Thema der Arbeit ist die neue Grenzziehung zwischen dem Deutschen Reich und der Tsche-choslowakei nach dem Münchener Abkommen vom 29. September 1938. Das Hauptaugenmerk ist dem Wirken des internationalen Ausschusses in Berlin gewidmet, dessen wichtigste Aufgaben erstens die genaue Grenzziehung, zweitens die Regelung der Modalitäten der tschechoslowakischen Räumung der abzutretenden Grenzgebiete und des deutschen Einmarsches in diese waren.
INHALT
1. Einleitung
2. Zum Stand der Forschung
3. Pläne zur Neuregelung der tschechoslowakisch-deutschen Grenze vor dem Münchener Abkommen
a) Sudetendeutsche Pläne
b) Pläne und Verhandlungen der europäischen Mächte und das Echo in Prag
4. Die Grenzregelung betreffende Bestimmungen des Münchener Abkommens
5. Der internationale Ausschuss zur Implementierung des Abkommens
a) Zusammensetzung, Wirkungszeitraum und Unterausschüsse
b) Richtlinien zur Grenzziehung
c) Zur Frage von Volksabstimmungen
e) Nach dem 10. Oktober beschlossene Grenzveränderungen und Ratifizierung des Grenzverlaufs
6. Ausblick: Die Folgen der neuen Grenze
a) Bevölkerung, administrative Einteilung
b) Besetzung und Verfolgung
c) Folgen für Wirtschaft und Verkehr
d) Auf den Geschmack gekommen: Grenzregelungen mit Ungarn und Polen
ANHANG
Wortlaut des Münchener Abkommens vom 29. September 1938 mit Zusätzen
Karten:
Literatur
1. Einleitung
Thema dieser Arbeit ist die neue Grenzziehung zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakei[1] nach dem Münchener Abkommen vom 29. September 1938. Hauptaugenmerk soll dem Wirken des internationalen Ausschusses in Berlin gewidmet werden, dessen wichtigste Aufgaben erstens die genaue Grenzziehung, zweitens die Regelung der Modalitäten der tschechoslowakischen Räumung der abzutretenden Grenzgebiete und des deutschen Einmarsches in diese waren. Es würde dem knappen Umfang dieser Arbeit nicht genügen, eine detaillierte Analyse der Grenzziehungsfrage zu bieten. Noch viel weniger ist es hier möglich, in einem ausgewogenen Masse auf regionale Grenzziehungen einzugehen.
Nichts ist ohne Vorgeschichte, so auch nicht die Grenzziehungsfrage vor und nach "München". Wie auf den folgenden Seiten ersichtlich werden wird, wurden einige Vorschläge oder Beschlüsse der beteiligten Grossmächte Deutschland, Grossbritannien, Frankreich und Italien über die Modalitäten der tschechoslowakischen Gebietsabtretung nie realisiert. Darauf wird ebenso einzugehen sein wie auf die generelle Genese des Gebietsabtretungsgedankens, der im Oktober und November 1938 seine Realisierung fand.
Nur am Rande Thema dieser Arbeit sind die Grenzregelungen mit Polen und Ungarn nach dem Münchener Abkommen. Obwohl diese Gebietsabtretungen kausal eindeutig mit dem Münchener Abkommen zusammenhängen, kommen sie nur kurz zur Sprache. In keiner Weise kann an dieser Stelle eine Darstellung aller zum Münchener Abkommen führenden Einzelfaktoren im internationalen und tschechoslowaksichen Umfeld geboten werden.
2. Zum Stand der Forschung
Das Münchener Abkommen ist die Folge des Zusammenfliessens von mehreren Faktoren, die ihre Wurzeln ausnahmslos lange vor dem 29. September 1938 haben (u.a. Beschlüsse der Pariser Vorortekonferenzen, tschechoslowakische Nationalitätenpolitik der Ersten Republik, nationalsozialistische Machtergreifung in Deutschland, Weltwirtschaftskrise, Innenpolitik der Münchener Signatarstaaten). "München" ist demzufolge nur als vorläufiger Zenith einer gesamteuropäischen Krise zu verstehen, deren Ursachen mannigfaltig erforscht sind. Einen Überblick über Ursachen, Folgen und mit dem Münchener Abkommen im Zusammenhang stehender Spezialfragen gibt die im Anhang aufgeführte Liste ausgewählter Literatur. Was konkret die Grenzziehung nach München anbelangt, so ist dem Autor keine Arbeit bekannt, die sich mit diesem Thema in allgemeiner und eingehender Form beschäftigen würde. Am ausführlichsten behandelt das Wirken des internationalen Ausschusses zu Berlin Th. Procházka[2]. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass bis zum Verfassen dieser Arbeit nicht alle recherchierte Literatur beschafft werden konnte. Einige Spezialstudien, die der Literaturliste beigefügt sind, berichten zwar explizt über die Grenzziehungsfrage, jedoch nur über die Grenzziehungsmodalitäten in einem bestimmten Gebiet wie beispielsweise in Westböhmen[3] oder im Teschener Gebiet[4]. Der deutschen Besetzung der Grenzgebiete ist speziell eine ausführlichere Studie gewidmet[5]. Der innen- und aussenpolitische Hintergrund im Zeitraum von "München" bis Ende November 1938, also die ersten zwei Monate der Zweiten Republik, erfuhr seit dem Ende der achtziger Jahre eine intensivere Berbeitung, die sich in einigen neuen Studien zum Thema äusserte[6]. Wohl den klarsten und genauesten Überblick über die Frage der Grenzziehung bieten jedoch die in den ADAP (Akten zur deutschen auswärtigen Politik)[7] und DBFP (Documents on British Foreign Policy) publizierten Dokumente für den Zeitraum September bis November 1938. Sie stellen denn auch die Hauptquelle der folgenden Ausführungen dar.
3. Pläne zur Neuregelung der tschechoslowakisch-deutschen Grenze vor dem Münchener Abkommen
a) Sudetendeutsche Pläne
Seit Frühling 1938 verhandelten Vertreter der Prager Zentralregierung mit einer Delegation der Sudetendeutschen Partei (SdP) über eine Autonomie der sudetendeutschen Gebiete (Territorialautonomie) bzw. der Sudetendeutschen als Körperschaft innerhalb des tschechoslowakischen Staates. Aus den Akten ist ersichtlich, dass spätestens ab Ende 1937 die Führerschaft der SdP keine ernstgemeinte Autonomiepolitik mehr verfolgte, sondern den Anschluss ans Deutsche Reich. Nachdem die Prager Regierung dem SdP-Verhandlungsführer Ernst Kundt mehrere zaghafte Vorschläge zur Entspannung der Verhältnisse unterbreitet hatte und diese stets negativ beschieden worden waren, schaltete sich Präsident Beneš Mitte August 1938 selbst in die Verhandlungen ein und präsentierte zuerst einen Dritten, Anfang September einen Vierten Plan, der die vom SdP-Führer Konrad Henlein im April 1938 in Karlsbad aufgestellten acht Forderungen in der Sache annahm. Selbst Kundt und die Nummer Zwei der SdP, K.H. Frank, sprachen von einer Annahme der Karlsbader Forderungen bzw. einem Entgegenkommen Prags, das nicht einfach pauschal zurückgewiesen werden könne. Beneš war mit seinem Vierten Plan - obwohl reichlich spät - weit über seinen eigenen Schatten gesprungen, bedeutete doch sein Plan unter den gegebenen Umständen nichts Geringeres, als die Tolerierung eines totalitär durchdrungenen Staates im Staate im Bereich der sudetendeutschen Gebiete, in denen im Frühling noch ca. 75 % der Wähler für die eindeutig nazistisch angehauchte SdP gestimmt hatten.
Die angesichts des Vierten Plans sichtlich in Verlegenheit geratene SdP unterbrach unter dem Vorwand eines eigens in Mährisch-Ostrau/Moravská Ostrava provozierten Inzidents die Verhandlungen mit Prag und stachelte in rund 60 Orten des Sudetenlandes Unruhen an, die aber von Prag souverän unter Kontrolle gebracht werden konnen, ohne dass es zu Toten gekommen wäre. Wohl kam es aber infolge des lokal ausgerufenen Ausnahmezustandes und des Standrechts zu zahlreichen Verhaftungen. Konrad Henlein und K.H. Frank waren inzwischen bereits ins Reich geflüchtet, wo sie sich daran machten, mit deutscher Hilfe ein sudetendeutsches Freikorps zur Provozierung von Grenzinzidenten aufzubauen. Die SdP wurde nun von Prag offiziell verboten, womit die stimmenstärkste Partei der Ersten Republik zu existieren aufgehört hatte. Das Thema "Autonomie" war damit Mitte September für die sudeten- und reichsdeutsche Seite endgültig vom Tisch, was Henlein mit seinem Aufruf "Heim ins Reich!" vom 15. September nun auch öffentlich klar machte. Somit war ebenso für Prag eine Autonomie nicht mehr denkbar, wäre doch deren Realisierung vom Willen der die Autonomie geniessenden Bevölkerung abhängig gewesen. Diese Bevölkerung aber war in ihrer überwiegenden Mehrheit Mitte September eindeutig für den Anschluss an Deutschland. Die einzige organisierte Opposion auf sudetendeutscher Seite kam noch von Wenzel Jakschs Sozialdemokraten, die bis zu München klar auf der Seite der Republik waren[8]. Ihre Anhänger machten aber Ende September höchstens noch 10 % der Sudetendeutschen aus.
b) Pläne und Verhandlungen der europäischen Mächte und das Echo in Prag
Es würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen, sollte hier eingehender auf die Ereignisse eingegangen werden, die unmittelbar zum Münchener Abkommen geführt haben.
Am 15. September, d.h. nach der Flucht K. Henleins ins Reich und dessen "Heim ins Reich!"-Aufruf, war es immer offensichtlicher geworden, dass sich Prag mit einer Gebietsabtretung im Bereich des Sudetenlandes abfinden werden müsste. Speziell der an diesem Tag zu Hitler geflogene Chamberlain war zum Zeitpunkt seines Abflugs schon entschlossen, sich mit einer weitgehenden Gebietsabtretung einverstanden zu erklären, verfolgte er doch das primäre Ziel eines britisch-deutschen Abkommens für friedliche Beziehungen in der Zukunft. Hitler machte ihm auf dem Obersalzberg unmissverständlich klar, dass für ihn vor jedem weiteren Unterfangen erst die sudetendeutsche Frage einer Lösung zugefügt werden müsse. Darunter verstand Hitler die Annexion des Sudetenlandes. Chamberlain entschloss sich also, Hitler auf diesem Gebiet zu befriedigen. Nachdem Frankreich und Grossbritannien am 19. September eine gemeinsame Note an Prag verfasst hatten, in der sie der dortigen Regierung das Einverständnis mit einer Abtretung der sudetendeutschen Gebiete nahegelegt hatten (unter vagen Verweisen auf die Möglichkeit des militärischen Nicht-Beistands an Prag, falls dieses jener Aufforderung nicht folge leisten werde), und nachdem sich Präsident Beneš gegenüber Paris am 17. September bereits zu einer kleineren Gebietsabtretung von ca. 5-6'000 km2 und einer Aussiedlung von über einer Million Sudetendeutscher bereit erklärt hatte (Nečas-Mission), weigerte sich Prag erst einmal, die britisch-französischen Empfehlungen anzunehmen. Erst nachdem noch unmissverständlicherer Druck auf Prag ausgeübt worden war, nahm Prag schliesslich am 21. September doch an. Dies ist der eigentliche Termin, der das weitere Schicksal des tschechoslowakischen Staates besiegelte. Dieser Tag hat weit grössere Bedeutung als der Tag von München (29.9.1938). Die Lage in der Tschechoslowakei heizte sich nach Bekanntgabe des tschechoslowakischen Nachgebens denn auch enorm zu. Die Regierung Hodža trat zurück und an ihre Stelle trat eine breiter abgestützte Regierung unter General Jan Syrový. Präsident Beneš blieb noch bis zum 5. Oktober im Amt, bevor seine Vollmachten von Syrový interimsmässig übernommen wurden. Es kam in Prag zu einem Generalstreik und zu grossen Demonstrationen gegen die "Kapitulation" ohne Kampf. Dass mit der Abtretung der sudetendeutschen Gebiete die Republik sämtliche Grenzbefestigungen gegenüber Deutschland verlieren würde und somit dem übermächtigen deutschen Nachbarn fast von allen Seiten ausgeliefert sein würde, war jedem Zeitgenossen klar. Der Tag des Einverstädnisses mit der Abtretung ist somit der eigentliche Schicksalstag der Ersten Tschechoslowaksichen Republik.
Als sich Chamberlain - erleichtert über das tschechoslowakische Entgegenkommen - am 22. und 23. September in Bad Godesberg erneut mit Hitler traf, war er tief bestürzt über neue Forderungen, die Hitler stellte. War nämlich bisher noch nicht geregelt worden, bis wann die sudetendeutschen Gebiete abzutreten seien und in welchem genauen Umfange, so forderte Hitler nun eine Abtretung innert weniger Tage ohne dass die Tschechoslowaken berechtigt wären, irgendwelche Güter abzutransportieren. Zudem gab Hitler Chamberlain zu erkennen, dass er hinter den polnischen und ungarischen Gebietsforderungen an Prag stand und diese ebenfalls sobald wie möglich realisiert sehen möchte. In Godesberg erwähnte der deutsche "Führer" auch die Möglichkeit von Volksabstimmungen in Gebieten, wo die ethnische Lage unklar sei. Chamberlain betonte, dass er sich nur als Vermittler sehe und höchstens die neuen deutschen Forderungen an Prag weiterleiten könne. Eine Empfehlung, diese anzunehmen, könne er diesmal nicht mehr abgeben. Hitler liess Chamberlain ein deutsches Memorandum überreichen, dem eine Karte mit den genauen deutschen Gebietsforderungen zugefügt war, die auch Abstimmungsgebiete bezeichnete.
Prag war über die gesteigerten deutschen Forderungen bestürzt und nahm das deutsche Memorandum, das selbst Chamberlain als "Ultimatum" bezeichnet hatte, nicht an. Stattdessen wurde die schon im Mai 1938 teilmobilisierte tschechoslowaksiche Armee noch währenddem Chamberlain bei Hitler weilte voll mobilisiert. In den Tagen von Godesberg bis München bestand in Europa akute Kriegsgefahr. Es deutet viel darauf hin, dass Hitler vor allem deshalb seine Forderungen von Godesberg so weit hoch schraubte, weil er klar von der britisch-französischen Kriegsangst wusste. Er hingegen hatte schon im Mai 1938 den "Fall Grün" beschlossen, dass die Wehrmacht bis spätestens 1. Oktober in der Lage sein müsse, jederzeit die böhmischen Länder zu besetzen. Und bereits im November 1937 hatte er im Führerhauptquartier vor einem engen Zirkel von Offizieren über seine Eroberungspläne in Ostmittel- und Osteuropa gesprochen, die auch die Besetzung der Tschechoslowakei einschlossen ("Hossbach-Niederschrift"). Hitler konnte im September 1938 sowohl mit Krieg wie mit Frieden leben - Frankreich und Grossbritannien, deren Regierungen eine weitgehende Appeasement-Politik gegenüber Deutschland betrieben, nicht. Auf jeden Fall war ihnen die Tschechoslowakei kein genügender casus belli, obwohl Frankreich direkte Bündnisverpflichtungen gebenüber Prag hatte, und London Bündnisverpflichtungen mit Frankreich, sollte dies in einen Krieg verwickelt werden. Erst am 28. September zeichnete sich eine friedliche Lösung der Sudetenfrage ab, als Hitler den Duce sowie den britischen und französischen Premierminister nach München einlud. In München präsentierte Mussolini am nächsten Tag einen Plan Berlins, der die weitgehende Erfüllung der Godesberger Forderungen bedeutete. Die Verabschiedung dieses Plans ging reibungslos über die Bühne, hatten sich doch in München vier Männer getroffen, die sich von Anfang an darüber klar waren, welches Ergebnis der Abend erbringen solle. Vertreter Prags nahmen an der Konferenz nicht teil und wurden erst nach Schluss der Konferenz, um 1.30 Uhr in den Konferenzsaal gelassen, wo Daladier und Chamberlain ihnen eröffneten, welches Schicksal ihrem Land beschieden war. Die Prager Regierung nahm die Beschlüsse des Münchener Abkommens am nächsten Mittag denn auch an, stand doch an ihrer Seite im besten Falle nur noch die Sowjetunion. Für die Einberufung des Parlaments, das für solch weitgehende Fragen einzig zuständig gewesen wäre, bestand keine Zeit mehr.
4. Die Grenzregelung betreffende Bestimmungen des Münchener Abkommens
Der Text des Münchener Abkommens legte die Grenze zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei nur ungenau fest. Die definitive Grenzziehung wurde zwischen den beiden Ländern erst am 20. November 1938 ratifiziert. Zwischen dem 30. September und diesem deutsch-tschechoslowakischen Grenzvertrag war die genaue Grenzfestlegung und Art der Gebietsübergabe Aufgabe des internationalen Ausschusses zu Berlin[9]. Im Text des Abkommens wird das abzutretende Gebiet nur bezeichnet als "sudetendeutsche Gebiete", dann als "vorwiegend deutsches Gebiet" (Artikel 4), bzw. als "Gebiet vorwiegend deutschen Charakters" (Artikel 4). Nach welcher Massgabe der "vorwiegend deutsche Charakter" bestimmt werden soll, wird im Abkommen nicht erwähnt. Trotzdem war allen Beteiligten schon beim Unterzeichnen des Abkommens wahrscheinlich klar, dass der Massstab dafür die ethnischen Verhältnisse nach der letzten österreichischen Volkszählung sein würde, den Hitler bereits in Berchtesgaden auf Rat Konrad Heinleins vorgeschlagen hatte. Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass die französische und britische Delegation bis dahin die Bedeutung dieser Frage noch nicht erkannt hatten.
Die dem Münchener Abkommen beigefügte Karte ging von vier eingezeichneten Besatzungszonen und einem "unverzüglich" von dem oben erwähnten Ausschuss festzulegenden Gebiet aus[10]. Die vier römisch numerierten Zonen seien etappenweise zu räumen und zu besetzen, nach einem im Abkommen genau festgelegten Tagesplan bis zum 7. Oktober[11]. Bis zum 10. Oktober seien die in der Literatur auch also "Zone V" bezeichneten, in Berlin noch zu bestimmenden Gebiete zu räumen und zu besetzen. Die Demarkationslinien der Zonen I bis IV verliefen jeweils geradlinig und nahmen keine grosse Rücksicht auf topographische Begebenheiten. Diese Demarkationslinien waren bloss Kunstgrenzen, in München von Hitlers Beratern eilends mit Hilfe des Lineals gezogen. Beträchtliche deutsche Mehrheitsgebiete gehörten nicht zu den Zonen I bis IV, so z.B. das nordböhmische Braunkohlebecken[12] entlang des Erzgebirges, die gesamten deutschsprachigen Mehrheitsgebiete Südmährens, das Saazerland, Böhmisch-Leipa/Česká Lípa mit Umland, ja nicht einmal die grösste Stadt des Sudetenlandes, Reichenberg/Liberec, und die eigentlichen "Sudetengebiete" im geographischen Sinne entlang des Iser- und Adlergebirges. Trotzdem wurden praktisch alle Gebiete, die nach der österreichischen Volkszählung von 1910 eine deutsche Mehrheit aufwiesen, bis zum 10. Oktober von deutschen Truppen besetzt.. Die Gebiete der Zone V, die in Berlin noch zu bezeichnen waren, waren unzusammenhängend und deren gesamtheitliche Bennennung als Zone V soll ausdrücken, dass sie in der Reihenfolge der Besetzung nach Zone IV okkkupiert wurden, also vom 7. bis 10. Oktober.
Der Gedanke des Plebiszits war ein integraler Bestandteil des Münchener Abkommens und wird in § 5 ausgeführt[13]. Dort wird festgelegt, dass die Gebiete, in denen Abstimmungen abzuhalten seien, bis zum Abschluss des Plebiszits durch "internationale Formationen" zu besetzen sei. Der Berliner Ausschuss sei zuständig für a) die Bestimmung des Plebiszit-Gebiets und b) die Modalitäten der Volksabstimmung. Über die Modalitäten sagt aber der Abkommenstext aus, dass sich diese nach der Saarlandabstimmung von 1935 zu richten hätten, und dass der Abstimmungstag spätestens Ende November 1938 zu liegen habe. Da in § 4 des Abkommens bereits davon gesprochen wird, dass auch "das restliche Gebiet vorwiegend deutschen Charakters" (d.h. die Zone V, die vom Berliner Ausschuss noch zu bestimmen war) bis zum 10. Oktober von deutschen Truppen zu besetzen sei, wären nur noch kleinere Gebiete für Volksabstimmungen übrig geblieben - je nachdem, wie gross die Zone V ausfallen würde. Der internationale Ausschuss wäre nach § 6 des Abkommens dazu berechtigt gewesen, den vier Signatarstaaten "in bestimmten Ausnahmefällen geringfügige Abweichungen von der streng ethnographischen Bestimmung der ohne Volksabstimmung zu übertragenden Zonen zu empfehlen". Diese Bestimmung ist nur in eine Richtung zu deuten, da sie sonst unsinnig wäre: Die "ohne Volksabstimmung zu übertragenden Zonen" wären die Zonen I bis V gewesen. In den Zonen I bis IV waren die ethnischen Verhältnisse überaus klar, keine tschechischen Sprachinseln befanden sich in ihnen und die deutsche Bevölkerung verfügte über eine Mehrheit von mindestens 95 %. Zone V wurde vom Ausschuss bereits bis 10. Oktober bestimmt. Warum hätte der Ausschuss einen Landstrich mit "vorwiegend deutschem Charakter" zur Zone V schlagen sollen, wenn sie dessen deutsches Gepräge später dann doch wieder in Form einer lokalen Volksabstimmung zur Diskussion stellen würde? Nur eine Antwort klingt plausibel: Der Ausschuss könnte in der Hast der ersten Oktobertage ungenau gearbeitet haben und Gebiete der Zone V zugesprochen haben, deren "vorwiegend deutscher Charakter" ihr oder einem in ihr beteiligten Vertreter nach dem 10. Oktober gar nicht so unbestritten mehr erschien. § 6 war dazu da, der Tschechoslowakei die Annahme der Münchener Beschlüsse zu erleichtern.
Ein Grund, warum Hitler wohl im Vorfeld des Abkommens so sehr auf die rasche Durchführung der Gebietsabtretung gepocht hatte, kann in der in § 2 erwähnten Bestimmung liegen, dass tschechoslowakischerseits keine bestehenden Einrichtungen zerstört werden dürften. Obwohl Chamberlain und Hitler in Berchtesgaden und Godesberg darüber stritten, ist im Abkommen nicht davon die Rede, dass keine zivilen Einrichtungen und Güter (zivile oder militärische) abgetragen werden dürften. Dennoch wurde § 2 in der Durchführung und von dem internationalen Ausschuss schliesslich dahingehend interpretiert, dass bei der Räumung der Gebiete keine Güter mitgenommen werden dürften. In den ersten Oktobertagen allerdings gab es grundlegende Meinungsverschiedenheiten zwischen Prag und Berlin über § 2, die Berlin jedoch wie alle wichtigen Punkte für sich entscheiden konnte.
[...]
[1] Der Autor ist sich bewusst, dass ab Anfang Oktober 1938, d.h. ab des Inkrafttretens der slowakischen und karpatoukrainischen Autonomie, der amtlich korrekte Namen des Staates "Tschecho-Slowakei" war (mit Bindestrich). Da diese Arbeit einen kurz vor und nach der Änderung des Staatsnamens liegenden Zeitabschnitt behandelt, könnte die abwechselnde Schreibweise "Tschechoslowakei" und "Tschecho-Slowakei" Verwirrung auslösen. Deshalb wird im ganzen Text die Schreibweise "Tschechoslowakei" bzw. "tschechoslowakisch" verwendet.
[2] Procházka, Theodore, The Second Republic: the disintegration of post-Munich Czechoslovakia October 1938 – March 1939, Boulder / New York 1981.
[3] Laštovka, Vojtěch, Vytyčení západočeské státní hranice pomnichovské republiky [Die Ziehung der westböhmischen Staatsgrenze der nachmünchener Republik], in: Minulostí západočeského kraje 7/1970, 33-48.
[4] Káňa, Otakar, Těšínské intermezzo. Německé zájmy na Těšínsku, jejich prosazovatel, a konečné prosazení 1938-1939 [Teschener Intermezzo. Deutsche Interessen an Teschener Gebiet, ihr Vertreter und die endgültige Durchsetzung 1938-39], in: Československý časopis historický 4/5 (1977), 345-382.
[5] Malá, Irena / Lesjuk, Petr, Okupace československého pohraničí hitlerovským Německem po Mnichovu [Die Okkupation des tschechoslowakischen Grenzlandes durch Hitlerdeutschland nach München], in: Sborník archivních prací 9 (1959), 3-56.
[6] Daraus ausgewählt: Rataj, Jan, O autoritativní národní stát: ideologické proměny české politiky v druhé republice 1938-1939 [Für einen autoritären Nationalstaat: Ideologische Veränderungen der tschechischen Politik in der Zweiten Republik 1938-1939], Praha 1997; Gebhard, Jan / Kuklík, Jan, Pomnichovská krize a vznik Strany národní jednoty [Die Krise nach München und die Entstehung der Partei der Nationalen Einheit], in: Český časopis historický 3/90/1992, 365-392; Kárný, Miroslav, Logika Mnichova. K politice hitlerovského Německa vůči Československu od Mnichova k "Protektorátu Čechy a Morava" [Zur Politik Hitlerdeutschlands gegenüber der Tschechoslowakei von München bis zum "Protektorat Böhmen und Mähren"], in: Československý časopis historický 35/1987, 371-403; Tomášek, Dušan, Deník druhé republiky [Tagebuch der Zeiten Republik], Praha 1988; Pasák, Tomáš., JUDr. Emil Hacha (1938-1945), Praha 1997.
[7] Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945 (ADAP), Serie D (1937-1945), Band II (Deutschland und die Tschechoslowakei) und IV (Die Nachwirkungen von München), Baden-Baden 1950/51.
[8] Für viele hundert Sozialdemokraten bedeutete der Einmarsch reichsdeutscher Truppen in die Heimat Haft oder gar den Tod im KZ. Trotzdem nahm der Führer der sudetendeutschen Sozialdemokratie, W. Jaksch, gegenüber E. Beneš im späteren Londoner Exil eine klare Haltung für das Münchener Abkommen ein, obwohl er die Art und Weise des Zustandekommens der Grenzregelung nicht guthiess.
[9] Zur Grenzziehung, § 6 des Abkommens: "Die endgültige Festlegung der Grenzen wird durch den internationalen Ausschuss vorgenommen werden. Dieser Ausschuss ist berechtigt, den vier Mächten Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien in bestimmten Ausnahmefällen geringfügige Abweichungen von der streng ethnographischen Bestimmung der ohne Volksabstimmung zu übertragenden Zonen zu empfehlen." - Zu Art und Weise der Übergabe, § 3 des Abkommens: "Die Modalitäten der Räumung werden im einzelnen durch einen internationalen Ausschuss festgelegt, der sich aus den Vertretern Deutschlands, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Italiens und der Tschechoslowakei zusammensetzt."
[10] § 4 des Münchener Abkommens besagt: "Das restliche Gebiet vorwiegend deutschen Charakters wird unverzüglich von dem oben erwähnten internationalen Ausschuss [Berliner Kommission] festgestellt und bis zum 10. Oktober durch deutsche Truppen besetzt werden."
[11] Vgl. § 4 des Abkommens.
[12] Nach der Volkszählung von 1910 war das gesamte nordböhmische Braunkohlebecken noch mehrheitlich deutsch besiedelt. Der Grund, warum das Förderungsgebiet und weite Teile an seinem Rand (von Komotau/Chomutov bis Aussig/Ústí nad Labem) nicht zu den Zonen I bis IV gehörten, war wohl die Tatsache, dass nach der Volkszählung von 1930 im Raum Brüx/Most-Dux/Duchcov bereits eine tschechische Mehrheit zu finden war. Bis 1938 ist diese tschechische Sprachinsel in Nordwestböhmen bestimmt grösser geworden. Aus dem gleichen Grunde wird wohl auch Nordostmähren, das westliche Böhmisch-Schlesien mit Troppau und der ganze Schönhengstgau (mit den Städten Zwittau/Svitavy, Landskron/Lanškroun, Mährisch Schönberg/Šumperk) vorerst ausgelassen worden sein, da mit ihrer Besetzung die Konfrontation mit einer lokalen tschechischen Mehrheit verbunden gewesen wäre.
[13] In § 5 des Abkommens: "Der in § 3 erwähnte internationale Ausschuss wird die Gebiete bestimmen, in denen eine Volksabstimmung stattfinden soll."
- Arbeit zitieren
- Adrian von Arburg (Autor:in), 2000, Die Festlegung der Staatsgrenze zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Münchener Abkommen 1938, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86193
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