Spricht man heute von der Nouvelle Vague und ihren Protagonisten, so sind vor allem die Kritiker der Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma gemeint, die auf polemische Art und Weise, jedoch voller Liebe zum Film, das überkommene cinéma de qualité kritisierten und schließlich den Stift mit der Kamera tauschten, um selbst Filme zu machen und ihre Ideen in der Praxis zu erproben. Zu ihnen gehörten u. a. François Truffaut, Jean-Luc Godard, Éric Rohmer, Jacques Rivette und Claude Chabrol. - Diese Arbeit soll insbesondere die Erstlingswerke von Louis Malle, Francois Truffaut und Claude Chabrol mit Blick auf die Kameraarbeit untersuchen und sie im Kontext der Nouvelle Vague betrachten.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Ideologie und Vorbilder
Henri Decaë
Louis Malle
Ascenseur pour l'échafaud
Le Beau Serge
Les quatre cents coups
Fazit
Quellenangaben
Filme
Einleitung
Spricht man heute von der Nouvelle Vague[1] und ihren Protagonisten, so sind vor allem die Kritiker der Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma gemeint, die auf polemische Art und Weise, jedoch voller Liebe zum Film, das überkommene cinéma de qualité kritisierten und schließlich den Stift mit der Kamera tauschten, um selbst Filme zu machen und ihre Ideen in der Praxis zu erproben. Zu ihnen gehörten u. a. François Truffaut, Jean-Luc Godard, Éric Rohmer, Jacques Rivette und Claude Chabrol.
Bereits die Erstlingswerke der Jung-Regisseure wurden mit hochrangigen Preisen ausgezeichnet: Le Beau Serge [CD58] von Claude Chabrol bekam 1958 den Jean-Vigo Preis und das „Silberne Segel“ auf den Filmfestspielen von Locarno, für die beste Regie. Les Cousins [CD59], ebenfalls von Chabrol, wurde nur ein Jahr später auf der Berlinale mit dem „goldenen Bären“ ausgezeichnet. Den internationalen Durchbruch schaffte die Nouvelle Vague dann im Jahr 1959 mit dem Film Les Quatre Cents Coups [TD59] von François Truffaut, der in Cannes den Regiepreis und in Amerika den Kritikerpreis für den besten ausländischen Film des Jahres erhielt. Die neue Bildlichkeit dieser Filme führte zu Erneuerungsbewegungen in unterschiedlichen Ländern und begünstigte so auch den Neuen Deutschen Film.
Im Folgenden sollen nun die Anfänge und Hintergründe dieser neuen Bildlichkeit näher untersucht werden, wobei insbesondere der Film Ascenseur pour l'échafaud [MD57] von Louis Malle, von Interesse sein wird. Dieser war das Regiedebut des zu dieser Zeit erst 25-jährigen Regisseurs. Er wurde mit dem Kritikerpreis „Prix Louis Delluc“ ausgezeichnet und nahm bereits im Jahr 1957 die Bildlichkeit und die Atmosphäre der Nouvelle Vague vorweg (wird aufgrund der vielen traditionellen Elemente jedoch nicht zur Bewegung dazu gerechnet).
Würde man dem Film lediglich eine gewisse Vorbildfunktion einräumen, so würde man der vielschichtigeren und komplexeren Entstehungsgeschichte der Nouvelle Vague nicht gerecht werden. Um die Beziehungen zwischen Ascenseur pour l'échafaud und den ersten Filmen der neuen Welle aufzudecken lohnt also auch ein Blick auf die Ideologie der Gruppe um die Cahiers du Cinéma und ihre Kontraposition zum überkommenen Quälitätskino, sowie die wirtschaftliche Situation der Filmindustrie, die zu dieser Zeit in einer Krise steckte.
Ein weiterer Schwerpunkt der Betrachtung wird auf der Kameraarbeit liegen, denn nicht zuletzt ist Stil immer auch eine Systematisierungsleistung der Kamera. In der Literatur wird neben Nestor Almendros vor allem Raoul Coutard als Kameramann der Nouvelle Vague angeführt, der ihre Bildlichkeit nachhaltig beeinflusste. In seiner Arbeit weniger radikal doch nicht minder innovativ, besonders in der Anfangszeit der Nouvelle Vague, war Henri Decaë. Dieser war bei allen, oben genannten Filmen, für die Kamera verantwortlich und verhalf mit seiner Arbeit Malle, Chabrol und schließlich auch Truffaut zum Durchbruch. Parallelen zwischen Filmen wie Le Beau Serge, Les quatre cents coups und auch Ascenseur pour l'échafaud können somit kein purer Zufall sein.
Decaës Arbeit und sein Einfluss auf die Nouvelle Vague und deren Bildlichkeit werden jedoch in der Literatur häufig unterschlagen, wohl auch, da er zu jener Zeit bereits ein etablierter Kameramann war und seine Fotografie in großen Teilen den traditionellen Konventionen des filmischen Erzählens treu bleibt.
Ideologie und Arbeitsweise
Das Quälitätskino, gegen das sich Truffaut und seine Freunde abzusetzen versuchten, bestand aus „Filmen mit schönen Sujets voller literarischer Symbolik, aus ausgeklügelten Einstellungen, komplizierten Beleuchtungseffekten, geleckten Fotos usw.“ [BJM85, S. 11]. Sie wussten also genau wogegen sie waren, jedoch konnten sie ihre Ideen und Vorstellungen, wie ein Film auszusehen hat, auf keinen gemeinsamen Nenner bringen.
Dieser Umstand macht eine genaue Kategorisierung ihrer Filme schwierig. Auf der Suche nach einer ideologischen Grundlage sind jedoch vor allem zwei Texte wichtig: Alexandre Astrucs Artikel[2] über die caméra-stylo, aus dem Jahr 1948 und Truffauts Artikel Une certaine tendance du cinéma française [F99] der in der Cahiers du Cinéma Nr. 31 im Jahr 1954 erschien. Die Auseinandersetzung mit der traditionellen Bildlichkeit und den überkommenen Produktionsprozessen kulminierte schließlich in der Theorie der Politique des Auteurs. Kern der Theorie ist, dass der Regisseur die volle Kontrolle über den gesamten Produktionsprozess seiner Filme haben sollte (im Gegensatz zum Produzenten-Film) und somit im Laufe der Zeit eine eigene Handschrift entwickeln kann, in die möglichst viel von seiner eigenen Persönlichkeit einfließt.
Diese „Politik der Autoren“, auf welche die Nouvelle Vague gern reduziert wird, rechnet jedoch nicht mit dem gesamten bisherigen Kino ab, vereinzelt fanden die Kritiker die von ihnen aufgestellte Forderung nämlich schon erfüllt, z. B. bei den „Meistern“: Hitchcock, Bresson, Renoir, Rossellini, Ophüls oder Hawks. Auch Strömungen und Stile, wie der italienische Neorealismus oder der amerikanische Film Noir wurden immer wieder zitiert.
Der plötzliche Erfolg, auch anderer junger Regisseure, ist jedoch nicht ausschließlich mit revolutionären Ideen und Vorstellungen zu begründen. Begünstigt wurden sie vor allem durch das marode Studio- und Verleihsystem und die zunehmende Konkurrenz des Kinos durch das Fernsehen, was die Produzenten zwang, auf neue, günstigere Produktionsmethoden zu setzen.
Ein weiterer Faktor war das Filmhilfegesetz des damaligen französischen Kultusministers André Malraux, dieser wollte der Stagnation an „Kreativität und Qualität“ [BJM85, S. 9] im französischen Film entgegenwirken. Dieser finanzielle Anreiz war eine nicht zu unterschätzende Starthilfe für die Regisseure dieser Zeit.
Diese filmten mit handlichen 16mm Kameras, außerhalb der Studios, in den Straßen und Gassen von Paris. Die Filme wurden mit Laiendarstellern besetzt, möglichst aus dem eigenen Freundeskreis. Improvisation und Innovation waren die Merkmale ihrer Arbeitsweise. Der Produktionsetat sollte (und musste) so niedrig wie möglich gehalten werden, was dazu führte, dass „dieser, durch die Herstellungskosten bedingte Filmstil (…) vorübergehend als Markenzeichen der Nouvelle Vague begeistert gefeiert“ [BJM85, S. 10] wurde.
Möglich wurde diese Vorgehensweise wiederum erst durch die neue Technik, die zu dieser Zeit einen Quantensprung vollzog. Neue Objektive, zusammen mit einem lichtempfindlicheren Film, ermöglichten erstmals Aufnahmen in der Dämmerung oder Dunkelheit ohne zusätzliches Licht. Statt der schweren Studiokameras konnten leichte Handkameras verwendet werden und tragbare Tonaufzeichnungsgeräte setzten der Mobilität fast keine Grenzen mehr.
Henri Decaë
Die neue Bildlichkeit wäre natürlich ohne die Arbeit der Kameramänner niemals möglich gewesen. Insbesondere die Gruppe um die Cahiers du Cinéma musste sich auf die technischen Fähigkeiten dieser Leute verlassen. Sie hatten ihr Wissen in der Cinémathèque française [3] und in Filmclubs, durch das intensive Studium von Filmen erworben. Praktische Erfahrungen mit der Kamera hatten sie höchsten bei der Produktion von Kurzfilmen gemacht.
Die Frage die sich nun stellt ist: Was machte Henri Decaë für die jungen Regisseure so interessant, warum glaubten sie, dass er dafür geeignet sei ihre Bildvorstellungen auf die Leinwand zu bringen?
Die Beantwortung dieser Frage ist nicht ganz einfach, da Decaë Ende der 50er Jahre bereits ein etablierter Kameramann war. Er hatte bereits über 40 Dokumentar-, Kurz- und Werbefilme gedreht und wurde 1949 von dem Regisseur Jean-Pierre Melville für den Spielfilm entdeckt. Mit ihm drehte er Le Silence de la Mer [MD49] und weitere Spielfilme.
Seine Bedeutung für die neue Bildlichkeit ist auch eher in seinem Werdegang zu finden. Er absolvierte die Filmschule École de Vaugirard, arbeitete anschließend als Ton- und Schnittmeister beim Rundfunk und diente während des zweiten Weltkrieges in der französischen Luftwaffe. Er wurde als Frontreporter eingesetzt, drehte Dokumentarfilme und Reportagen. Hier war er auch gezwungen mit spärlichem Licht und wackeliger Handkamera (oft in gefährlichen Situationen und unter Druck) zu arbeiten und schaffte es dennoch Filme mit beeindruckender visueller Qualität zu fotografieren (vgl. [C07]). Er erreichte also Qualität selbst unter widrigen Umständen, zum einen durch sein Talent zur Improvisation aber auch durch die virtuose Beherrschung der Technik.
Die späteren Regisseure der Nouvelle Vague setzten somit auf seine Erfahrung, um authentische, unmittelbare Bilder zu bekommen und auf sein Improvisationstalent, um ihre neue Arbeitsweise und ihre Bildvorstellungen in die Praxis umzusetzen.
Decaë selbst sieht sich in diesem Sinne auch nur als „unsichtbaren Techniker“ [C07], der die Visionen der Regisseure umsetzt. Seine Arbeit steht vollkommen im Dienst der narrativen Struktur des jeweiligen Films und den Intentionen des Regisseurs. Einen „Decaë-Style“ [C07] lehnt er aus diesem Grund entschieden ab. Jedoch schließt diese Arbeitsweise eine eigene Handschrift nicht aus, was insbesondere in den ersten Filmen der neuen Welle deutlich wird.
Die wesentlichen Qualitäten oder Merkmale seiner Arbeit, die auch seine ganz spezielle Handschrift ausmachen, sollen hier bereits kurz umrissen werden und im Kontext der betrachteten Filme noch einmal aufgegriffen werden. Zu diesen Merkmalen gehören sicherlich die atmosphärische Arbeit in schwarz-weiß, sowie ein realistischer Unterton seiner Bilder. Im Speziellen sind zu nennen: Die gekonnte Arbeit mit dem am Drehort vorgefundenen Licht (d. h. keine spezielle Ausleuchtung), sowie fließende, lange Kamerafahrten, die schon fast als Markenzeichen Decaës bezeichnet werden können. Charakteristisch ist auch seine Vorliebe in der Dämmerung oder in völliger Dunkelheit zu drehen, was cineastisch zu dieser Zeit nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Wagnis galt und von vielen Kameramännern gemieden wurde. Später wendete er sich auch dem anderen Extrem zu, dem Drehen in Farbe, bei vollem Sonnenlicht, was von technischer Seite ebenfalls eine Herausforderung war und in Filmen wie Plein Soleil [CD60] oder Viva Maria! [MD60] zu bewundern ist.
[...]
[1] Der Begriff wurde von dem Magazin L’Express geprägt.
[2] Der Artikel heißt: Naissance d’une nouvelle avant-garde, erschienen in L’Ecran Française Nr. 144 am 30 März 1948.
[3] Französisches Filminstitut mit Sitz in Paris, welches dazu beiträt Filme als Kulturgut zu erhalten und zu verbreiten.
- Arbeit zitieren
- Tobias Immke (Autor:in), 2007, Zur Bildlichkeit von 'Fahrstuhl zum Schafott' von Louis Malle und Henri Decae im Kontext der Nouvelle Vague, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84761
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