„Emil oder über die Erziehung“ schildert eine Erziehungssituation, in der der Erzieher einen einzigen Zögling über 25 Jahre lang ununterbrochen begleitet und ihm dabei seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmet. Eine solche Erziehungssituation scheint so nicht oder nur als „Modell für privilegierte aristokratische Kinder“ realisierbar zu sein. Dass Rousseau jedoch nicht im Sinn hatte, mit dem „Emil“ einen Ratgeber für Hauslehrer des Adels und vermögenden Bürgertums zu schreiben, erhellt sich durch die Einordnung der Schrift in das Gesamtwerk des Autors.
„Emil oder über die Erziehung“ schildert eine Erziehungssituation, in der der Erzieher einen einzigen Zögling über 25 Jahre lang ununterbrochen begleitet und ihm dabei seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmet. Eine solche Erziehungssituation scheint so nicht oder nur als „Modell für privilegierte aristokratische Kinder“[1] realisierbar zu sein. Dass Rousseau jedoch nicht im Sinn hatte, mit dem „Emil“ einen Ratgeber für Hauslehrer des Adels und vermögenden Bürgertums zu schreiben, erhellt sich durch die Einordnung der Schrift in das Gesamtwerk des Autors.
Rousseau fragt: „Aber wo gibt es noch diesen Menschen der Natur, der ein wahrhaft-menschliches Leben lebt; der die Meinung der anderen für nichts achtet, und der sich lediglich von seinen Neigungen und seiner Vernunft leiten lässt, ohne Rücksicht darauf, was die Gesellschaft, was das Publikum billigt oder tadelt? Man sucht ihn vergebens unter uns.“[2] Die bestehende Gesellschaftsordnung wird als „Ursache aller Verderbnis und alles [sic] Unglücks der Menschheit“[3] kritisiert, in dem sie es dem Menschen unmöglich mache, seine natürliche Ursprünglichkeit und Freiheit zu bewahren und ihn in Abhängigkeit von „fremdem Gebot und fremder Willkür“[4] halte.[5] Selbst die Philosophie unterliege dem Zwang bloßer Konventionen. „In unseren Sitten wie im Denken [...] herrscht eine niedrige und betrügerische Gleichförmigkeit. [...] Ohne Unterlaß fordert die Höflichkeit, befiehlt der Anstand bestimmte Dinge; immer folgt man dem Gebrauch, nie dem eigenen Genius.“[6] Wenn dann noch festgestellt wird, dass „alles [...] unter den Händen der Menschen [entartet]“[7], wird deutlich, dass eine Gesellschaftsform, die der Natur des Menschen angemessen ist, nicht durch eine Analyse bestehender Verhältnisse oder das Vertrauen auf schrittweises Reformieren derselben etabliert werden kann.[8] Ebensowenig bietet der Fortschritt der Wissenschaften Anlass zur Hoffnung auf eine zukünftige bessere Gesellschaft. Vielmehr sind die „Wissenschaften [...] unnütz durch das, was sie erstreben, und noch viel gefährlicher durch die Wirkungen, die sie hervorbringen“[9].
[...]
[1] Sturma, Dieter: Jean-Jacques Rousseau. München 2001, S. 121. Im Folgenden zitiert als: Sturma.
[2] Rousseau juge de Jean-Jacques, zitiert nach: Cassirer, Ernst: Das Problem Jean Jacques Rousseau (1923). Darmstadt 1970, S. 13. Im Folgenden zitiert als: Cassirer.
[3] Ebd., S. 14.
[4] Ebd., S. 21.
[5] Rousseau, Jean-Jacques: Emile, oder über die Erziehung. Hrsg. von L. Schmidts. Paderborn, München, Wien, Zürich 1987. S. 13. Im Folgenden zitiert als: Emile.
[6] Rousseau, Jean-Jacques: Erster Diskurs. Zitiert nach Cassirer, S. 9.
[7] Emile, S. 9.
[8] Vgl. Sturma, S. 117 und Cassirer, S. 23.
[9] Rousseau, Jean-Jacques: Erster Diskurs. Zitiert nach: Holmsten, Georg: Jean-Jacques Rousseau. Reinbek bei Hamburg 1972, S. 66.
- Arbeit zitieren
- Florian Beer (Autor:in), 2006, Warum muss Rousseaus „Roman über Erziehung“ als ein hypothetisches Experiment und nicht als eine empirische Fallstudie gelesen werden?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84910