Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann: zwei großartige Soziologen einer Generation, deren wissenschaftliches Soziologieverständnis kaum gegensätzlicher sein könnte. Bourdieu lässt sich eher als „Praktiker“ beschreiben, der es als seine Pflicht betrachtet, sein, durch wissenschaftliche Forschung entwickeltes Wissen im gesellschaftlichen Alltag gerade für die sozial benachteiligten Akteure einzusetzen. Er provozierte, besser: kämpfte teilweise fast schon distanzlos mitten im Feld seiner Untersuchungen (also: praxisnah), mit dem Ziel einen gesellschaftlichen Wandel im Frankreich der 1970er Jahre herbeizuführen. Der „gleichzeitig bescheidene und selbstbewusste Gestus“ (Nassehi/Nollmann 2004, S. 9) Luhmanns hingegen beschreibt ihn eher als klassischen Theoretiker, der operationale Begriffsbestimmungen vornahm. Er war an einer ausschließlich theoretischen Arbeit interessiert. Beide Sozialwissenschaftler verfolgten jedoch ein gemeinsames Ziel. Sowohl die Analysen zu Bourdieus Distinktionstheorie als auch die zu Luhmanns Systemtheorie sind an der modernen Gesellschaft orientiert. Zunächst scheinen beide viel zu verschieden, um eine sinnvolle Vergleichbarkeit anzugehen. Doch nachdem hier beide Theorien in ihren Grundzügen dargestellt werden, wobei eine sinnvolle Reihenfolge auf Grund eines weitreichenden Ineinandergreifens einzelner Theorieaspekte wohl nur bedingt erfolgen kann, eröffnet ein theoretischer Vergleich interessante Ähnlichkeiten und Unterschiede in ihren Theoriekonstruktionen. Diese müssen als solche aber gar keine große Gewichtung erhalten. Denn im Sinne der Forderung Webers (2005, S. 9f), sinnhaftes Verhalten generalisierend zu erklären, sollten die beiden hier behandelten Werke als sich gegenseitig ergänzende und nicht konkurrierende verstanden werden. Beide Soziologen strebten keinerlei theorievergleichend ausgerichtete soziologische Arbeiten an. Und ein genereller Vergleich lässt sich hier aufgrund der enormen Komplexität und Abstraktion beider Denkmodelle nicht realisieren.
Trotz einer Gegenüberstellung beider Denker dürfen die Gemeinsamkeiten nicht übertrieben werden. Auch wenn manche Ähnlichkeiten oder sogar Parallelitäten zu erkennen sind, liegen letztlich die entwickelten Theorien sehr weit auseinander. Und zwar in den Formen einer „Reformulierung des Strukturalismus und der Systemtheorie“ (Nasshi/Nollmann 2004, S. 18).
Gliederung
1 Einleitung
2 Pierre Bourdieu
2.1 Distinktionstheorie Bourdieus
2.1.1 Differenzierungsbegriff Bourdieus
2.1.2 Kapitalbegriff Bourdieus
2.1.3 Habitusbegriff Bourdieus
2.1.4 Klassenbegriff Bourdieus
2.2 Gegenwartsgesellschaft als Einheit sozialer Felder und als Geschmacksfrage
2.3 Position des wissenschaftlichen Beobachters
2.4 Zusammenfassung
3 Niklas Luhmann
3.1 Systemtheorie Luhmanns
3.1.1 Differenzierungsbegriff Luhmanns
3.1.2 Systembegriff Luhmanns
3.1.3 Entstehung sozialer Systeme
3.1.4 Klassenbegriff Luhmanns
3.2 Gegenwartsgesellschaft als Kommunikationsbegriff
3.3 Position des wissenschaftlichen Beobachters
3.4 Zusammenfassung
4 Gegenüberstellung der theoretischen Konstruktionen
4.1 Wissenschaftliches Soziologieverständnis und Arbeitsweise
4.2 Selbstreflexion
4.3 Theoriekonstruktion
4.3.1 Theorietraditionen
4.3.2 Kollektive Praxis vs. individualistische Grundlage
4.3.3 Differenzierungsbegriff
4.3.4 Klassenbegriff
4.4 Beschreibung der Gegenwartsgesellschaft
4.5 Position des wissenschaftlichen Beobachters
4.6 Zum Schluss
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann: zwei großartige Soziologen einer Generation, deren wissenschaftliches Soziologieverständnis kaum gegensätzlicher sein könnte. Bourdieu lässt sich eher als „Praktiker“ beschreiben, der es als seine Pflicht betrachtet, sein, durch wissenschaftliche Forschung entwickeltes Wissen im gesellschaftlichen Alltag gerade für die sozial benachteiligten Akteure einzusetzen. Er provozierte, besser: kämpfte teilweise fast schon distanzlos mitten im Feld seiner Untersuchungen (also: praxisnah), mit dem Ziel einen gesellschaftlichen Wandel im Frankreich der 1970er Jahre herbeizuführen. Der „gleichzeitig bescheidene und selbstbewusste Gestus“ (Nassehi/Nollmann 2004, S. 9) Luhmanns hingegen beschreibt ihn eher als klassischen Theoretiker, der operationale Begriffsbestimmungen vornahm. Er war an einer ausschließlich theoretischen Arbeit interessiert. Beide Sozialwissenschaftler verfolgten jedoch ein gemeinsames Ziel. Sowohl die Analysen zu Bourdieus Distinktionstheorie als auch die zu Luhmanns Systemtheorie sind an der modernen Gesellschaft orientiert. Zunächst scheinen beide viel zu verschieden, um eine sinnvolle Vergleichbarkeit anzugehen. Doch nachdem hier beide Theorien in ihren Grundzügen dargestellt werden, wobei eine sinnvolle Reihenfolge auf Grund eines weitreichenden Ineinandergreifens einzelner Theorieaspekte wohl nur bedingt erfolgen kann, eröffnet ein theoretischer Vergleich interessante Ähnlichkeiten und Unterschiede in ihren Theoriekonstruktionen. Diese müssen als solche aber gar keine große Gewichtung erhalten. Denn im Sinne der Forderung Webers (2005, S. 9f), sinnhaftes Verhalten generalisierend zu erklären, sollten die beiden hier behandelten Werke als sich gegenseitig ergänzende und nicht konkurrierende verstanden werden. Beide Soziologen strebten keinerlei theorievergleichend ausgerichtete soziologische Arbeiten an. Und ein genereller Vergleich lässt sich hier aufgrund der enormen Komplexität und Abstraktion beider Denkmodelle nicht realisieren.
Trotz einer Gegenüberstellung beider Denker dürfen die Gemeinsamkeiten nicht übertrieben werden. Auch wenn manche Ähnlichkeiten oder sogar Parallelitäten zu erkennen sind, liegen letztlich die entwickelten Theorien sehr weit auseinander. Und zwar in den Formen einer „Reformulierung des Strukturalismus und der Systemtheorie“ (Nasshi/Nollmann 2004, S. 18).
2 Pierre Bourdieu
2.1 Distinktionstheorie Bourdieus
Bourdieu geht in seinem soziologischen Werk der „Idee einer radikalen Gebundenheit jeglicher Praxis an ihren sozialen Ort, ihre soziale Formierung und ihren sozialen Sinn“ (Nassehi/Nollmann 2004, S. 10) nach. Alles individuelle steht demnach im engen Zusammenhang zum sozialen Leben. Es ist an den sozialen Raum und die soziale Herkunft, welche einen bestimmten Habitus fördert angehangen. Aus ihm resultieren ganz bestimmte persönliche Verhaltensstile, die durch soziale Einflüsse hervorgebracht werden.
Sein Schwerpunkt liegt in der Analyse der fortlaufenden wechselseitigen Konstitution sozialen Handelns und sozialer Strukturen, wobei er auf einen Zusammenhang von Handlungen, Handlungsbedingungen und -wirkungen besteht. Denn aus den Handlungsbedingungen als Resultat sozialen Handelns (Wirkung) erwachsen bestimmte soziale (ungleiche) Strukturen (Jäger/Meyer 2000, S. 161), die nicht per se vorhanden sind, sondern von handelnden Individuen (wieder) in Gang gebracht und aufrechterhalten werden (Treibel 1997, S. 203).
Bourdieu wusste um die Beeinflussung der wissenschaftlichen Arbeit durch die Alltagserfahrungen des Forschers. Um aber eine möglichst „reflexive Distanz zu seiner Disziplin“ (ebd.) zu gewinnen, hat er immer wieder den Bezug zur Philosophie gesucht.
2.1.1 Differenzierungsbegriff Bourdieus
Die soziale Welt ist nach Bourdieu in verschiedenste soziale Felder ausdifferenziert, welche relativ autonom sind und die Gesellschaftsstruktur wiederspiegeln. Deren Konstitution beruht auf einem fortschreitenden „Differenzierungs- und Verselbständigungsprozess“ (Bourdieu 1998, S. 149), wobei sie sich als eigenständige Universen innerhalb eines sozialen (Gesamt-) Feldes konstituieren und jeweils „eine Art Welt für sich“ (Bourdieu 2001, S. 30) bilden. Im Sinne einer emergenztheoretischen Betrachtung grenzen sie sich von anderen sozialen Feldern ab. Je mehr Macht und Autonomie ein soziales Feld gegenüber anderen aufweisen kann, umso höher ist seine hierarchische Positionierung zu bewerten. Prinzipiell werden die Grenzen der sozialen Felder im Resultat einer feldinternen Logik durch Hierarchisierungsprinzipien festgelegt. Kraft ihrer feldinternen Strukturen legen die Felder selber fest, welche sozialen Positionen (noch) zum Feld gehören. Kneer wirft nun ein, dass Bourdieu zwei Beschreibungen bezüglich der Grenzziehung sozialer Felder anbietet, deren Gegensätzlichkeit er „selbst allerdings nicht bemerkt zu haben“ (Kneer 2004, S. 50) scheint. Wohl endet ein Feld dort, wo sein Einfluss endet. Das schließt meines Erachtens nicht aus, dass feldübergreifende und damit -externe Wirkungen bestehen, deren Intensitäten -plastisch dargestellt- mit zunehmender Entfernung vom einflussnehmenden Feld abnehmen. Eine solche Beschreibung der Grenzen sozialer Felder macht ja gerade deutlich, dass diese nicht eindeutig zu ziehen, sondern eher verschwommen sind.
Bourdieu differenziert darüber hinaus verschiedene soziale Klassen mit Hilfe der Geschmackstheorie. Damit führt er ein neuartiges Klassifikationssystem ein, welches sich an einem Ökonomiebegriff im weitesten Sinne orientiert, der sämtliche kulturellen Praktiken einschließt und den individuellen Zugang zu bestimmten sozialen Feldern gesellschaftlich regelt (und umgekehrt). Zwischen beiden, dem Habitus (doxa: Anerkennung der Regeln) und den sozialen Feldern (illusio: Anerkennung der Einsätze) besteht eine sehr enge Verzahnung in der Art, dass sie sich gegenseitig bedingen (Barlösius 2004, S. 151).
2.1.2 Kapitalbegriff Bourdieus
Bourdieu widmet sich ähnlich wie Karl Marx Fragen der Ökonomie, doch sind seine Überlegungen ungleich umfangreicher im Vergleich zum klassischen Materialismus. Denn er führt den Begriff der „Ökonomie“ gezielt in solche Praxisfelder ein, die gesellschaftlich nicht als ökonomische Felder anerkannt sind. Auch das Nicht-Ökonomische wird von ihm in ökonomischer Hinsicht erklärt: es geht in der Praxis aller sozialen Felder um den Kampf um Ressourcen, Investitionsgewinne und Positionsverbesserungen, wobei die einzelnen Teilfelder nach Bourdieu ihre je eigene Form der Ökonomie ausbilden. Die Grundlage bildet dabei das Prinzip des Knappheitsausgleichs, wobei die Währungen variieren. Er betont, dass Arbeit nicht nur die akkumulierte Leistung von ökonomischen oder materiellen Kapital sei, sondern auch in Form von kulturellen und sozialen Kapital ihren Ausdruck finde (Bourdieu 1992b). Darüber hinaus sind die feldinternen Kapitalien im Frankreich der 1970er Jahre ungleich verteilt. Entsprechend resultieren daraus ungleiche soziale Bedingungen mit Vor- und Nachteilen für die Mitglieder einer Gesellschaft.
Die (Haupt-) Kapitalsorten besitzen in den sozialen Feldern bestimmte Bedeutungen, woraus feldspezifische individuelle optimale Kapitalzusammensetzungen resultieren (Barlösius 2004, S. 158). Es geht zwar auch um Kapitalmaximierung, hauptsächlich aber darum, „die Herrschaft über die Verteilungsstruktur des Kapitals zu erringen“ (ebd. S. 156). Die Struktur von Kapitalien geht einher mit Machtverhältnissen. Dies gilt sowohl auf der Makro-(zwischen den Feldern), als auch auf der Mikroebene (feldinterne Positionierung). Damit manifestiert sich bei Bourdieu sozialer Sinn, die Praxis als ein Kampf um die Steigerung von Machteinfluss, indem die Anteile an (gesellschaftlich prinzipiell zu gering) verfügbaren wichtigen Ressourcen erweitert werden. Die gegenwärtige Position der Akteure im Feld resultiert zum „fraglichen Zeitpunkt (aus) der gegebene(n) Verteilung der verschiedenen Kapitalarten“ (Bourdieu 1996, S. 381) und regelt entsprechend der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit die Inklusionschancen für bestimmte gesellschaftliche Bereiche. Dabei kann der Einsatz einer bestimmten Kapitalform den Kampf um größere Anteile der gleichen Kapitalform belohnen. Darüber hinaus lassen sich die Kapitalsorten in andere Kapitalsorten konvertieren (Weinbach 2004, S. 77), was allerdings den oberen und mittleren Klassenlagen vorbehalten sein dürfte, da nur sie über die dafür nötigen Kapitalien verfügen (Treibel 1997, S. 211).
Eine allgemeine sinnhafte Bedeutung erlangen die Kapitalsorten aufgrund ihrer Knappheit und Begehrtheit, die gesellschaftlich erzeugt wird. Indem Bourdieu die ökonomischen Begriffe einführt, kann er den sozialen Sinn aber ausschließlich nur in der Sozialdimension eruieren.
2.1.3 Habitusbegriff Bourdieus
Bourdieus Überlegungen, weshalb und inwieweit bestimmte „feine Unterschiede“ (1996) zwischen den Akteuren einer Gesamtgesellschaft zu ungleichen sozialen Bedingungen führen, die zudem feldübergreifend wirken, münden in sein Habituskonzept. Dieses ist für sein gesamtes Werk zentral. Dafür liefert er eine komplexe Definition[1], welche aber niemals eindeutig und immer innerhalb des jeweiligen Zusammenhangs zu betrachten ist. Ihm kommt es darauf an, den Habitusbegriff einzukreisen, um ihn so möglichst nahe zu beschreiben. Er subsumiert unter diesen Begriff Merkmale einer Person wie Konsequenzen, Gewohnheiten, Einstellungen, Überzeugungen et cetera, welche sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit und ihrer Sozialisation in einer (durch Geburt: mehr oder weniger festgelegten) Klasse erwerben konnte.
Der Begriff des Habitus ist ein Oberbegriff und lässt sich tiefergehend differenzieren[2]. Bourdieu interessiert sich primär für den klassenspezifisch erworbenen Habitus.
Die individuelle Lebensgeschichte prägt in Abhängigkeit zur Klassenzugehörigkeit den individuellen Habitus, der sich in Form von Grenzen der Kognitionen und der Handlungsmöglichkeiten offenbart. Ähnliche Lebensbedingungen mehrerer Akteure erzeugen einen ihnen ähnlichen Habitus. Durch die Sozialisation werden vorreflexive Dispositionen, Bewegungen und Haltungen individuell einverleibt, welche die Inklusionschancen und die Wahrung von Distinktionen regeln (Fröhlich 1994). Der Habitus der Akteure wird also über die hierarchisch verortete soziale Position innerhalb der Gesellschaft geprägt und findet im Lebensstil, im Geschmack seinen Ausdruck. Der Geschmacksbegriff gilt dabei als „Grundlage alles dessen, was man hat -Person und Sachen-, wie dessen, was man für die anderen ist, dessen, womit man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird“ (Bourdieu 1996, S. 104). Die Akteure in Bourdieus Gesellschaftstheorie unterscheiden sich darin voneinander.
Entscheidend dabei ist, dass der individuelle Geschmack prinzipiell nicht das Resultat individueller Neigungen sein kann, sondern stets von der sozialen Herkunft abhängig ist und somit als kollektives Urteil, als ein gesellschaftlich produziertes Abbild interpretiert werden muss. Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Denkweisen, kognitive und normative Verhaltenserwartungen sind also überwiegend das Resultat klassenspezifischer Sozialisationsphänomene, die wiederum durch alltägliche Handlungen selber strukturierend auf die Gesellschaft einwirken (Nassehi/Nollmann 2004, S. 17). Die kollektive Praxis passt sich der Sozialstruktur an und gleichzeitig wird die Reproduktion der Sozialstruktur durch diese Praxis gewährleistet, indem der Habitus „als Erzeugnis einer bestimmten Klasse objektiver Regelmäßigkeiten (...) die ¢vernünftigen¢ Verhaltensweisen des ¢Alltagsverstandes¢ zu erzeugen“ (Bourdieu 1993, S. 104) sucht. Der Habitus ist also Ergebnis einer organisierten Aktion (opus operatum), aber gleichzeitig auch Werkzeug für die Organisation einer Aktion (modus operandi) (ebd. S. 98) und darüber hinaus „nicht nur strukturierende (...), sondern auch strukturierte Struktur“ (Bourdieu 1996, S. 279).
Zwar betont Bourdieu, dass Personen, die einer gemeinsamen Klasse zugeordnet werden können, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch über einen gemeinsamen oder aber zumindest ähnlichen Habitus verfügen. Doch reicht die Klassenzugehörigkeit alleine nicht aus, um den Habitus zu bestimmen. Sie ermöglicht aber dem Individuum ganz bestimmte Kapitalausstattungen. Entsprechend ergeben sich Handlungsspielräume im Rahmen der daraus resultierenden körperlichen, praktischen und kognitiven Perspektive (Weiß 2004, S. 215). Damit wird deutlich, dass der Habitus unter bestimmten Bedingungen hervorgebracht wurde, welche nun wiederum künftige Verhaltensweisen und Lernprozesse (normativ) bestimmen.
Bourdieu glaubt, dass der Mensch dazu neigt, seine erworbenen Verhaltensmuster größtenteils beizubehalten, so dass die grundlegende Struktur seiner habituellen Disposition erhalten bleibt und die Praxis individuellen Handelns bestimmt. Dennoch betont er, dass es sich um ein flexibles System psychisch und physisch intuitiver Neigungen und Deutungsmuster handelt. Weil sich die Handlungsstruktur, also der Habitus eines Individuums in Abhängigkeit zu seinen Erfahrungen entwickelt und somit konstitutiv auf seine Handlungen wirkt, gilt er als nur relativ stabil, also veränderlich entsprechend den kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungen (Schwingel 1995, S. 62). Zu bedenken ist dabei aber, dass er auf der Grundlage aller Erfahrungen entsteht und somit in aller Regel doch sehr stabil ist. Diese relativ stabilen Verhaltensdispositionen garantieren dem Besitzer die Möglichkeit, sich in klassenspezifischen alltagstypischen Situationen gemäss den Erwartungen der sozialen Umwelt zu verhalten und darüber hinaus sogar wie erwartet diese zu bewerten. Somit wird eine gemeinsame sinnhafte Welt ermöglicht, die nach gewissen Regeln funktioniert. „Die Übereinstimmung der Praktik mit der Regel verschafft nämlich einen zusätzlichen symbolischen Gewinn, der sich daraus ergibt, der Regel gemäß zu handeln, das zu tun, was sich gehört, der Regel und den Werten der Gruppe Ehre zu erweisen“ (Bourdieu 1992a, S. 100) und eine Welt des sensus communis zu reproduzieren. „Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen“ (Bourdieu 1993, S. 127). Damit entsteht eine temporäre Kopplung zwischen Psychischem und Sozialem, die sich situationsabhängig als körperlich ausgedrückte soziale Haltungen von Alter beobachten lässt. „Da die Wahrnehmungsdispositionen tendenziell an die Positionen angepaßt sind, nehmen selbst noch die am wenigsten privilegierten Akteure tendenziell die Welt als selbstverständlich wahr und akzeptieren sie weitreichender, als man sich vorstellen würde“ (Bourdieu 1992a, S. 144).
Bourdieu kommt nicht umhin, den Habitus als das Handeln eines Akteurs zu beschreiben, welches er zwar selbst vollbringt, das aber dennoch als eine offensichtlich vorreflexive Verhaltensdisposition, die nicht gewählt wird, sondern als Prädisposition aller Wahlentscheidungen fungiert. Das klingt schon nach Strukturalismus, den Bourdieu gerade kritisierte. Weil aber - und darauf insistiert Bourdieu - sich der Habitus in der Praxis selbst reproduziert, kann er durch diese Steuerung den objektiven Strukturalismus überwinden. Damit wird der Habitus zwar zu einer vorreflexiven aber nicht strukturalistischen Verhaltensdisposition.
Mit dem Bourdieuschen Habituskonzept wird nicht eine Kausalität, die von der Ebene der sozialen Positionen auf die Ebene der Lebensstile verweist gedacht. Bourdieu nähert sich der Forderung Webers und rekonstruiert sinnhaftes Verhalten auf der Ebene der klassenspezifischen Praxis und kann so menschliches Verhalten plausibel erklären. Das ist es, was Bourdieu als die Logik der Praxis, als „die Logik der ereignistemporalen Gegenwart“ (Nassehi 2004, S. 164) bezeichnet, „die anders ist als die Logik der Logik“ (Bourdieu 1993, S. 157).
Bourdieu sieht in der modernen Gesellschaft Lebensläufe nicht nur durch die soziale Herkunft geformt, sondern auch umgekehrt konstituieren sich die sozialen Klassen durch die typischen Lebensverläufe.
2.1.4 Klassenbegriff Bourdieus
Bourdieu orientiert sich an Webers (2005, S. 679ff) Analysen und übernimmt den herkömmlichen Begriff Klasse, den er aber als zu eng gefasst bewertet. Deshalb führte er in seine Überlegungen den Begriff des sozialen Raumes ein, welcher sich in zwei analytisch getrennte, tatsächlich aber ineinander verschachtelte Räume untergliedert: Raum der sozialen Positionen und Raum der Lebensstile (Bourdieu 1996, S. 212f) .
Die Position ergibt sich aus der jeweiligen Stellung des Akteurs, die sich wiederum aus der Quantität, der Qualität und der Struktur seiner verfügbaren Kapitalien resultiert. Jede Position muss dann in Relation zu anderen noch möglichen Positionen betrachtet werden (ebd. S. 126). Dabei müssen die Handlungskompetenzen der Akteure mit ihren jeweiligen Positionen innerhalb der Felder kompatibel sein. Daraus resultierende (Klassen-) Strukturen können laut Bourdieu über Generationen hinweg erhalten bleiben, da man nach ihm häufig schon in die Positionen „hineingeboren“ wird. Die Sozialisation vor allem mittels kulturellen und sozialen Kapitals trägt entscheidend dazu bei.
Innerhalb des sozialen Raumes unterscheidet Bourdieu drei soziale Klassen: Groß- und Bildungsbürgertum, Kleinbürgertum und Arbeiterschicht. Dabei ist „eine gesellschaftliche Klasse (...) nicht nur durch ihre Stellung in den Produktionsverhältnissen bestimmt, sondern auch durch den Klassenhabitus“ (Bourdieu 1996, S. 585). Eine statistische Positionierung der Akteure im sozialen Raum resultiert nach Bourdieu aus den individuell verfügbaren Gesamtkapitalvolumen einerseits und aus der Struktur dieses akteurspezifischen Gesamtvolumens. Dabei ergeben sich selbst klassenintern Differenzen[3], wobei derart objektivierte Klassen als inkorporierte Klassen ihren Ausdruck finden (Bourdieu 1996, S. 686). Das heißt, dass sich entsprechend der Position der Akteure im sozialen Raum Klassenlagen differenzieren lassen, die als „Ensembles (...) von Akteuren mit ähnlichen Stellungen (...) und ähnliche(n) Praktiken und politisch-ideologische(n) Positionen“ (ebd. S. 12) beschreibbar werden. Nicht alleine die Einkommenshöhe, sondern primär der vorhandene Habitus bringt Geschmäcker zum Ausdruck, die bei gleicher Einkommenshöhe deutlich variieren können (Bourdieu 1996, S. 590f).
Zwar gehen ähnlicher Geschmack und Lebensstil „fast immer aus denselben ökonomischen Bedingungen hervor (...), so daß sich dem Einkommen eine kausale Wirkung zuschreiben läßt, die es aber tatsächlich nur in Verbindung mit dem Habitus ausübt, der ihn hervorgebracht hat“ (ebd. S. 590).
Bourdieu (1995) betont, dass ein objektiv beobachtender Theoretiker zwar eine Vielzahl von Unterschieden zwischen den Akteuren ausmachen kann, dass aber eine Gemeinsamkeit dieser Unterschiede noch keine gemeinsame soziale Klassenlage hervorbringen muss. Stattdessen hebt er hervor, „dass es sich um ¢Klassen auf dem Papier¢ handele, die die Soziologie aus der Verteilung mehrerer Kapitalsorten rekonstruiert“ (Weiß 2004, S. 209). Damit meint er, dass die Wahrscheinlichkeit ähnlicher Lebensstile zunimmt, sofern Akteure ähnliche Sozialisationserfahrungen, ähnliche Ressourcen an Kapitalien und einen ähnlichen Habitus aufweisen. Letztlich determiniert die Struktur der Beziehungen der analysierten Merkmale die Position im sozialen Raum entscheidend und präsentiert sich im Rahmen symbolischer Kämpfe.
Die sozialen Positionen der Akteure gehören zur Strukturebene, die Bourdieu mit den Lebensstilen auf der Praxisebene verbindet. Eine solche Verflechtung von Struktur- und Praxisebene, von sozialen Positionen und Lebensstilen gelingt ihm mit dem Brückenbegriff Habitus (Burzan 2004, S. 138f). Mit einer solchen Begrifflichkeit beschreibt Bourdieu die gesellschaftliche Wirklichkeit, welche gerade in unterschiedliche Handlungsschemata sedimentiert und festgeschrieben ist.
2.2 Gegenwartsgesellschaft als Einheit sozialer Felder und als Geschmacksfrage
Bourdieu macht innerhalb des sozialen Makrokosmos entsprechend des Verhältnisses von Kapitalsorten und -mengen privilegierte und benachteiligte Orte aus. Dies zeichnet sich als gegliederter Raum mit einer Vielzahl relational positionierter sozialer Felder ab. Die Struktur des sozialen Makrokosmos gibt gewisse Rahmenbedingungen vor, innerhalb dessen die einzelnen sozialen Felder im Zusammenhang mit einem „in der sozialen Welt (...) fortschreitende(n) Differenzierungsprozeß“ (ebd.) spezielle Gesetze, eine ihnen eigene interne Logik entwickeln. Sie ist nicht das Resultat einer sozialen gesamtgesellschaftlichen Struktur, sondern das einer polykontexturalen Gesellschaft.
Auch wenn sich die Grenzen sozialer Felder nicht eindeutig beschreiben lassen, steht dennoch fest, dass feldintern eine Vielzahl sozialer Positionen existend sein können, wobei im Feld selbst entschieden wird, welche Positionen noch dazu gehören. Zwar werden sie von Personen ausgefüllt, doch können diese in verschiedenen Feldern tätig sein. Bourdieu spricht deshalb von Akteuren und meint damit die Inhaber bestimmter Positionen im Feld.
Die Mikroebene unterteilt er in Abhängigkeit des individuellen Potentials an bestimmten Ressourcen (ökonomische, soziale, kulturelle) in sozial über- und untergeordnete Schichten. Innerhalb einer solchen Grundstruktur dreht sich zwar alles um den Kampf erhöhter Anteile begehrter (knapper) Ressourcen, bei dem Akteure mal Mehr und mal Weniger abbekommen, aber das Grundschema von Oben und Unten bleibt dennoch stabil. Bourdieu versucht mit Hilfe der Geschmackstheorie den Zusammenhang von Klassenlagen und -positionen, Bildungspartizipation, Kulturkonsum und Lebensstil als Mittel zur Identitätsfindung und Distinktion[4] aufzudecken. Er geht von der Annahme aus, dass die verschiedenen Lebensstile vor allem Ausdruck verschiedener Klassenzugehörigkeiten sind und die Geschmäcker und Lebensstile mit den Klassenzugehörigkeiten korrelieren (Bourdieu 1996, S. 18). Gesellschaft zeichnet sich nun als ein Phänomen ab, das durch den Habitus der interagierenden Akteure strukturiert wird. Dabei sind für die von Bourdieu analysierten verschiedenen Felder bestimmte Regeln konstitutiv, welche den Akteuren typische Verhaltens- und Handlungsnormen an die Hand geben. Der individuelle Besitz bestimmter Kapitalsorten kann in bestimmten Feldern soziale Vorteile begünstigen (Jäger/Meyer 2000, S. 155) und erhält seine Spannung durch den ständigen Konkurrenzkampf bezüglich des Kräfteverhältnisses (Kapitalressourcen) zwischen den Akteuren oder ihren Gruppen (Kneer 2004, S. 38ff). „Das Scharnier zwischen Feld und Habitus (...) besteht (...) aus den Kapitalien“ (Barlösius 2004, S. 160).
[...]
[1] Vgl. Bourdieu (1976, S. 164).
[2] Vgl. Treibel (1997, S. 207) und Nollmann (2004, S. 130).
[3] Vgl. Bourdieu (1998, S. 18-21).
[4] Vgl. Bourdieu (1995, S. 21).
- Quote paper
- Sascha Luppa (Author), 2007, Eine Gegenüberstellung der theoretischen Konstruktionen Pierre Bourdieus und Niklas Luhmanns, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86363
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