Die nur drei Jahre, die die Tschechoslowakische Dritte Republik von Frühling 1945 bis Februar 1948 durchlebte, stellen einen sehr beschränkten Berichtszeitraum dar. Doch die Menge der Weichenstellungen, die sich für das weitere Schicksal der Tschechoslowakei in diesem Jahrhundert in der kurzen Spanne zwischen dem nationalsozialistischen und dem stalinistischen Totalitarismus ereignet haben, machen diesen Zeitabschnitt in bezug auf die Tschechoslowakei zweifellos zu einem der schicksalsträchtigsten im 20. Jahrhundert. Die bemerkenswerte Dichte von politischen Entscheidungen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüchen und nicht zuletzt zwei Bevölkerungstransfers von gewaltigen Ausmassen deuten darauf hin, dass sie in einer Gesellschaft erfolgten, deren Charakter sich in Folge des Zweiten Weltkrieges deutlich gewandelt hatte. So ist man gut beraten, die Jahre bis zur – wenigstens äusseren – Konsolidierung des kommunistischen Regimes in direkter Folge des Krieges zu sehen. Nur so werden die Geschwindigkeit und Dichte an Ereignissen begreifbar. Nur so kann letztendlich halbwegs verständlich werden, wie sich die zur Zwischenkriegszeit von demokratischen und bürgerlichen Traditionen gekennzeichnete Tschechoslowakei nach dem Krieg zu dem Staate in Europa entwickeln konnte, in dem Kommunisten in freien Wahlen am meisten Wählerstimmen errungen haben.
Zum Schatten, den der gerade beendete Krieg auf die Gegenwart und Zukunft warf, kam der Schatten Stalins dazu. In einer sich auf-spaltenden Welt gab es keine Mitte für Unentschlossene mehr. Die aussenpolitische Konstellation, vor allem das Sich-Abzeichnen des Ost-West-Gegensatzes, bestimmte die innenpolitische Entwicklung der ČSR massgeblich und es kann nur darüber spekuliert werden, welche Wendung die tschechoslowakische Nachkriegsentwicklung unter andern aussenpolitischen Konstellationen genommen hätte.
Die als Überblicksstudie verfasste Arbeit schliesst mit einer knappen Darstellung der politischen Entwicklung nach der Erreichung der kommunistischen Monopolmacht im Februar 1948 bis ins Jahr 1953.
INHALT
1. Einleitung
2. Zum Stand der Forschung
3. Die ČSR unmittelbar nach Kriegsende – Kaschauer Programm, Slowakische Frage, Dekrete des Präsidenten
4. Die Neubesiedlung des Grenzlandes 1945-1947: Die grösste Migration der tschechischen Geschichte
5. Die Parlamentswahlen von 1946
6. Die Position der Nachkriegstschechoslowakei in Europa
7. Der Weg zum „Siegreichen Februar“ und der Kollaps der demokratischen Kräfte – Ereignisse, Akteure, Wertung
8. Die Konsolidierung des Regimes und politische Verfolgung bis 1953
9. Schlussüberlegungen
ANHANG
Diagramm: Die Parlamentswahlen vom 26. Mai 1946
Literatur
1. Einleitung
Die nur drei Jahre, die die Tschechoslowakische Dritte Republik von Frühling 1945 bis Februar 1948 durchlebte, stellen eigentlich einen sehr beschränkten Berichtszeitraum dar. Doch die Menge der Weichenstellungen, die sich für das weitere Schicksal der Tschechoslowakei in diesem Jahrhundert in der kurzen Spanne zwischen dem nationalsozialistischen und dem stalinistischen Totalitarismus ereignet haben, machen diesen Zeitabschnitt in bezug auf die Tschechoslowakei zweifellos zu einem der schicksalsträchtigsten im 20. Jahrhundert. Die bemerkenswerte Dichte von politischen Entscheidungen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüchen und nicht zuletzt zwei ethnische Massentransfers von gewaltigen Ausmassen deuten darauf hin, dass sie in einer Gesellschaft erfolgten, deren Charakter sich in Folge des Zweiten Weltkrieges deutlich gewandelt, ja radikalisiert hatte. So ist man gut beraten, die Jahre bis zur – wenigstens äusseren – Konsolidierung des kommunistischen Regimes in direkter Folge des Krieges zu sehen. Nur so werden die Geschwindigkeit und Dichte an Ereignissen begreifbar. Nur so kann letztendlich halbwegs verständlich werden, wie sich die zur Zwischenkriegszeit von demokratischen und bürgerlichen Traditionen gekennzeichnete Tschechoslowakei nach dem Krieg zu dem Staate in Europa entwickeln konnte, in dem Kommunisten in freien Wahlen am meisten Wählerstimmen errungen haben.
Es war nicht nur der Krieg, der die Gesellschaft gewandelt hatte. Es war aber auch nicht nur die Gesellschaft, die die Ereignisse bestimmte. Zum Schatten, den der gerade beendete Krieg auf die Gegenwart und Zukunft warf, kam der Schatten Stalins dazu. In einer sich aufspaltenden Welt gab es keine Mitte für Unentschlossene mehr. Die aussenpolitische Konstellation, d.h. vor allem das Sich-Abzeichnen des Ost-West-Gegensatzes, bestimmte die innenpolitische Entwicklung der ČSR massgeblich und es kann nur darüber spekuliert werden, welche Wendung die tschechoslowakische Nachkriegsentwicklung unter andern aussenpolitischen Konstellationen genommen hätte.
Diese Arbeit kann im gebotenen Umfang nicht anders als selektiv und oberflächlich beschreibend sein. Einige gewiss nicht irrelevante Aspekte der in den Berichtszeitraum fallenden Entwicklung kommen bewusst gar nicht erst zur Sprache – am augenfälligsten nicht die kulturelle Entwicklung. Es wurde dennoch versucht, Ungenauigkeiten weitestgehend zu vermeiden und besonders die Herkunft von Zahlenangaben in den Anmerkungen zu belegen. Der knappe Berichtsstil verengt sich in bezug auf die Entwicklung nach 1948 bewusst noch weiter.
2. Zum Stand der Forschung
Auch wenn die offizielle Geschichtsschreibung innerhalb der Tschechoslowakei begreiflicherweise seit der Erringung des Machtmonopols durch die Kommunisten bis zur „Samtenen Revolution“ vom November 1989 wenig Objektives zur Erforschung der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte des eigenen Landes hervorgebracht hat, so ist der Zeitraum von 1945 bis Februar 1948 durch eine schier unüberschaubare Anzahl von im Ausland oder in der Tschechoslowakei (bzw. in der Tschechischen Republik, in der Slowakei) erschienenen Publikationen ausgeleuchtet.
Die unmittelbar nach dem Umsturz im Februar 1948 einsetzende Emigration von Politikern und Intellektuellen brachte vor allem Erlebnisberichte und Memoiren zu Stande (F. Peroutka, J. Lettrich, H. Ripka, P. Drtina, B. Laušman, P. Tigrid u.a.), die aber meist, nicht überraschend, politischen Zielen dienen sollten. Die Berichte aus erster Hand von unmittelbar in die Geschehnisse der ersten Nachkriegsjahre Involvierten waren aber auch für die wissenschaftliche Forschung wertvoll, zumal deren Stellenwert gesteigert wurde durch die Tatsache, dass bis vor einigen Jahren sämtliche tschechoslowakischen Archive der objektiven Forschung unzugänglich waren.
Der seit 1989 juristisch nur mangelhaft verarbeiteten Nachkriegsgeschichte steht mittlerweile eine Flut von seit der Wende erschienenen, qualitativ als gut bis sehr gut zu bezeichnenden Publikationen gegenüber, die fast ausnahmslos von tschechischen Historikern geschrieben wurden, die ihre Laufbahn erst ab 1948 begonnen haben, davon nicht wenige erst Ende der Achtziger Jahre oder sogar nach der Wende. Insgesamt ist der Elan, der sich unter vielen jungen tschechischen Historikern zeigt, bemerkenswert. Die plötzliche Öffnung praktisch aller Archive in der ČR verlieh ihnen beispiellose Möglichkeiten, sich mit neuen publizierten Erkentnissen schnell zu proflilieren.[1] Die für die Beurteilung der Ereignisse von 1945-1948 ergiebigsten gesamtstaatlichen Archive sind das Historische Kriegsarchiv (VHA), das Archiv des Innenministeriums (AMV) und das Archiv des ZK der KSČ (A ÚV KSČ), von denen einige Abteilungen – vor allem die Zeit von 1945- ca. 1953 betreffend – vor 1989 nicht einmal der tschechoslowakischen offiziellen historischen Forschung zugänglich waren.[2]
Einige der Autoren, die nach 1989 bemerkenswerte Publikationen über die Zeit der „Gelenkten Demokratie“ vorlegten, befanden sich während der kommunistischen Herrschaft zeitweise im Westen (zB als Gastprofessoren) oder emigrierten, besonders nach 1968, vollends. Die personell ab 1989 meist neu zu besetzenden Stellen an den Universitäten und an der Akademie der Wissenschaften wurden auch durch aus dem Exil zurückgekehrte tschechoslowakische Akademiker besetzt. Als Beispiel für so einen Fall ist hier der kürzlich pensionierte Karel Kaplan zu nennen, dem bisher mehr als 20 Studien und Monographien über die Zeit von 1945 bis ca. 1956 zu verdanken sind, und der unbestritten als der renommierteste Historiker in bezug auf diesen Zeitraum gilt[3] Kaplan schrieb und publizierte viele seiner Werke vor 1989 in der Bundesrepublik Deutschland, einige davon wurden nachträglich in den letzten Jahren ins Tschechische übersetzt. Von den bis anhin rund 800 Publikationen zur tschechischen, tschechoslowakischen und böhmischen Geschichte, die das in München beheimatete Collegium Carolinum[4] in den letzten Jahrzehnten publizierte, widmet sich eine grosse Anzahl dem Berichtszeitraum dieser Arbeit. Zusammen mit den USA und Kanada war die Bundesrepublik Deutschland das Land, wo sich die Forschung zur Nachkriegsgeschichte der Tschechoslowakei konzentrierte.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die ersten Nachkriegsjahre in der Tschechoslowakei ungewöhnlich gut erforscht sind[5], was sich in Hunderten von Publikationen zu diesem Thema ausdrückt. Die beeindruckend schnelle – doch gewiss noch nicht ausreichende - Aufarbeitung der eigenen Nachkriegsgeschichte durch einheimische tschechische und slowaksiche Historiker verleihte der internationalen Forschung neue Impulse und vermittelte erst ab 1989 zugängliche Archivdokumente der interessierten internationalen Fachwelt. Die Vermittlerfunktion, die zT von 1948 bis 1989 sogar westliche Autoren (!) für die tschechoslowakische (halboffizielle, wenn nicht illegale) Forschung inne hatten, wurde so nach der Wende ersetzt bzw. ergänzt durch eine Vermittlerfunktion der tschechischen und slowakischen Historiker für die ausländische Forschung, was durchaus zu begrüssen ist. Diese neu aufgenommene Vermittlerfunktion, die selbstverständlich durch die vielleicht noch bedeutendere Aufgabe, die eigenen Bürger über die wahren Ereignisse der Jahre 1945-1948 aufzuklären, ergänzt wird, wird lediglich geschmälert durch die Tatsache, dass leider bisher nur wenige der nach 1989 neu verfassten Werke tschechischer Historiker in westliche Sprachen übersetzt wurden. Dies erweckt in Bezug auf die „innertschechoslowakische“ Angelegenheit des Machtumsturzes von 1948 noch einigermassen Verständnis, doch was die Literatur über die Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen und zT Ungarn betrifft, ist dies zu bedauern und kann sogar zum unterschwellig vorgetragenen Vorwurf führen, die tschechische Historiographie bemühe sich nicht um eine Aufarbeitung ihrer unmittelbaren Nachkriegsgeschichte, wie auch J. Křen 1996[6] in einer Bilanz über die deutsch-tschechischen Beziehungen richtig bemerkt hat.
3. Die ČSR unmittelbar nach Kriegsende – Kaschauer Programm, Slowakische Frage, Dekrete des Präsidenten
Die hauptsächlich von April bis Mai 1945 von Ost nach West durch sowjetische Truppen[7] befreite Tschechoslowakei und deren Bevölkerung hatte nicht gleichmässig unter dem zu Ende gehenden Krieg gelitten. Die Slowakei, im Winter und Frühling 1945 ein Hauptkampfgebiet des Krieges, war wesentlich mehr kriegszerstört als das erst in den letzten Kriegswochen in Kämpfe involvierte Böhmen und Mähren. Prag, das am 9. Mai 1945 befreit wurde, war fast gänzlich unzerstört geblieben[8], was sich lindernd auf die gerade in den Städten prekäre Nahrungsmittelversorgung auswirkte.[9] Die Gesetzlosigkeit und Willkür, mit der man sich während des Krieges – v.a. in Böhmen und Mähren seit der „Heydrichiáde“ 1942 – konfrontiert sah, die aber selten für den Einzelnen lebensbedrohende Konsequenzen hatte, hinterliess nach Kriegsende trotzdem tiefe Spuren innerhalb der Bevölkerung. Der immer wieder angeführte, und manchmal fast vorwurfsvoll vorgetragene Tatbestand, dass Tschechen (und Slowaken) nie im gleichen Masse unter dem Krieg gelitten hätten, wie zB die Polen oder Jugoslawen, ist zweifellos richtig. Jedoch darf nicht vergessen werden, dass die Tschechoslowakei vor dem Krieg ein (mit Abstrichen in der Nationalitätenfrage) volldemokratischer Staat war, dessen Gesellschaft sich an jede Art von bürgerlicher Freiheit gewohnt hatte und in ihr und durch sie gedieh. Kein Staat Mittel- und Osteuropas hatte bis 1939 derartig tiefgreifende Züge einer Zivilgesellschaft aufzuweisen. Die Erste Tschechoslowakische Republik war einer der wirtschaftlich und sozial entwickeltsten Staaten in Europa. So war denn die Besatzungsherrschaft der Deutschen in Böhmen (und Ende des Krieges de facto auch in weiten Teilen der Slowakei) ein die existentiellen Grundsätze einer Gesellschaft gefährdender Faktor, der im subjektiven Bewusstsein zumindest der Tschechen genauso tief empfunden wurde, wie das unbestritten viel verheerendere Wirken der Nationalsozialisten in beispielsweise Polen empfunden wurde. Auch wenn diese Arbeit das Vertreibungs- und Aussiedlungsgeschehen der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei bewusst ausklammert, so sei doch darauf hingewiesen, dass die Gewalttaten gegenüber Deutschen nur in Verbindung mit dem oben Gesagten verstanden – aber nicht entschuldigt – werden können.
Das Gefühl von innerer Unsicherheit wurde v.a. in der Ostslowakei noch gefördert durch Einfälle von Stefan Banderas Guerillatruppen, die vor der Sowjetarmee Richtung Österreich und Bayern zu flüchten versuchten und dabei die slowakische Zivilbevölkerung (neben Resten von SS- und Wehrmacht-Beständen, die sich in den Wäldern versteckten) bedrängten. Das Trauma des Krieges haftete noch lange im Bewusstsein von breiten Schichten, und deswegen erschien es auch Beneš illusorisch, die Tschechoslowakei als eine genaue Abbildung der Vorkriegsrepublik wiedererstehen zu lassen. Beneš war sich daher mit Kommunistenführer Klement Gottwald einig darüber, dass nur eine Institution wie die Nationale Front, deren Bildung im März 1945 in Moskau beschlossen wurde, die riesigen Probleme, die anstanden, als eine Art breite Konsensregierung aller antifaschistischen Kräfte im Land lösen konnte.
Das am 5. April 1945 in Košice (Kaschau) von allen bis 1948 wirkenden Kräften unterzeichnete Abkommen sollte die Grundstrukturen des zu erneuernden Staatsgebildes abzeichnen, und bis auf einzelne Punkte[10] wurde die politische Nachkriegsordnung bis zum Februar 1948 wenigstens institutionell auch gemäss dem Kaschauer Programm verwirklicht. Während einige Programmpunkte, wie zB die Aussiedlung der Deutschen und die Bestrafung von Kollaborateuren, leicht ausgehandelt werden konnten und unbestritten waren, so wurde über andere Fragen ausführlich diskutiert. Das betrifft vor allem die Stellung der Slowakei innerhalb des Gesamtstaates. Hier sah zwar das Kaschauer Programm eine „Autonomie“ vor, blieb aber in diesem Punkt angesichts der weitgehenden Uneinigkeit der Verhandlungsführer ungenau und liess sowohl eine Entwicklung hin zu einer Föderation, wie auch zu einem unitaristischen Zentralstaat in Zukunft als möglich erscheinen.[11] Das in der ersten befreiten Grossstadt der Tschechoslowakei unterzeichnete Abkommen trägt schon deutlich die Handschrift des während des Krieges in Moskau weilenden Kommunistenführers Klement Gottwald und muss in erster Linie als dessen Werk bezeichnet werden. Ausgehandelt war das Programm schon einen Monat zuvor in Moskau worden, anlässlich des Besuchs Edvard Beneš‘ und seiner „Londoner Exilregierung“ beim zweiten Zentrum des tschechoslowakischen Exils. Massgeblichen Einfluss auf Beneš hatte der jahrelange Botschafter der Londoner Exilregierung, Zdeněk Fierlinger, der seinerseits zuvor schon längere Zeit unter dem politischen Einfluss von Klement Gottwald gestanden war und sich in Zukunft immer offener Gottwald annähern sollte.[12] Nicht zufällig wurde im Anschluss an die Unterzeichnung des in Moskau ausgehandelten Programms auch Fierlinger Ministerpräsident des ersten Nachkriegskabinetts. Es ist wahrscheinlich, dass die Mehrzahl der im Kaschauer Programm beschlossenen Punkte dem Willen der Mehrheit der tschechoslowakischen Bevölkerung entsprach. Der Inhalt des Programms entsprach gleich wie die Stimmung innerhalb der Bevölkerung dem damaligen gesamteuropäischen Rutsch nach links.
Die neue Regierung definierte sich selbst als „volksdemokratisch“, und nahm damit explizit Rückgriff auf die kommunistische Terminologie. Die von Beneš schon im Dezember 1944 per Dekret beschlossenen „Nationalausschüsse“ (národní výbory) wurden auf lokaler Ebene gleich nach Kriegsende gebildet und waren streng nach sowjetischem Vorbild geschaffene Entscheidungsgremien.
Die Zusammensetzung der ersten Nachkriegsregierung sah folgendermassen aus: Jeder der damals zugelassenen sechs Parteien (KSČ, KSS, ČSNS, ČSL, ČSD, DS) wurden drei Ministerien überlassen. Formal parteilos waren der Verteidigungsminister L. Svoboda, Aussenminister J. Masaryk sowie weitere Minister. Svoboda war ein Sympathisant der Kommunisten, und seine Rolle im Februar 1948 soll noch zur Sprache kommen. Jan Masaryk, der frühere Botschafter und Exilaussenminister in London, stand in den Augen nicht nur der Tschechen und Slowaken, sondern auch der Weltöffentlichkeit für die demokratischen Grundsätze seines Vaters und sollte bis zum bitteren Ende Aussenminister bleiben. Bis auf einige in der KSČ bzw. KSS wirkende Politiker (Slanský, Husák u.a.) waren Vertreter des einheimischen Widerstands erstens nicht in der Regierung vertreten (Ausnahme L. Svoboda), und zweitens auch von der politischen Szene ausgeschaltet worden, was einen wichtigen Unterschied im Vergleich mit andern Nachkriegsregierungen in Ost- und Mitteleuropa darstellte.
Dass die sich angeblich während der Protektoratszeit selbst diskreditierten und zuvor in der Zwischenkriegs-ČSR eine führende Rolle spielenden Agrarier[13], die sich während der unabhängigen Slowakischen Republik tatsächlich diskreditierte Hľinka-Volkspartei und weitere kleinere Rechtsparteien nicht mehr zugelassen wurden, erleichterte die Bildung einer das ganze Parteispektrum umfassenden Volksfront-Regierung erheblich, da das ganze Mitte-Rechts-Feld[14] des politischen Spektrums nun praktisch aus dem Parteispektrum abgeschnitten wurde. Mit revolutionärem Selbstbewusstsein wurden so Parteien ignoriert bzw. nicht mehr zugelassen, die bei den letzten Vorkriegswahlen in der Tschechoslowakei die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnten – ein Faktum, dessen Bedeutung für die Entwicklung der Nachkriegs-ČSR kaum überschätzt werden kann.
Bis zum 28. Oktober 1945 gab es noch keine Nationalversammlung. Diese wurde zu einem Ein-Kammer-Parlament, dessen Mitglieder von den auf lokalen Ebenen konstituierten Nationalausschüssen berufen wurden. Da die Mitglieder der Nationalausschüssche streng paritätisch gemäss Zusammensetzung der Prager Regierung zusammengesetzt worden waren, war also die bis zu den im Mai 1946 abgehaltenen Parlamentswahlen provisorische Nationalversammlung nur ein Abbild des Kräfteverhältnisses innerhalb der Nationalen Front und kann als kein echtes Gegengewicht zur Regierung betrachtet werden. In diesem Sinne wurde der Begriff „Gelenkte Demokratie“ durchaus zutreffend auch für die Nachkriegs-ČSR verwendet. Am 28. Februar 1946 erklärte die provisorische Nationalversammlung alle bisher erlassenen Dekrete Präsident Beneš’ zu Gesetzen.
Beneš hatte bis dato 143 Dekrete erlassen (ab 1940), davon 98 seit dem 2. Februar 1945, wo er sich wieder auf dem Gebiet der Tschechoslowakei befand. Die sogenannten Beneš-Dekrete betreffen lange nicht nur Fragen, die im Zusammenhang mit sudetendeutschen Besitzansprüchen seit 1989 heftig diskutiert werden. Eine genauere Erörterung der Beneš-Dekrete verbietet sich hier aus Platzgründen, doch sollen doch wenigstens deren wichtigste genannt werden:
-Dekret Nr. 5/1945 vom 19. Mai 1945 übertrug sämtliches Eigentum von Deutschen, Ungarn, „Verrätern“ und Kollaborateuren der staatlichen Verwaltung.[15]
-Verschiedene Dekrete gleichentags, in deren Folge bis Ende September 1945 ca. 10'000 Betriebe und Geschäfte, in denen ca. eine Million Beschäftigte arbeiteten, gleichfalls unter staatliche Verwaltung kamen[16]
-Dekret Nr. 16/1945 vom 19. Juni 1945 führte zur Verfolgung nazistischer Verbrechen ausserordentliche Volksgerichte ein. Das Dekret taucht auch unter dem Namen „Grosses Retributionsdekret“ auf). Die ausserordentlichen Volksgerichte tagten in fünfköpfiger Zusammensetzung, die Strafe wurde innert zwei Stunden nach Urteilsverkündung vollstreckt, hingerichtet wurde öffentlich. In der allgemein aufgeheizten Atmosphäre kam es zu einigen Fehlurteilen.
-Dekret Nr. 12/1945 vom 21. Juni 1945 über die Konfiskation und Aufteilung des Grundbesitzes von Deutschen, Ungarn, „Verrätern“ und Kollaboranten. Es bildete die Basis für die erste Etappe der Bodenreform[17]
-Dekret Nr. 28/1945, das sogenannte „Besiedlungsdekret“ vom 20. Juli 1945 bildete die Rechtsgrundlage für die Besiedlung und erneute landwirtschaftliche Nutzung der konfiszierten Güter, v.a. im ehemaligen Sudetenland (pohraničí).
-Dekret Nr. 33/1945 vom 2. August 1945 entledigte alle Angehörige der deutschen und ungarischen Volksgruppe der tschechoslowakischen Staatsangehörigkeit. Dieses Dekret wurde zur Rechtsgrundlage für die Aussiedlung der Deutschen und Ungarn.
-Dekrete Nr. 100-104 vom 24. Oktober 1945 verstaatlichten alle Bergwerke, alle Banken und Versicherungen, Hütten und Betriebe mit über 500 Beschäftigten, zT auch solche mit über 150 Beschäftigten. Damit arbeiteten fortan 62 % aller Beschäftigten im Lande in verstaatlichten Betrieben (!). Am Tag darauf wurde auf dem Prager Wenzelsplatz sowie in allen andern grossen Städten des Landes die Verstaatlichung in volksfestähnlichen Manifestationen gefeiert.
-Weitere Dekrete des Jahres 1945 führten eine temporäre allgemeine Arbeitspflicht ein[18], regelten die
Durchführung einer Währungsreform[19], verordneten die sofortige Schliessung aller deutschsprachigen
Schulen (inklusive Hochschulen) und führten Betriebsräte (ähnlich derer, die später in Jugoslawien
eingeführt werden sollten) mit Mitspracherecht ein.
Die Verstaatlichungsdekrete vom 19. Mai und 24. Oktober stellen von allen Beneš-Dekreten die wichtigsten der nicht unmittelbar mit der „Deutschen Frage“ zusammenhängenden Dekrete dar, und bewirkten ein massives soziales Erdbeben innerhalb der Bevölkerung[20], über das bisher wenig geschrieben wurde, aber auch als einer der Faktoren gesehen werden muss, die den Weg zum „Februar“ vorbereiteten.[21] Die durch den Krieg bedingte Bewusstseinsveränderung der Bevölkerung und der Politiker führte dazu, dass die schon durch das Kaschauer Programm eingeleiteten und durch die Dekrete Beneš‘ nun verbindlichen Verstaatlichungen von wichtigen Grossbetrieben, Banken und Versicherungen zu keinen grossen Diskussionen Anlass gaben.
Dass das System der Nationalen Front von allen darin vertretenen Parteispitzen nur als Provisorium gesehen wurde, welches im oben erwähnten Sinne die Kräfte im Lande für den Wiederaufbau einigen sollte, und die parlamentarische Auseinandersetzung sowie der Kampf um Wählerstimmen nur verschoben werden sollte, kann angenommen werden. Präsident Beneš jedoch ging vermutlich von einem mehr als kurzfristigen Wirken der Nationalen Front aus. Beneš war bis zum Münchner Abkommen im Oktober 1938 klar pro-westlich eingestellt und hatte nicht allzu viel übrig für Stalins Sowjetunion. Obwohl er sich ab spätestens 1943 (bei seinem ersten Moskaubesuch) bewusst und prioritär an die Sowjetunion anlehnte, von der er Schutz gegen ein überstarkes Deutschland erhoffte, und von der er zumindest noch nie enttäuscht worden war, sah sich Beneš wohl bis zu seinem Tode 1948 als ein Vertreter der bürgerlichen Demokratie in der Tschechoslowakei. Seine Vision war eine ideologisch, sozial, wirtschaftlich, geopolitisch zwischen den zwei sich in Europa abzeichnenden Gesellschaftsformen stehenden, die beiden Strömungen aus Ost und West in einer Art Symbiose verarbeitenden Tschechoslowakei.[22] Beneš‘ Handlungen nach 1945 beurteilend fällt ins Auge, dass der Präsident sich offenkundig über die wahren Absichten Stalins nicht im Klaren war. In Beneš‘ Denken war kein Platz für totalitaristische Herrschaftsformen, denn damit wurde er direkt in seiner langen politischen Karriere nie konfrontiert. Die masslose Unterschätzung Stalins durch Beneš stellt wohl den Hauptfehler dar, der ihm in seiner Laufbahn unterlaufen ist. Zweifellos jedenfalls ist, dass mit dem Einbinden der Kommunisten in die selbst von ihnen ausgedachte Nationale Front die Hauptweichenstellung hin zur Machtübernahme dieser Partei gestellt wurde.
[...]
[1] vgl. die Arbeit des jungen tschechischen Historikers František Hanzlík, der mit seiner 1992 vorgelegten Dissertationsschrift und mit einer 1997 publizierten, vielbeachteten Arbeit über die Archive der tschechoslowakischen Geheimdienste (Zeitraum 1945-1948) unter grossem Forschungsaufwand einige neue Erkenntnisse zu Tage brachte.
[2] Eine ergiebgige Auflistung relevanter Archive in der ČR liefert Hanzlík, 1997, S. 247.
[3] Das Feld der deutsch-tschechischen Beziehungen mitsamt Vertreibung der Deutschen nach 1945 ausgenommen. In diesem Bereich haben sich andere tschechische Historiker hervorgetan, wie zB J. Křen, , T. Staněk, V. Kural u.a. Der slowakischen Thematik verpflichtet ist v.a. D. Kováč.
[4] K. Kaplans Schriften erschienen vor 1989 fast ausschliesslich im Rahmen des Collegium Carolinum.
[5] Mit zumindest einer grossen Ausnahme, nämlich der Massenbinnenwanderung von Tschechen, Ungarn, Slowaken u.a., in deren Folge die vormals sudetendeutsch besiedelten Gebiete (pohraničí) eine ethnisch gänzlich neue Struktur bekamen (siehe 6. Kapitel dieser Arbeit). Ohne Zugriffnahme auf tschechoslowakische (v.a. lokale) Archive ist eine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema undenkbar, deshalb erschienen bis 1989 im Ausland auch keine grossen Arbeiten dazu. Überhaupt fehlen ausgiebigere Arbeiten über die tschechische, bzw. slowakische Gesellschaft in den ersten Nachkriegsjahren.
[6] vgl. Křen, Tschechisch-deutsche Beziehungen: Von Böhmen aus betrachtet, 1996, S. 26.
[7] Amerikanische Truppen befreiten 9 Prozent des tschechoslowakischen Gebietes, bis zur Linie Karlovy Vary (Karlsbad) -Plzeň (Pilsen) - České Budějovice (Budweis). Das Angebot General Eisenhowers, den sowjetischen Truppen Richtung Prag, das innerhalb eines Tages erreicht hätte werden können, entgegen zu kommen, wurde sowjetischerseits dankend abgelehnt. Ab November 1947 befanden sich in der ČSR keine fremden Truppen mehr.
[8] Die Stadt wurde nur einmal, am 14. Februar 1945, von amerikanischen Bombern, angegriffen, wo ca. 700 Menschen den Tod fanden.
[9] Die Verteilungsprobleme von Lebensmitteln half auch die unmittelbar nach dem Krieg bis Mai 1948 wirkende Unterorganisation der UNO „UNRRA“ (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) einzudämmen. 93 % dieser Lieferungen stammten aus den USA, Kanada und Grossbritannien., vgl. Prokš S. 54f.
[10] insgesamt verfügte das Kaschauer Programm über 16 Kapitel, die Grundfragen der neuen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ordnung betrafen.
[11] vgl. Kováč 1998, S. 250-254.
[12] bis zur Mitgliedschaft in der KPČ nach 1948.
[13] Der langjährige Führer der Agrarier, A. Švehla, entwickelte sich bis zu seinem Tode 1933 zum Intimfeind E. Beneš‘, obwohl er dessen aussenpolitische Leistungen ausdrücklich öffentlich gewürdigt hatte. Bei der Wahl Beneš‘ zum Nachfolger Masaryks als Präsident der ČSR waren die Agrarier gegen Beneš, was dieser ihnen wohl nie mehr verzieh.
[14] und nicht bloss die rechts-extremistischen, d.h. tatsächlich faschistischen Vertreter, die innerhalb der Tschechoslowakei immer unbedeutend waren.
[15] Das Dekret betraf zunächst nur die Böhmischen Länder, ab 5. Juni 1945 auch die Slowakei.
[16] Allein für den Industriesekter hatte dies folgende Konsequenzen: ca. 40 % aller Industriebetriebe mit ungefähr 75 % aller in der Industrie Beschäftigten des Landes wurden verstaatlicht.
[17] Diese dauerte in den Böhmisichen Ländern von Mai 1945 bis zum Frühling 1946, in der Slowakei bis 1948. In dieser ersten Etappe der Bodenreform (die zweite Etappe fand nach dem Februar 1948 statt) wechselten 2'946'395 ha Boden den Besitzer (davon waren 1‘295'379 ha Wald).
[18] Dies vor allem daher, weil durch die Vertreibung der Deutschen massiver Arbeitskräftemangel in der Versorgungsindurstrie herrschte.
[19] Die Währungsreform wurde zu einem grossen Erfolg. Ab 1. November 1945 galt die Neue Tschechoslowakische Krone (1 Kčs = 50 US-Dollar).
[20] Die Verstaatlichungen und Bodenneuverteilungen nach dem Krieg bewirkten eine Nivellierung der v.a. tschechischen Gesellschaft. Aus ihr verschwanden praktisch zwei Schichten: Die Finanz-Oligarchie sowie die ärmste
ländliche Schicht von Tagelöhnern und Gelegenheitsarbeitern.
[21] Nebenbei sei bemerkt, dass viele nach 1989 wieder-privatisierten Betriebe also schon durch die Dekrete Beneš‘ auch gemäss „nach-novemberlicher“ Rechtsauffassung legal verstaatlicht wurden, da die Beneš-Dekrete bis heute ihre Gültigkeit behalten haben.
[22] Beneš verlieh seinen politischen Visionen häufig das Prädikat „wissenschaftlich“, so sehr war er von ihnen bisweilen überzeugt. Eine interessante, fast psychoanalytische Erörterung von Beneš‘ Denken nach dem 2. Weltkrieg lieferte F. Peroutka 1948, kurz nach seiner Emmigration. Peroutka sollte ab 1951 der Leiter der tschechoslowakischen Sendungen von Radio Free Europe werden, vlg. Peroutka, Byl Edvard Beneš vinen?, Paris 1948.
- Quote paper
- Adrian von Arburg (Author), 1999, Die Tschechoslowakei von 1945 bis 1953 - Politische, demographische und wirtschaftliche Transformation, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86196
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