Ich möchte in meiner Diplomarbeit darstellen, welche Vorgaben und Richtlinien der Koran, aber auch die übernommenen Traditionen, zum Thema Sexualerziehung haben. Darauf folgend werde ich die Sozialisation muslimischer Mädchen in Deutschland erörtern und hierbei gezielt darauf schauen, welche Rolle das Thema Sexualität in der Erziehung türkischstämmiger Eltern einnimmt. Dabei möchte ich der Fragestellung nachgehen, welchen Stellenwert Sexualität und Aufklärung in muslimischen Familien hat.
Im nächsten Teil meiner Arbeit werde ich den Umgang deutscher Mädchen mit dem Thema Sexualität darstellen. Hierbei werde ich die sexuelle Sozialisation und Sexualaufklärung deutscher Mädchen durch die Familie, Peers und die Medien erläutern sowie auf die ersten Erfahrungen im Jugendalter eingehen.
In Anbindung an die Ergebnisse der beiden vorherigen Kapitel werde ich anschließend die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Umgangs türkischstämmiger und deutscher Mädchen mit dem Thema Sexualität ansprechen und erörtern, welche Bedeutung dieses für eine interkulturelle Sexualpädagogik hat. Die sexualpädagogische Arbeit in Schulen wird das Thema des siebten Kapitels dieser Diplomarbeit darstellen. Dabei werde ich zunächst auf die geschichtliche Entwicklung der Sexualpädagogik eingehen und anschließend darstellen, welche Richtlinien der Staat für die Sexualerziehung in Schulen vorsieht. Im darauf folgenden Abschnitt werde ich erläutern, nach welchem Grundverständnis emanzipatorischer Sexualpädagogik in Schulklassen mit muslimischen Schülerinnen gearbeitet wird und betrachten, welche Anforderungen dieses an Sexualpädagogen/innen stellt.
Als Resultat der vorherigen Kapitel werde ich ein didaktisches Konzept erarbeiten, welches eine Sexualpädagogik in Klassen mit muslimischen und nicht-muslimischen Schülerinnen berücksichtigt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Kritische Reflexion der Forschungsinstrumente und Ergebnisse
2.1 Quantitative Forschungsmethode/ Fragebögen
2.2 Qualitative Forschungsmethode/ Narrative Interviews
3 Zur Situation muslimischer Mädchen in Deutschland
3.1 Migration in Deutschland
3.2 Der Islam und sein Verhältnis zur Sexualität
3.2.1 Grundsätzliche Informationen über den Islam
3.2.2 Die Rolle der Sexualität im Islam
3.3 Die Begriffe der Ehre und Schande in der türkischen Tradition
3.3.1 Die Ehre der Frauen
3.3.2 Möglichkeiten zur Wiederherstellung der Ehre
3.4 Sozialisation muslimischer Mädchen in Deutschland
3.4.1 Aufwachsen zwischen zwei Kulturen
3.4.2 Sexuelle Sozialisation muslimischer Mädchen
4 Der umgang deutscher mädchen mit dem thema sexualität
4.1 Sexuelle Sozialisation und Sexualaufklärung deutscher Mädchen
4.1.1 Familie
4.1.2 Peers
4.1.3 Medien
4.2 Erste Erfahrungen im Jugendalter
5 gemeinsamkeiten und unterschiede des umgangs türkischstämmiger und deutscher mädchen mit dem thema sexualität
5.1 Gemeinsamkeiten
5.2 Unterschiede
5.3 Bedeutung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede für eine sexualpädagogische Arbeit
6 sexualpädagogische arbeit in schulen
6.1 eschichte und Entwicklung der Sexualpädagogik
6.1.1 Negative Sexualpädagogik
6.1.2 Schein-affirmative Sexualpädagogik
6.1.3 Emanzipatorische Sexualpädagogik
6.2 Richtlinien
6.3 Grundverständnis emanzipatorischer Sexualpädagogik in Schulklassen mit muslimischen Schülerinnen
6.3.1 Ansichten emanzipatorischer Sexualerziehung
6.3.2 Emanzipatorische Sexualpädagogik im interkulturellen Kontext
6.3.3 Sexualpädagogische Mädchenarbeit
6.4 Anforderungen an Sexualpädagogen/innen
6.4.1 Sachkompetenz
6.4.2 Personale Kompetenz
6.4.3 Handlungskompetenz
7 sexualpädagogik in klassen mit muslimischen schülerinnen -erarbeitung eines didaktischen konzepts
7.1 Vorüberlegungen
7.2 Didaktische Konzeption
8 schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
„Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat,
sondern wo man verstanden wird.“
Christian Morgenstern
Während meines Hauptstudiums habe ich mein Praktikum in der staatlich anerkannten Konfliktberatungsstelle für Schwangere „Haus im Hof e.V.“ in Duisburg-Marxloh absolviert. Die Beratungsstelle bietet Schwangerschaftskonfliktberatungen, Sozialberatungen und eben auch Sexualpädagogik in Schulen an. Nach Vollendigung des Praktikums wurde mir angeboten, auch weiterhin auf Honorarbasis an den sexualpädagogischen Unterrichtseinheiten mitzuarbeiten. Hierdurch bekam ich die Möglichkeit, an der von „Haus im Hof e.V.“ angebotenen Sexualerziehung in den achten Klassen mehrerer Gesamtschulen im Duisburger Norden mitzuwirken.
Es muss hierbei erwähnt werden, dass die Stadt einen bundesweit außergewöhnlich hohen Anteil ausländischer, vor allem türkischstämmiger Einwohner hat. So „stammen 12 % der Duisburger Bevölkerung aus der Türkei. Unter den jungen Duisburgern sind es sogar 30 %.“[1]
In der Zeit, in der die Sexualpädagogik stattfindet, wird die jeweilige Klasse, abgesehen vom Anfang und dem Ende der Veranstaltung, geschlechtshomogen aufgeteilt. Während meiner Einsätze an den Gesamtschulen habe ich in allen Klassen miterlebt, dass das Thema „Sexualität“ bei den muslimischen Mädchen häufig Gefühle von Scham und Unverständnis auslöste. Des Weiteren habe ich bemerkt, dass das Wissen einiger türkischstämmiger Mädchen in Bezug auf verschiedene Themenbereiche (z.B. Menstruation) von Irrglauben, Mythen und negativen Gefühlen geprägt war. Auch ist mir aufgefallen, dass die oftmals sehr unterschiedlichen Wertvorstellungen der deutschen und türkischstämmigen Schülerinnen aufeinander prallten und es in solchen Situationen nicht einfach ist, zwischen den kulturellen Hintergründen zu vermitteln. Zusammenfassend habe ich also bemerkt, dass es nicht übersehbare Diskrepanzen in den Vorstellungen deutscher und türkischstämmiger Mädchen zum Thema „Sexualität“ gibt.
Ich gehe davon aus, dass Jugendliche, egal welchen kulturellen Hintergrund sie haben, alle ein Bedürfnis danach haben, beispielsweise die Veränderungen des Körpers, sexuelle Orientierungen oder die Fragen danach, was in der sexuellen Entwicklung „richtig“ oder „falsch“ ist, zu verstehen. Eine Sexualpädagogik, die sich an alle Schülerinnen und Schüler richten will, muss daher auch die verschiedenen Bedürfnisse und Hintergründe der einzelnen Mädchen und Jungen berücksichtigen.
Auch Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erklärte hierzu, dass „Sexualaufklärung von Jugendlichen, die ankommen
will, […] auf die sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit reagieren [muss]. Veränderung der familiären Lebensform, geschlechtsspezifische Anforderungen an Jungen und Mädchen und die vielfältigen religiösen und kulturellen Unterschiede innerhalb der Zielgruppe sind Herausforderungen, die neue Konzepte erfordern.“[2]
Das Ziel meiner Diplomarbeit ist es daher, eine sexualpädagogische Unterrichtseinheit zu erarbeiten, die sich am kulturellen Hintergrund und den daraus resultierenden Werten und Wünschen junger türkischstämmiger und deutscher Schülerinnen orientiert. Ich möchte erreichen, dass Themen angesprochen werden, die Interesse statt Scham wecken und Anstöße zur Entwicklung eines eigenen Werteempfindens wecken.
Da ich bisher nur die einzelnen Mädchengruppen betreut habe, werde ich mich auch in dieser Arbeit ausschließlich auf die Sexualpädagogik mit Schülerinnen konzentrieren.
1 Einleitung
Während der Pubertät wird besonders deutlich, dass viele Mädchen aus türkischstämmigen Familien zwischen zwei Kulturen leben. Auf der einen Seite stehen die Verwandten und die muslimische Gesellschaft, die an traditionellen und kulturellen Werten festhalten. Das Thema Sexualität wird hier größtenteils tabuisiert und voreheliche intime Beziehungen werden nur selten gestattet. Auf der anderen Seite besuchen junge türkischstämmige Mädchen zusammen mit deutschen Mädchen die Schule, welche vielleicht schon einen festen Freund haben und einen offenen Umgang mit dem Thema Sexualität pflegen. Muslimische Mädchen orientieren sich dabei natürlich auch an ihren deutschen Mitschülerinnen. Gerade im Bereich der Sexualität wird deutlich, dass sich die kulturellen Hintergründe und die daraus resultierenden Normen und Werte muslimischer Schülerinnen nicht ohne Probleme mit den Anforderungen ihrer Umwelt vereinbaren lassen. Dieses kommt vor allem dann zu tragen, wenn in der Schule die Themen Liebe, Freundschaft und Sexualität besprochen werden.
Doch welche Werte, Inhalte und Ziele sollte eine sexualpädagogische Arbeit mit muslimischen und nicht-muslimischen Mädchen verfolgen? Was sind die Wünsche und Ansprüche der Mädchen an die Themenbereiche im sexualpädagogischen Unterricht? Und welche Faktoren müssen in Hinblick auf den interkulturellen Hintergrund berücksichtigt werden, damit sich nicht-muslimische und muslimische Mädchen während den sexualpädagogischen Unterrichtseinheiten angesprochen, verstanden und wohl fühlen?
In meiner Diplomarbeit möchte ich diesen Fragen nachgehen, indem ich zunächst die Situation muslimischer Mädchen in Deutschland näher betrachte. Hierbei werde ich das Thema Migration in Deutschland ansprechen, damit ein kurzer Überblick darüber entsteht, unter welchen Bedingungen zumeist die Großeltern oder Eltern der Schülerinnen nach Deutschland immigriert sind. Anschließend werde ich den Islam und sein Verhältnis zur Sexualität erläutern sowie die Begriffe der Ehre und Schande in der türkischen Tradition darlegen. Ich möchte darstellen, welche Vorgaben und Richtlinien der Koran, aber auch die übernommenen Traditionen, zum Thema Sexualerziehung haben. Darauf folgend werde ich die Sozialisation muslimischer Mädchen in Deutschland erörtern und hierbei gezielt darauf schauen, welche Rolle das Thema Sexualität in der Erziehung türkischstämmiger Eltern einnimmt Dabei möchte ich der Fragestellung nachgehen, welchen Stellenwert Sexualität und Aufklärung in muslimischen Familien hat.
Im nächsten Teil meiner Arbeit werde ich den Umgang deutscher Mädchen mit dem Thema Sexualität darstellen. Hierbei werde ich die sexuelle Sozialisation und Sexualaufklärung deutscher Mädchen durch die Familie, Peers und die Medien erläutern sowie auf die ersten Erfahrungen im Jugendalter eingehen.
In Anbindung an die Ergebnisse der beiden vorherigen Kapitel werde ich anschließend die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Umgangs türkischstämmiger und deutscher Mädchen mit dem Thema Sexualität ansprechen und erörtern, welche Bedeutung dieses für eine interkulturelle Sexualpädagogik hat. Die sexualpädagogische Arbeit in Schulen wird das Thema des siebten Kapitels dieser Diplomarbeit darstellen. Dabei werde ich zunächst auf die geschichtliche Entwicklung der Sexualpädagogik eingehen und anschließend darstellen, welche Richtlinien der Staat für die Sexualerziehung in Schulen vorsieht. Im darauf folgenden Abschnitt werde ich erläutern, nach welchem Grundverständnis emanzipatorischer Sexualpädagogik in Schulklassen mit muslimischen Schülerinnen gearbeitet wird und betrachten, welche Anforderungen dieses an Sexualpädagogen/innen stellt.
Als Resultat der vorherigen Kapitel werde ich ein didaktisches Konzept erarbeiten, welches eine Sexualpädagogik in Klassen mit muslimischen und nicht-muslimischen Schülerinnen berücksichtigt.
Zuletzt werde ich in der Schlussbemerkung die Ergebnisse der gesamten Arbeit noch einmal zusammenfassen und darauf eingehen, welche Bedeutung dieses auch für die Zukunft der interkulturellen Sexualpädagogik haben könnte.
2 Kritische Reflexion der Forschungsinstrumente und Ergebnisse
Bei der Suche nach geeigneter wissenschaftlicher Literatur zu dem Diplomarbeitsthema „Sexualpädagogik in Schulklassen mit muslimischen Schülerinnen“ habe ich viele Werke aus den Bereichen der Pädagogik, Soziologie, Psychologie und Politik gefunden, die Teilaspekte zu diesem Themenbereich betrachten. Doch viele der Publikationen, gerade die, die sich mit der Situation muslimischer Mädchen in Deutschland beschäftigen, wurden bereits vor mehr als 15 Jahren verfasst.
Um ein möglichst genaues Bild des Umgangs türkischstämmiger und deutscher Mädchen mit den Themen Liebe, Freundschaft und Sexualität zu bekommen, habe ich mich daher dazu entschlossen, neben der Analyse entsprechender Literatur durch Fragebögen und narrative Interviews genauere und aktuellere Informationen zu erhalten.
2.1 Quantitative Forschungsmethode/ Fragebögen
Da mir zu der gewählten Thematik keine ausreichenden beziehungsweise aktuellen Erkenntnisse aus den Bereichen der Pädagogik oder Soziologie vorliegen, halte ich es für erforderlich, eine quantitative Untersuchung zur Problematik der Sexualentwicklung jugendlicher Mädchen türkischer Herkunft auf der Basis von Fragebögen durchzuführen. Die Ergebnisse hieraus sollen die Aussagen der Autoren entsprechender Werke sinnvoll ergänzen oder bestätigen.
Die Fragebögen verteilte ich in fünf achten Schulklassen an den Gesamtschulen im Duisburger Norden, in denen ich als sexualpädagogische Honorarkraft mitwirkte. Nachdem die Klasse geschlechtshomogen aufgeteilt wurde, teilte ich die Fragebögen in den jeweiligen Mädchengruppen aus und sammelte sie wieder ein, als alle Mädchen die Fragen beantwortet hatten. Die Schülerinnen der achten Klassen hatten dabei folgende Altersstruktur:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Insgesamt habe ich 61 Fragebögen auswerten können. Dabei wurden 30 Fragebögen von muslimischen Mädchen und 31 von nicht-muslimischen Schülerinnen beantwortet.
Der Fragebogen gibt neben allgemeinen Auskünften wie dem Alter der Schülerinnen, ihrer Religionszugehörigkeit etc. wider, inwiefern in den Familien der Mädchen aufgeklärt wurde und ob es ihnen möglich ist, mit den Eltern Themen, die die Sexualität betreffen, offen zu besprechen. Weiterhin analysiert der Fragebogen, wie die Jugendlichen selbst über das Sprechen über sexuelle Themen denken und inwiefern sie glauben aufgeklärt zu sein. Des Weiteren wird gefragt, wie wichtig die Religion für die einzelnen Mädchen ist und ob in diesem Zusammenhang auch das Thema Jungfräulichkeit und der erste Freund eine Rolle im Leben der Schülerinnen spielt. Zuletzt möchte ich erfahren, über welche Themen die Schülerinnen noch mehr erfahren möchten.
Im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass ich leider nur nach der Religionszugehörigkeit, nicht aber nach dem Herkunftsland der Eltern gefragt habe. Da ich aber davon ausgehe, dass ein Großteil der muslimischen Mädchen türkischstämmig ist, werde ich im Rahmen dieser Arbeit auch nur auf Mädchen aus dem türkischen Kulturkreis eingehen.
Bei der Auswertung werde ich die Antworten jeweils in die der muslimischen und die der nicht-muslimischen Mädchen unterteilen. Hierdurch werde ich die Ergebnisse der verschiedenen Kulturen einzeln analysieren und miteinander vergleichen können.
Die Ergebnisse hieraus können zwar nicht als repräsentativ angesehen werden, doch geben sie einen ersten Eindruck über den Umgang deutscher und türkischstämmiger Mädchen und ihren Eltern mit den Themen Liebe, Freundschaft und Sexualität und stützen beziehungsweise vervollständigen somit die Aussagen zu den verschiedenen Themenbereichen dieser Arbeit.
Der Fragebogen sowie die vollständige Auswertung dieser befinden sich im Anhang dieser Arbeit.
2.2 Qualitative Forschungsmethode/ Narrative Interviews
Um die Ergebnisse der Fragebögen zu stützen, habe ich mich weiterhin dazu entschlossen, mit zwei hauptamtlichen Beraterinnen der Schwangerenberatungs-stelle Haus im Hof e.V. narrative Interviews zu führen. Durch die Interviews mit den Dipl. Pädagoginnen Frau R. und Frau B. möchte ich erreichen, dass deren praktische Erfahrungen im Bereich der Sexualpädagogik in multikulturellen Klassen, welche sie schon seit mehreren Jahren in Schulen anbieten, weitere Aspekte für meine Diplomarbeit eröffnen. Ich habe mich für die Form des narrativen Interviews entschieden, da die Sexualpädagoginnen hierbei möglichst uneingeschränkt von ihren Erfahrungen berichten können. Mit der Eingangsfrage „Bitte erzähle mir etwas über die sexualpädagogische Arbeit in Schulklassen mit muslimischen Mädchen, die du bisher gemacht hast“ möchte ich erreichen, dass die Pädagoginnen ohne Einschränkungen von ihren Erfahrungen berichten und dabei von ihrem eigenen Standpunkt aus äußern können, was ihnen wichtig erscheint und sie in ihrer Arbeit besonders geprägt hat. Erst wenn die Pädagoginnen ihrem Teil der Erzählungen beendet haben, besteht für mich als Interviewerin die Möglichkeit, auf das bereits Gesagte näher einzugehen.
Die Aussagen der Sexualpädagoginnen können dabei nicht als repräsentativ angesehen werden, geben jedoch einen guten Überblick über ihre Erfahrungen in der Arbeit mit multikulturellen Schulklassen wider.
Die Interviews fanden jeweils in den Räumlichkeiten der Beratungsstelle Haus im Hof e.V. in Duisburg-Marxloh statt und wurden mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet. Die Transkribierung der narrativen Interviews befindet sich im Anhang.
3 Zur Situation muslimischer Mädchen in Deutschland
3.1 Migration in Deutschland
Deutschland ist faktisch ein Einwanderungsland. Daher stammen auch seine Bürger aus den verschiedensten Nationen und bringen somit vielfältige kulturelle, nationale und religiöse Identitäten mit sich.
Die ersten Migranten, zumeist junge Männer aus Italien, Griechenland, Spanien, Portugal und der Türkei, kamen ab 1955 nach Westdeutschland. Sie waren so genannte Gastarbeiter, die der deutschen Wirtschaft beim Wiederaufbau helfen und nach 12 Monaten in ihr Heimatland zurückkehren sollten. „Da lediglich der Bedarf der Wirtschaft nach Arbeitskräften erfüllt werden sollte, gab es keine Überlegungen oder gar Planungen hinsichtlich einer dauerhaften Ansiedlung der Zuwanderer.“[3] Die Arbeitsmigranten übernahmen meist Stellen, für die sich keine Deutschen bewarben. Daher fand ihr Einsatz in der Gesellschaft auch allgemeine Zustimmung. Es wurde davon ausgegangen, dass die immigrierten Arbeitskräfte einige Zeit in Deutschland Geld verdienen und anschließend in ihr Heimatland zurückkehren würden. Eine Auseinandersetzung seitens der deutschen Arbeiter mit den kulturellen und religiösen Hintergründen ihrer neuen Kollegen beziehungsweise eine Integration der ausländischen Arbeiter in das deutsche Umfeld schien daher nicht notwenig zu sein.
„Neugier, Fernweh, Abenteuerlust, der Wunsch, die Welt kennen zu lernen, traten als Motive zur Absicht hinzu, in einigen Jahren Arbeit in der Fremde die Grundlage für ein späteres gutes Auskommen in der Türkei zu legen. […] In vielen Fällen waren es nicht die Ärmsten, die gingen - die anatolische Landbevölkerung -, sondern gut ausgebildete, intellektuell bewegliche, vom Modernisierungsprozess bereits erfasste junge Leute aus den Städten, häufig Facharbeiter.“[4]
Im Jahre 1973 kam es durch die Öl-/Wirtschaftskrise schließlich zu einer Wende der wirtschaftlichen Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Dadurch wurde mehr und mehr deutlich, dass sich die ausländischen Arbeitskräfte als nicht mehr rentabel für den Arbeitsmarkt erwiesen. Infolgedessen wurde ein Anwerbestopp veranlasst. Dieser konnte jedoch auch nicht dazu beitragen, dass sich die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt entspannte, obwohl die Zahl der Fortzüge über der der Zuzüge lag. Zu dieser Zeit war die „Zahl der erwerbstätigen Ausländer auf 2,6 Millionen Menschen angewachsen. 609.000 von ihnen kamen aus der Türkei.“[5]
1974 veranlasste die Bundesregierung Gesetze zur Zusammenführung der Familien. In der Zeit der Familienzusammenführung zwischen den Jahren 1974 und 1981 änderte sich die Struktur der ausländischen Bevölkerung. Waren bis zum Anwerbestopp insbesondere junge Männer nach Deutschland gekommen, so kamen nun Ehefrauen, Kinder und Jugendliche in die BRD.
Die ehemalige DDR lässt auf eine andere Migrationsgeschichte blicken. Die AusländerInnen kamen zumeist in begrenzter Zahl für eine begrenzte Zeit, um einer klar definierten Aufgabe, einem Studium oder einer bestimmte Arbeit als VertragsarbeiterInnen nachzugehen. Nach der Absolvierung ihrer jeweiligen Aufgabe verließen sie das Land wieder. „Kurz vor der Wende betrug die Ausländerquote 1,2 %.“[6]
Inzwischen haben „15,3 Mio. Menschen in Deutschland […] einen Migrationshintergrund. Das sind 18,6 % der Gesamtbevölkerung.“[7] Betrachtet man diese Zahlen genauer, so ist festzustellen, dass „mehr als ein Viertel der jungen Menschen im bildungsrelevanten Alter (bis 25 Jahren) und sogar rund ein Drittel der Kinder unter sechs Jahren einen Migrationshintergrund“[8] haben. Der Begriff „Migrationshintergrund“ bedeutet hierbei, dass mindestens ein Elternteil aus einem anderen Land stammt. Die Anzahl der Bürger mit einer türkischen Staatsangehörigkeit belief sich „ im Jahre 2001 auf 1.998.534, davon waren 746.651 (37,36%) in der BRD geboren“[9]. Auch die Gesetze, welche die ausländische Bevölkerung, die inzwischen schon in zweiter und dritter Generation in Deutschland lebt, betreffen, haben sich geändert. So ist beispielsweise im Jahre 2005 das Zuwanderungsgesetz in Kraft getreten, das unter anderem nach §45 Aufenthaltsgesetz die Integration von Ausländern erstmals gesetzlich regelt. Demnach ist der Staat zur Integrationsförderung verpflichtet und hat ein Grundangebot an Integrationskursen zur Verfügung zu stellen.
Dieser Aufgabe muss sich auch die Stadt Duisburg stellen. In Duisburg ist „der Islam seit der Einwanderung aus islamischen Ländern in der 1950er Jahren zur zweiten großen Religion herangewachsen. Rund 13 % aller Einwohner der Stadt wurden durch den islamischen Kulturkreis geprägt, der weit überwiegende Teil durch den türkischen, nämlich rund 12 %. Unter den jungen Duisburgern sind es zwei bis drei Mal so viel, etwa 30 % der jungen Bevölkerung.“[10]
Bei der Auswertung der Fragebögen hat sich herausgestellt, dass 98,4 % der befragten Mädchen in Deutschland geboren sind. Nur ein Mädchen (1,6 %) ist in einem anderen Land geboren. Sie hatte neben der Frage geschrieben, dass sie aus Russland stammt.
Wo bist du geboren?
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Hieraus lässt sich schließen, dass nahezu die Hälfte der befragten Schülerinnen einen Migrationshintergrund hat, jedoch bis auf eine Ausnahme in Deutschland geboren sind. Vergleicht man diese Zahlen mit den Statistiken bezüglich der Anzahl junger Menschen bzw. der unter 25-jährigen Bürgern in Deutschland bzw. in Duisburg, so wird deutlich, dass der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den Schulklassen im Duisburger Norden um ein Vielfaches höher ist als der Durchschnitt.
Die Mädchen leben in der 2. oder in der 3. Generation in Deutschland und sind hier aufgewachsen. Ihre Eltern hingegen sind in einem anderen Land aufgewachsen und haben dort gelebt, bevor sie nach Deutschland immigrierten. Die größte Anzahl der Eltern (35,2 %) lebt seit 14-18 Jahren hier, sie sind also erst kurz vor der Geburt mancher Mädchen hierher gezogen. Andere Elternpaare leben aber auch schon längere Zeit, sogar länger als 30 Jahre, in Deutschland.
Anzahl der Jahre, die die nicht aus Deutschland stammenden Eltern hier leben:
Aus welchem Land die Eltern der befragten Schülerinnen stammen, wird aus dem Fragebogen leider nicht deutlich, aber da 49,2 % der Mädchen als zugehörige Religionsgemeinschaft den Islam angegeben haben, gehe ich davon aus, dass der größte Teil der Mädchen mit Migrationshintergrund aus der Türkei stammt.
Welche Stellung der Islam zur Sexualität hat und welchen Einfluss dieses wiederum auf die Sozialisation der Mädchen hat, möchte ich im Folgenden näher erläutern.
3.2 Der Islam und sein Verhältnis zur Sexualität
3.2.1 Grundsätzliche Informationen über den Islam
Bevor ich gezielt auf den Themenbereich der Sexualität im Islam eingehe, möchte ich zunächst einen allgemeinen Überblick über den Islam vorausstellen.
Im Nachschalgewerk „Kleines Islam-Lexikon“ wird der Islam folgendermaßen definiert:
„Der arabische Begriff „islām“ bedeutet „Unterwerfung“, verstanden als Unterwerfung vor Gott. Nach Auffassung muslimischer Gelehrter existiert der Islam schon seit der Schöpfung der Menschen, d.h.: es gab immer Menschen, die Unterwerfung übten. Im Laufe der Geschichte ergingen mehrere Offenbarungen von Gott (Bibel, Thora). Unverfälscht sind seine Worte aber nur im Koran, dem Text der letzten Offenbarung, enthalten. Rechter Glaube und Einhaltung der Normen des islamischen Rechts gehören gleichermaßen zum Islam.“[11]
Der Islam ist also eine Offenbarungsreligion, da sie durch die Offenbarung Gottes durch den Engel Gabriel an den Propheten Mohammed entstanden ist. Sie hebt sich von anderen, durch Gott gesandten Religionen und von Religionen mit mehreren Göttern ab und versteht sich als die einzig „wahre“.
„Was die Muslime verbindet, ist der Glaube an einen Gott und an dessen Offenbarung durch einen Propheten, Mohammed (Muhammad); diese Offenbarung ist in einem Buch niedergelegt, dem Koran ( ān). Somit lässt sich definieren: Muslim ist, wer den Koran als Offenbarung des einen, einzigen Gottes anerkennt. Die Begriffe Islam und Muslim leiten sich beide von dem arabischen Verbum aslam „übergeben, sich ergeben, sich hingeben“ ab; Islam ist das Verbalnomen (oder der substantivierte Infinitiv) dazu: das Sich-Ergeben; Muslim ist das Partizip: der sich Ergebende[…]. Auch das islamische Glaubensbekenntnis beginnt mit der Erklärung: „Ich bezeuge, dass es keine Gottheit (ilāh) außer Gott (All āh) gibt.“[12]
Der Islam, entstanden zwischen 622 und 632 in Arabien durch Verkündigungen des Propheten Mohammed, geht davon aus, dass der Mensch „Diener“ Gottes und seinem Willen absolut unterworfen ist. Der Mensch steht zwischen der Vorherbestimmung und seinem freien Willen. Die Erlösungsvorstellung im Islam besagt, dass man aufgrund seines Handelns und seiner Vorherbestimmung ins Paradies kommt. Die Erlösungswege hierfür stellen die „Fünf Säulen des Islams“ dar:
„[…] die wichtigsten Gebote für Muslime: Ableistung der Glaubensbekenntnis, fasten im Monat Ramadan, die Pilgerfahrt nach Mekka, Gebet, Entrichtung einer bestimmten Form von Almosen“[13].
Laut des Glaubensbekenntnises gibt „es […] keinen Gott außer den einen Gott, und Muhammad ist sein Prophet“[14]. Aus diesem Satz geht die Eindeutigkeit eines Monotheismus im Islam hervor. Des Weiteren gehört zu den Grundpflichten des Islams das Fasten im Monat Ramadan: „Täglich zwischen erstem Morgenlicht und Sonnenuntergang nehmen die Gläubigen keinerlei Nahrung oder Genussmittel zu sich. Der ethische Wert des Fastens besteht darin, die Lust auf weltliche Dinge zu unterdrücken, welche der Unterdrückung unter Gott im Wege stehen“[15].
Jeder Muslim, der körperlich und finanziell dazu in der Lage ist, sollte weiterhin einmal in seinem Leben die Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten in Mekka unternehmen und hierbei bestimmte Riten ausüben. Das Gebet wird jeden Tag fünfmal vollzogen: Vor Sonnenaufgang, mittags, nachmittags, bei Sonnenuntergang und nachts. Die fünfte Pflicht eines jeden Muslimen besteht darin, Almosen an Bedürftige zu geben. Dieses gilt für Muslime als allgemein wohltätiges Handeln. Anhand dieser „fünf Säulen des Islams“ lässt sich deutlich erkennen, dass es sich im Islam um eine Religion mit bestimmten vorgeschriebenen Gesetzen handelt.
Wie bereits in den vorigen Abschnitten erwähnt, spielt der Prophet Mohammed eine wichtige Rolle in der Entstehungsgeschichte des Islams und damit im Koran. Er ist nach der islamischen Lehre derjenige, der von Gott zum Auserwählten festlegt wurde und welcher Offenbarungen erhielt. Mohammed leitete diese Offenbarungen weiter und überzeugte die Menschen, nach dieser islamischen Lehre zu leben.
Die Entstehungsgeschichte des Islam und der Erfolg der Gewinnung von Anhängern kann durchaus auf das aktive Mitwirken Mohammeds zurückgeführt werden. „Seine Handlungen und Aussprüche (Sunna) sind vieltausendfach überliefert und bilden die Grundlage des islamischen Rechts. Für den einzelnen ist er das „gute Vorbild“ der Lebensführung, die islamische Gemeinde gewinnt durch seine Person ihre Identität“[16]. Seine Vorbildfunktion wird auch durch die von ihm ausgegangenen Hadit repräsentiert: „Hadit nennt man die muslimischen Überlieferungen von der sunna, d.h. von den Handlungen und Aussprüchen Muhammads und seiner Gefährten. Diese bilden, neben dem Koran selbst, die wichtigste Quelle für die Lebensführung der Muslime und die muslimische Auslegung des Korans.“[17]
Was auch erwähnt werden muss, ist, dass er für die damalige Zeit als Reformist angesehen werden kann. So sind auch hinsichtlich der Rolle bzw. der Situation der Frau und der Sexualität Stellen im Koran und der Sunna zu finden, welche für die damalige Gesellschaft als Revolution gesehen werden können. In der damaligen arabischen Gesellschaft, die als eine reine Männergesellschaft bezeichnet werden kann, gewannen Frauen zum ersten Mal überhaupt Rechte und Pflichten. Da Mohammed und der Koran in ihren Aussagen die Dominanz der Männer plötzlich einschränkte, wurden schon zu Lebzeiten Mohammeds Textstellen und Aussagen sowohl nicht richtig ausgelegt als auch beim Praktizieren des Islam vollständig ausgelassen. Daher ist es auch heutzutage noch so, dass vieles, was in islamischen Ländern, Städten und Bezirke als „islamisch“ gelebt wird, nicht immer etwas mit dem Islam zu tun haben muss. Die Traditionen und Bräuche der jeweiligen islamischen Länder haben zuweilen nichts mit der islamischen Lehre zu tun, doch sie beherrschen ihr Verständnis und ihr alltägliches Pratizieren.
Unter den befragten Mädchen haben, wie schon kurz erwähnt, 49,2 % angegeben, dass sie der Religionsgemeinschaft des Islam angehören. Auch dieses ist weit höher als „im Duisburger Durchschnitt, wo die Anzahl der muslimischen Bürger bei 13 % liegt.“[18] Doch lässt sich dieses auf den hohen Anteil der Schülerinnen mit Migrationshintergrund in den befragten Mädchengruppen zurückführen.
Welcher Religionsgemeinschaft gehörst du an?
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Dabei war auffallend, dass 83,3 % der muslimischen Mädchen angaben, dass ihnen ihre Religion sehr wichtig ist und 16,7 % ihre Religion für wichtig halten. Keines der muslimischen Mädchen beantwortete die Frage „Wie wichtig ist dir deine Religion?“ mit `unwichtig´ oder mit `Mir ist meine Religion egal´. Im Gegensatz hierzu beantworteten jedoch 64,5 % der nicht-muslimischen Schülerinnen die Frage damit, dass ihnen ihre Religion egal ist.
Wie wichtig ist dir deine Religion?
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Daraus lässt sich schließen, dass die Religion anscheinend einen großen Stellenwert im Leben muslimischer Mädchen einnimmt und die Werte und Normen des Islam daher wahrscheinlich auch sehr ernst genommen werden.
3.2.2 Die Rolle der Sexualität im Islam
Viele unterschiedliche Fakten und Aspekte können, neben dem Geschlechtsverkehr an sich, mit der menschlichen Sexualität in Verbindung gebracht werden:
Die Liebe, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Frau und Mann als Lebewesen, die Ehe als Gemeinschaft, Kleidung von Frau und Mann und noch viele mehr sind Themenbereiche, welche in Zusammenhang mit der Sexualität stehen.
Werden im Koran nahezu alle Bereiche des alltäglichen Lebens angesprochen, so gibt es auch viele Stellen im Koran und in der Sunna, welche sich zu oben genannten Themen äußern und die Rechte und Pflichten für Muslime beschreiben und festlegen. Wie bereits erwähnt, ist der Islam eine Gesetzesreligion, deren Vorgaben ein gläubiger Moslem möglichst einhalten sollte. „Sexualität gilt in ihrer religiös legitimierten Form im islamischen Kulturkreis als Recht des Menschen und Geschenk Gottes, dessen Wonnen eine Vorstellung vom Paradies geben[…]. Gleichgeschlechtliche Sexualität gilt als Verstoß gegen die göttliche Schöpfung, die Mann und Frau als sich ergänzendes Paar geschaffen hat. Weibliche Sexualität wird als potenziell zerstörerisch verstanden; damit sie nicht, unbefriedigt und unkontrolliert, die göttlichen Regeln menschlichen Miteinanders verletzt, hat die Frau ihrem Mann gegenüber Anspruch auf Befriedigung.“[19] Die Sexualität wird im Islam also als ein Grundbedürfnis des Menschen verstanden. Die Praktizierung wird allerdings durch Gesetze festgehalten und unterliegt damit strengen Regeln. Kaplan Omar äußert sich hierzu: „ Der Sexualität wird ein ehelicher und normaler Rahmen vorausgesetzt. Die Lust, ja! Aber nicht übermäßig davon! […] Der Prophet sagte auch: „Den Männern habe ich keine schädlichere Zwietracht hinterlassen als Frauen.“ Er meinte eben „schechvet“, die ungezügelte Lust der Männer für Frauen.“[20] Damit im Zusammenhang steht auch die Schleierpflicht der Frau. Gerhard J. Bellinger beschriebt dieses wie folgt: „In der Öffentlichkeit, d.h. außerhalb des Wohnbereichs, und vor Fremden sollen Frauen ihre weiblichen Reize durch einen Überwurf verdecken, damit Männer nicht sexuell erregt werden. Deshalb sind die Frauen in vielen islamischen Ländern ganz oder teilweise in der Öffentlichkeit verschleiert. Oft werden nicht verschleierte Frauen als Nackte bezeichnet. Umgekehrt fragt jedoch niemand danach, ob nicht eventuell alle unverschleiert gehenden Männer die Frauen sexuell erregen könnten. Allah befiehlt ausdrücklich, dass alle Gläubigen ihre Nacktheit, insbesondere ihre Schamteile, bedecken. Alle Männer und Frauen sollten ihre nackte Scham bedecken.“[21]
Die einzige legitimierte Form des Auslebens der Sexualität ist der Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau in der Ehe. Andere sexuelle Beziehungen sind nach der islamischen Lehre nicht erlaubt. Es würde sogar als Unzucht gelten und bestraft werden. „Unzucht (zina) meint nach dem Koran den Geschlechtsverkehr zwischen Personen, die nicht in einem gesetzlichen Ehe- oder Konkubinatsverhältnis zueinander stehen. Inzest und Notzucht gelten als Unzucht[…]. Homosexualität wird im Koran als Schandbarkeit bezeichnet, aber nicht direkt angesprochen.“[22] Homosexualität und Homosexuelle werden jedoch in allen islamischen Kulturkreisen ausgegrenzt und gelten ebenfalls als Sünde.
Dem islamischen Eherecht zugrunde liegend, wird auch Polygamie gestattet. „Das Eingehen der Ehe ist für Muslime eine heilige Pflicht, wohingegen eine Ehelosigkeit missbilligt wird[…]. Das polygame Eherecht gestattet dem freien [männlichen] Muslim bis zu vier rechtmäßige Ehefrauen.“[23] Die Mehrehe wird in vielen islamischen Staaten jedoch rechtlich sehr unterschiedlich behandelt. Zum Beispiel ist es in der Türkei dem Mann nicht gestattet, standesamtlich mehr als eine Frau zu heiraten, wobei es in den ländlichen Provinzen auch heute noch oft der Fall ist, dass ein Mann mehrere Ehefrauen hat und dieses auch gesellschaftlich akzeptiert wird. Das hauptsächliche Argument hierfür ist, dass die Ehemänner gerne männliche Nachkommen haben, damit beispielsweise ihr Stamm weitergeführt werden kann. Schenkt eine Ehefrau ihrem Mann jedoch keine Söhne, so heiratet er unter Umständen eine andere.
Aus den vorigen Abschnitten geht bereits hervor, dass nach den Aussagen des Korans intime Beziehungen nur innerhalb der Ehe gestattet sind. Alles andere gilt als Unzucht und wird daher in der traditionellen türkischen Gesellschaft geächtet. Als Zeichen für ein züchtiges voreheliches Leben gilt daher die Jungfräulichkeit, an die sich sowohl Musliminnen, als auch Muslime zu halten haben. Da die Jungfräulichkeit aber nur bei einer Frau nachgewiesen werden kann, wird auch bei ihr streng darauf geachtet, dass sie sich keusch verhält. Dieses hängt eng mit den Themen „Ehre und Schande“ in der traditionellen türkischen Tradition zusammen, auf die ich im folgenden Kapitel eingehen werde.
3.3 Die Begriffe der Ehre und Schande in der türkischen Tradition
„Ehre“ und „Schande“: Diese beiden Begriffe werden durch die Medien immer wieder im Zuge von Ehrenmorden oder Blutrachen an die Öffentlichkeit gebracht und prägen somit häufig das Bild, das viele deutsche Bürger von türkischstämmigen Familien haben. Doch welche Rolle nehmen diese beiden Begriffe im Leben türkischstämmiger Familien wirklich ein, und in welchem Zusammenhang stehen sie zum Islam beziehungsweise den übernommenen Traditionen?
„Das Konzept von „Ehre“ und „Schande“ ist im Bereich der nahöstlichen Tradition und des Volksislam anzusiedeln und weniger mit dem Koran zu begründen. Der Koran nennt zwar den Begriff „Ehre“ an einigen wenigen Stellen […], aber es geht in diesem Zusammenhang um die Ehre, die Allah dem rechten Gläubigen gibt, vor allem dadurch, dass er ihm nach seinem Tod Zugang zum Paradies gewährt. Weder der Koran, noch die islamischen Überlieferungen sprechen in dem Sinn von Ehre, wie er vor allem im ländlichen Bereich, dem von Stammesdenken und Stammesstrukturen geprägten islamischen Umfeld gelebt wird.“[24]
Hieraus lässt sich also schließen, dass die Auffassung davon, was „Ehre“ (türkisch: namus oder onur) und „Schande“ ist also von den Traditionen und durch Werte, die innerhalb der Stämme und Familienclans gelebt werden, bestimmt wird.
Möchte man den Begriff der „Ehre“ definieren, so muss man zwischen zwei Auffassungen von Ehre unterscheiden. Zum einen gibt es „die „Ehre“, die ein Mann besitzt, der gastfreundlich, respektvoll und höflich gegenüber jedermann ist, den Armen hilft und sein Wort hält. Ein Familienoberhaupt, welches jähzornig und der Gemeinschaft gegenüber verschlossen ist, wird jedoch nicht mit Ehre in Verbindung gebracht. Ganz im Gegenteil: Unter Umständen hat er in seinem Umfeld sogar mancherlei Nachteil in Kauf zu nehmen. Auch wird er kaum Forderungen stellen oder Hilfeleistungen erwarten können.“[25] So betont auch Andrea Petersen, dass „Großzügigkeit und Gastfreundschaft […] zwei wesentliche Faktoren männlicher Ehre und männlichen Ansehens [sind]. Männer begegnen sich als Repräsentanten ihrer Familie und damit ihrer Ehre.“[26]
Die andere Ehrform betrifft das Verhältnis zwischen Mann und Frau und hat mitunter dramatische Auswirkungen auf das Leben des einzelnen, vor allem der Frauen. „Ein Mann ist nur solange ehrenhaft, wie die ihm zugehörigen Frauen ehrenhaft sind.“[27] So definiert sich die Ehre eines Mannes im Wesentlichen über die Ehre der ihm anvertrauten Frauen, der Mutter, der Schwester, der Tochter und der Ehefrau. Ehre zu besitzen ist daher für jede Familie unabdingbar, wenn sie in der Gesellschaft anerkannt werden möchte.
3.3.1 Die Ehre der Frauen
Als Trägerinnen der Ehre werden in islamischen Familien die Frauen angesehen. „Sie könne die Ehre der Familie nur bewahren oder verlieren, aber sie können sie selbst nicht wiedergewinnen.“[28] Doch was bedeutet der Begriff der „Ehre“ für eine Muslimin genau? „Die Ehre der Frau ist an ihre sexuelle Reinheit gebunden. Sie muss als Jungfrau in die Ehe gehen und ihrem Ehemann treu sein.“[29] Und so ist die „Keuschheit der Kern ihrer Ehre, durch die sie sich von der unehrenhaften Frau, der Hure, unterscheidet.“[30] Die Frau bereitet ihrer Familie dann Ehre, wenn ihr Umgang mit Männern von Schamhaftigkeit geprägt ist. „Das Verhalten einer „sauberen“ und „ehrenhaften“ Frau ist bis ins einzelne festgelegt: Sie darf nicht mit fremden Männern sprechen, darf nicht allein spazieren gehen und nachts nicht ohne Begleitung des Mannes das Haus verlassen; sie muss die Kleidervorschriften beachten […] und das Haar, ein sexuelles Symbol, verhüllen.“[31]
Überschreitet sie jedoch die von der Gesellschaft und Familie vorgeschriebenen Grenzen und nimmt dabei einen Ehrverlust in Kauf, dann ist die Ehre der gesamten Familie gefährdet und Schande lastet auf allen Familienmitgliedern. Dieses würde sich darin auswirken, dass die Gesellschaft den Männern der jeweiligen Familie vorwerfen würde, dass diese nicht genug Stärke besitzen, die Frau zu kontrollieren. Folgerichtig müssen die Männer nun aktiv werden, wenn sie sich nicht der Verachtung und dem Gespött des Kollektivs aussetzen wollen. Die Aufgabe der männlichen Familienmitglieder ist es jetzt, die verlorene Ehre wiederzugewinnen.
3.3.2 Möglichkeiten zur Wiederherstellung der Ehre
Ein türkisches Sprichwort besagt: „Bevor man mit gebeugtem Kopf geht, stirbt man besser“[32]. Hieran wird deutlich, welchen Wert die Ehre für den Einzelnen in der türkischen Gesellschaft darstellt. Hat also eine Frau die Familienehre verletzt, so sind die männlichen Mitglieder dieser Familie dazu aufgerufen, diese zu verteidigen oder wiederherzustellen. Dieses geschieht meistens durch Sanktionen der jeweiligen Frauen.
Wenn es sich beispielsweise um ein recht geringes „Vergehen“ handelt, vielleicht, wenn die Tochter auf dem Weg zur Schule heimlich ihr Kopftuch abgenommen hat, könnte sie eventuell mit Hausarrest bestraft werden. „Handelt es sich jedoch um einen schwerwiegenderen Fall wird das Mädchen unter Umständen sogar zu Verwandten fortgeschickt oder von der Schule genommen, um das Gerede zur Ruhe zu bringen.“[33]
Wurde die Ehre der Familie in den Augen ihrer Mitglieder aber gänzlich zerstört, indem sich die Tochter z.B. mit ihrem Freund getroffen hat oder sogar schwanger ist, wird der Familienrat im schlimmsten Fall beschließen das Mädchen zu töten, „also einen Mord aus „Gründen der Ehre“ zu begehen.“[34]
Und so ist es auch in Deutschland bereits vorgekommen, dass Brüder oder Väter von als „ehrlos“ betrachteten Frauen diese umgebracht haben, um die Familienehre wiederherzustellen. „Rund 40 Fälle von Ehrenmorden sind in den vergangenen Jahren bekannt geworden, jedoch mag es eine noch größere Dunkelziffer geben, wenn Mädchen hierfür in die Türkei gebracht werden.“[35]
Ähnliches hat auch Frau B. in Gesprächen mit muslimischen Mädchen mitbekommen. So sagen manche muslimischen Mädchen, dass „sie auch voreheliche Erfahrungen machen möchten, jedoch Angst davor haben, dass die Familie dahinter kommt. Sie haben dabei unterschiedliche Ängste und Phantasien, was in so einem Fall passieren könnte. Einige sagen, dass sie hierbei um Leib und Leben fürchten müssten oder zwangsverheiratet werden würden. Weitere Befürchtungen sind, dass sie von der Familie verstoßen werden würden und dann ohne Kontakt zu den Geschwistern alleine leben müssten.“[36]
An dieser Stelle muss jedoch betont werden, dass dieses selbstverständlich Ausnahmefälle sind. Neben diesen extremen Beispielen gibt es natürlich auch viele türkischstämmige Familien, die keinen oder kaum Wert auf das Einhalten von bestimmten Ehrprinzipien legen und die ihren Töchtern beispielsweise auch erlauben, einen Freund zu haben. Viele türkischstämmige Bürger haben „hiesige Werte und Normen, vermittelt u.a. durch Fernsehen, Musik und Konsum, im Laufe der Zeit - manchmal dreißig Jahre und länger – in ihr Leben integriert.“[37]
So wenig man ein allgemeingültiges Bild einer typisch deutschen Familie zeichnen kann, so trifft dieses selbstverständlich auch auf türkische Familien zu.
Im Folgenden möchte ich näher beschreiben, wie muslimische Mädchen in Deutschland aufwachsen und unter welchen Umständen sich ihre Sozialisation vollzieht. Dabei werde ich insbesondere darauf eingehen, wie türkischstämmige Eltern in der Erziehung ihrer Töchter mit den Themen Liebe und Sexualität umgehen und welchen Einfluss auch das von deutschen Normen- und Werten geprägte Umfeld für die sexuelle Entwicklung muslimischer Mädchen hat.
3.4 Sozialisation muslimischer Mädchen in Deutschland
„Sozialisation bezeichnet […] den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebensweg hinweg in Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Menschen die „innere Realität“ bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die „äußere Realität“ bilden.“[38]
Fast man diese Definition von Hurrelmann zusammen, so lässt sich sagen, dass die Sozialisation ein lebenslanger Prozess ist, der den Erwerb von bestimmten Normen, Werten und Verhaltensweisen beinhaltet, welche für den Einzelnen unerlässlich sind um in der Gesellschaft, in der er sich befindet, leben zu können.
Doch was bedeuten die Begriffe Normen und Werte überhaupt? Nach Schäfers sind Normen „mehr oder weniger verbindliche, allgemein geltende Vorschriften für menschliches Handeln.“[39] Werte hingegen sind „grundlegende bewusste oder unbewusste Vorstellungen von Wünschenswertem, die die Wahl von Handlungszielen beeinflussen.“[40]
Anders als Tiere also, die von ihrem Instinkt gesteuert werden, wächst ein Mensch nach der Geburt nach und nach und durch umfangreiche Lernprozesse in sein soziales Umfeld und in die Gruppen, die eine Gesellschaft ausmachen, hinein und übernimmt dabei die jeweiligen Normen und Werte.
Des Weiteren ist es für den Sozialisationsprozess bedeutsam, sich sein eigenes Leben zu gestalten und eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Zimmermann definiert Persönlichkeit dabei folgendermaßen: „Persönlichkeit ist als spezifisches Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen und Handlungskompetenzen, das einen Menschen kennzeichnet, zu verstehen. Zur Persönlichkeit eines Menschen gehören von außen beobachtbare Verhaltensweisen, Werthaltungen, Wissen, Sprache wie auch innere Prozesse und Zustände, Gefühle und Motivationen.“[41]
Die Sozialisationsverläufe einzelner Kinder, Jugendlicher und Erwachsenen sehen dabei zumeist grundsätzlich verschieden aus. Diese Unterschiede entstehen durch verschiedenste Lebenslagen, in denen Kinder und Jugendlichen aufwachsen. Indikatoren für die jeweilige Lebenslage eines Menschen sind unter anderem die Berufsposition der Eltern, die soziale Herkunft, die Wohnungsausstattung und -größe sowie die Wohnlage. Ein weiterer Indikator ist die kulturelle Tradition der Herkunftsfamilie, welche im Rahmen dieser Arbeit von besonderer Bedeutung.
Die Familie gilt als die wichtigste, als die primäre Sozialisationsinstanz. In ihr findet die früheste und nachhaltigste Prägung der Persönlichkeit eines Kindes statt. Hier findet auch der erste, grundlegende Vorgang des gesamten, lebenslangen Prozesses der Sozialisation statt, die „Soziabilisierung“. In dieser Phase, die in den ersten Monaten des Säuglings stattfindet, erfährt das Kind von Seiten der Eltern Wärme und Zuneigung und lernt dadurch, dass es eine Umwelt um es herum gibt. Durch ein notwendiges Maß an Fürsorge gewinnt es ein Urvertrauen und es werden wichtige Grundsteine dafür gelegt, dass das Kind gesellschaftsfähig wird.
Eine weitere wichtige Phase der Sozialisation ist die „Enkulturation“. Hierbei werden dem Heranwachsenden von seinen Eltern und den Personen, die ihn in den ersten Lebenslagen prägen, kulturspezifische Normen und Verhaltensregeln vermittelt. Das Kind lernt im Enkulturationsprozess also, wie es sich in der Kultur, in der es lebt, zu verhalten hat und verinnerlicht die jeweiligen Traditionen, Werte und Normen.
3.4.1 Aufwachsen zwischen zwei Kulturen
Auch bei Kindern mit Migrationshintergrund ist es so, dass die Werte, die sie von ihrer Familie in den ersten Lebensjahren vermittelt bekommen, prägend für ihre Entwicklung sind.
Irgendwann aber, spätestens dann, wenn sie in den Kindergarten gehen oder in die Schule kommen, erfahren sie, dass die Gesellschaft außerhalb des familiären Umfeldes von anderen Normen und Werten geprägt ist. „In der sekundären Sozialisation lernt der Mensch sein ganzes Leben lang neues soziales Rollenverhalten hinzu. Die Familie verliert ihre Bedeutung als einzige Sozialisationsinstanz.“[42] Für türkische Migrantenkinder bedeutet dieses, dass sie zu Hause im Sinne der Heimatkultur ihrer Eltern erzogen werden, außerhalb des Hauses, in der Schule und im Freundeskreis/ peer-group jedoch mit der deutschen Kultur konfrontiert werden. In der Schule, im Sportverein oder in der Nachbarschaft lernen sich Kinder und Jugendliche deutscher und nicht-deutscher Herkunft kennen und es entstehen multikulturelle Freundschaften. Hierdurch lernen beide Seiten die Kultur des jeweils anderen kennen und es werden Aspekte der anderen Kultur bewusst, welche teilweise dann auch übernommen werden.
Auch die von mir befragten Schülerinnen gaben bis auf wenige Prozent an, dass sie sowohl türkische als auch deutsche, und auch aus verschiedenen anderen Ländern stammende, Freunde und Freundinnen haben.
Welche Freunde/ Freundinnen hast du?
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Doch wie wachsen türkischstämmige Mädchen in Deutschland auf? Von welchen Einflüssen und Faktoren ist ihr Weg zum Erwachsenwerden geprägt?
Die 13. Shellstudie ist im Jahre 2000 mit einer qualitativen Studie unter dem Motto „Jugend 2000 – Fremde hier wie dort“ diesen Fragen nachgegangen. In den Interviews und Gruppendiskussionen der Studie wurde dabei deutlich, dass die türkischen Jugendlichen „sehr in der Gesellschaft integriert sind. Zu dieser Integration gehört, dass die eigene Kultur nicht aufgegeben wird, sondern, dass ihre Werte und Normen teilweise modifiziert oder transformiert werden.“[43]
Während türkische Eltern eine Unterordnung der Interessen ihrer Kinder zugunsten des familiären Wohls fordern, steht in deutschen Schulen und damit für viele deutsche Jugendliche Individualität eher im Vordergrund. Dieses bedeutet für die türkischstämmigen Mädchen einen Balanceakt zwischen den unterschiedlichen Anforderungen der beiden Kulturen. „Zwar akzeptieren die türkischen Jugendlichen offenbar wesentliche durch die Eltern vermittelte Normen und Werte emotional, jedoch versuchen sie häufig, sie im Alltag zu unterlaufen oder eher in Richtungen zu verändern, als (sic!) sie bei deutschen Gleichaltrigen interpretiert werden.“[44] Dieses kann bei türkischstämmigen Mädchen zum Beispiel so aussehen, dass sie zwar ebenso wie ihre Mütter heiraten und auch Kinder bekommen möchten, aber trotzdem einen qualifizierten Beruf erlernen möchten, um nicht nur Hausfrau und Mutter zu sein. Des Weiteren ist es für die Mädchen selbstverständlich, dass sie Respekt vor den Eltern haben und die Ehre der Familie nicht verletzen. Auch wird akzeptiert, dass sie sich hierfür an bestimmte Vorgaben und Regeln halten müssen, aber dennoch wird versucht die Freiheiten, die man hat, zum Beispiel abends wegzugehen, zu vergrößern, zu lockern oder an deutsche Verhältnisse anzupassen.
Betrachtet man die schulische Situation türkischstämmiger Mädchen, so fällt auf, dass „sie zwar ein positives Verhältnis zur Schule haben, jedoch erheblich weniger bei den Anforderungen der Schule unterstützt werden.“[45] Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat hierzu des Weiteren herausgefunden, dass „türkischstämmige Jugendliche prozentual schlechtere Schulabschlüsse haben als deutsche Jugendliche und nach Beendigung der Schule häufig erst einmal in Warteschleifen kommen, bevor sie eine Ausbildung beginnen können.“[46] Selbst wenn sie gute Schulnoten haben, werden deutsche Bewerber mit gleich guten oder schlechteren Noten oftmals bevorzugt. Dieses hängt auch damit zusammen, dass viele Arbeitgeber noch immer Vorurteile gegenüber potentiellen Auszubildenden ausländischer Herkunft haben. Viele muslimische Mädchen erleben jedoch nicht nur in diesem Bereich Diskriminierungen, sondern auch in alltäglichen Situationen. Gerade wenn sie ein Kopftuch tragen, erleben sie oftmals, dass sie aufgrund ihres Erscheinungsbildes und ihrer Herkunft diskriminiert und verurteilt werden. Um sich hiervon nicht unterdrücken zu lassen, benötigen die Mädchen ein gutes Selbstbewusstsein und familiären Rückhalt.
[...]
[1] Vgl. Stadt Duisburg/ Integrationsbüro 2006, S.125.
[2] Frohn, http://www.schlau-nrw.de/material/PM-Sexualaufklaerung-28.02.07_DF.pdf, Stand 28.06.07
[3] Königseder/ Schulze 2005, S. 25.
[4] Jamin 1998, S. 208 f.
[5] Vgl. Bach 1980, S. 21.
[6] Bundeszentrale für politische Bildung 1992, S. 3.
[7] Rauschenbach 2006, S. 4.
[8] Ebd.
[9] Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (Hrsg.) 2002, S. 32.
[10] Stadt Duisburg/ Integrationsbüro 2006, S.130.
[11] Elger 2001, S.137.
[12] Halm 2000, S. 7 f..
[13] Elger 2001, S.100.
[14] Vgl. ebd., S. 89.
[15] Ebd., S. 94 f..
[16] Ebd., S.209.
[17] Maier 2001, S. 74 f..
[18] Vgl. Stadt Duisburg/ Integrationsbüro 2006, S.130.
[19] Elger 2001, S. 279.
[20] Omar 1999, S.43.
[21] Bellinger 1999, S. 461.
[22] Ebd., S. 467.
[23] Ebd., S. 471.
[24] Insieme-Agentur für interkulturelle und antirassistische Bildung 2006, S. 14.
[25] Vgl. ebd.
[26] Petersen 1988, S.29.
[27] Ebd., S. 8.
[28] Insieme- Agentur für interkulturelle und antirassistische Bildung 2006, S. 15.
[29] Petersen 1988, S. 11.
[30] Vgl. ebd.
[31] Schiffauer 1983,S. 75.
[32] Petersen 1988, S. 32.
[33] Vgl. Insieme-Agentur für interkulturelle und antirassistische Bildung 2006, S. 15.
[34] ebd.
[35] Vgl. ebd.
[36] Vgl. Anhang: Interview mit Frau B., (122/46-123/12)
[37] Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2001, S. 224.
[38] Hurrelmann 2002, S. 15 f..
[39] Schäfer 2003, S. 255.
[40] Ebd., S. 435.
[41] Zimmermann 2003, S.17.
[42] Bachmann 1988, S. 16.
[43] Blank 2000, S. 9.
[44] Ebd., S. 10-11.
[45] Vgl. Reißig 2006, S. 7.
[46] Vgl. ebd.
- Arbeit zitieren
- Dipl. Pädagogin Melanie Tilscher (Autor:in), 2007, Sexualpädagogik in Schulklassen mit muslimischen Schülerinnen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86460
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