesellschaft. Erst das Wissen um das tatsächliche Ausmaß der wirtschaftlichen und kulturellen Penetration des Westens lässt die Eindeutigkeit und – wie man anhand der derzeitigen Debatte feststellen kann – vor allem die Nachhaltigkeit der iranischen Positionen verständlich werden.
Eine kulturwissenschaftlich geprägte Religionswissenschaft ist in der Lage, die spezifisch als ‚religiös’ verhandelten Identitätskomponenten des iranischen Diskurses in den Blick zu nehmen und in ihrer Entwicklung zu beleuchten. Die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die vor allem in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts unter der Führung Mohammad Reza Schahs in ihrer Wirkungsmacht alle Teile der iranischen Gesellschaft erreichten, führten zu einer Gegenreaktion, die den Absichten des Schah-Regimes diametral entgegenlief und in Gestalt des Islam ein ebenso starkes wie identitätsstiftendes Gegenparadigma hervorbrachte. Dem Islam, genauer gesagt, der schiitischen Ausprägung des Islam, wurde die Rolle eines Bewahrers und Beschützers einer eigenen schiitisch-iranischen Identität zugeschrieben. Wie zu sehen sein wird, veränderten sich dabei nicht nur grundsätzliche Lehrinhalte schiitisch-theologischer Apologie, sondern auch gewisse gesellschaftliche Funktionalitäten von ‚Religion’. Der schiitische Islam, die Schia, erfuhr auf verschiedenen Ebenen von klassisch-konservativen Mustern abweichende, jedoch keinesfalls einheitliche Neuinterpretationen. Grundsätzlich jedoch sah man in ihm ein Instrument, die bestehenden und als ungerecht erachteten Gesellschaftsverhältnisse herauszufordern. Der Islam wurde somit Teil eines Diskursfeldes, auf dem ein inneriranischer Konflikt um Macht und Werte ausgetragen und um die ideale Art und Weise gesellschaftlichen Zusammenlebens gerungen wurde.
Die vorliegende Arbeit versucht, die gegenwärtige Debatte um den Iran aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu differenzieren, indem sie vor allem die im religiösen Identitätsdiskurs beheimateten Hintergründe und Eigenlogiken für die iranischen Positionen in diesem Konflikt sichtbar werden lässt.
Inhaltsverzeichnis
- Bemerkungen zur Transkription
- Einleitung
- Historische Synopse
- Transformation der iranischen Gesellschaft vor dem Hintergrund kolonialer Expansionsbestrebungen im 19. Jahrhundert
- Modernisierungsbestrebungen im 19. Jahrhundert: Die Babi-Bewegung (1844-1852)
- Vom, Haus der Gerechtigkeit zum Parlament: Die,konstitutionelle' Revolution (1905-1911)
- Reza Schah und Nation Building (Reg. 1925-1941)
- Iran im tripolaren Spannungsfeld zwischen Sowjetunion, Großbritannien und den USA
- US-amerikanisches Interesse am Iran: Das Erdöl
- Britisch-amerikanischer Interessenskonflikt: Der Weg zur Nationalisierung der iranischen Ölindustrie
- Mohammad Mosaddeq und nationale Selbstbestimmung (1951-1953)
- Iran unter der,Pax Americana' (1953-1979)
- Von der Feder zum Schwert – Vordenker, Theoretiker und Ideologen der Iranischen Revolution
- Theoretische Vorbemerkungen
- Die Konstruktion des Anderen
- Orientalismus
- Umgekehrter Orientalismus
- Nativismus
- Kultur-inhärente Eigenheiten schiitischer Identität
- Galāl Āl-e Aḥmad
- Ali Sari'ati
- šeyh Mortaza Motahhari
- Seyyed Ruhollah Homeyni
- Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese wissenschaftliche Arbeit befasst sich mit der Entwicklung der islamischen Identität im Iran des 20. Jahrhunderts im Kontext eines anti-westlichen Diskurses. Sie analysiert die historischen und politischen Prozesse, die zur Entstehung dieser Identität beigetragen haben, sowie die Rolle wichtiger Vordenker und Ideologen der Iranischen Revolution. Die Arbeit untersucht die wechselseitigen Beziehungen zwischen der iranischen Gesellschaft, der westlichen Welt und dem islamischen Diskurs im Laufe des 20. Jahrhunderts.
- Entwicklung der islamischen Identität im Iran
- Anti-westlicher Diskurs im Iran
- Historische und politische Prozesse im 20. Jahrhundert
- Rolle von Vordenkern und Ideologen der Iranischen Revolution
- Interaktion zwischen iranischer Gesellschaft, westlicher Welt und islamischem Diskurs
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Einleitung bietet einen Überblick über die aktuelle Situation im Iran und die kontroversen Aussagen des Präsidenten Ahmadī-Nežād, die die Arbeit thematisch einleiten. Es wird ein Bezug hergestellt zu den historischen Entwicklungen im Iran und zur Frage der islamischen Identität.
- Historische Synopse: Dieser Abschnitt beleuchtet die Transformation der iranischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert im Kontext kolonialer Expansionsbestrebungen. Die Entstehung der Babi-Bewegung als ein frühes Zeichen für Modernisierungsbestrebungen und die,konstitutionelle' Revolution (1905-1911) werden vorgestellt. Die Herrschaft von Reza Schah (1925-1941) und die Positionierung Irans im tripolaren Spannungsfeld zwischen Sowjetunion, Großbritannien und den USA werden analysiert, wobei die Bedeutung des Erdöls und die Nationalisierung der iranischen Ölindustrie hervorgehoben werden. Schließlich wird der Aufstieg von Mohammad Mosaddeq und die Epoche Irans unter der,Pax Americana' (1953-1979) abgehandelt.
- Von der Feder zum Schwert – Vordenker, Theoretiker und Ideologen der Iranischen Revolution: Dieser Abschnitt legt theoretische Grundlagen für die Analyse des anti-westlichen Diskurses, indem er Konzepte wie Orientalismus, umgekehrten Orientalismus und Nativismus diskutiert. Anschließend stellt er zentrale Vordenker der Iranischen Revolution vor, darunter Galāl Āl-e Aḥmad, Ali Sari'ati, šeyh Mortaza Motahhari und Seyyed Ruhollah Homeyni.
Schlüsselwörter
Islamische Identität, Iran, Anti-westlicher Diskurs, 20. Jahrhundert, Iranische Revolution, Vordenker, Ideologen, Orientalismus, Umgekehrter Orientalismus, Nativismus, Kolonialismus, Modernisierung, Erdöl, Nationale Selbstbestimmung, ,Pax Americana', Geschichte, Politik, Kultur, Religion.
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- Magister Thorsten Reuter (Author), 2007, Islamische Identität und anti-westlicher Diskurs im Iran des 20. Jahrhunderts, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86614