Bei den Volksabstimmungen am 29.05.2005 in Frankreich und am 01.06.2005 in den Niederlanden sprachen sich deren Bürger gegen die Europäische Verfassung aus und versetzten dem Europäischen Integrationsprozess so einen erheblichen Rückschlag.
In Deutschland stimmte der Bundestag am 12.05.2005 und der Bundesrat am 27.05.2005 zwar dem Verfassungsvertrag zu, wegen der Ablehnung in der Bevölkerung und den desaströsen Ergebnissen in Frankreich und den Niederlanden entschied sich Bundespräsident Horst Köhler jedoch, den Vertrag nicht zu ratifizieren.
Gerade wegen der Vorbehalte bei den deutschen Bürgern muss die Zuständigkeit von Parlament und Bundespräsident genau untersucht werden. Ist die Europäische Verfassung nämlich eine Verfassung im Sinne des Grundgesetzes, überträgt dessen Artikel 146 diese Entscheidung an eine Volksabstimmung und es verliert seine Gültigkeit erst „an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Relevante Artikel des Grundgesetzes
1.1. Präambel
1.2. Art. 1 (Menschenwürde – Menschenrechte – Rechtsverb. der Grundrechte)
1.3. Art. 20 (Verfassungsgrundsätze – Widerstandsrecht)
1.4. Art. 23 (Europäische Union – Grundrechtsschutz – Subsidiaritätsprinzip)
1.5. Art. 24 (Übertragung von Hoheitsrechten – Kollektives Sicherheitssystem)
1.6. Art. 79 (Änderung des Grundgesetzes)
2. Der Verfassungsbegriff
2.1. Verfassungstypen
2.2. Unterscheidungen des Verfassungsbegriffs
2.3. Funktionen von Verfassungen
2.4. Normenkomplexe von Verfassungen
2.5. Grundbedingungen politischer Legitimation von Verfassungen
2.6. Die Demos-Defizit- These
2.7. Vertrag oder Verfassung ?
3. Das Erfordernis eines Europäischen Verfassungsvertrags
4. Die EU – Der europäische Bundesstaat ?
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Bei den Volksabstimmungen am 29.05.2005 in Frankreich und am 01.06.2005 in den Niederlanden sprachen sich deren Bürger gegen die Europäische Verfassung aus und versetzten dem Europäischen Integrationsprozess so einen erheblichen Rückschlag.
In Deutschland stimmte der Bundestag am 12.05.2005 und der Bundesrat am 27.05.2005 zwar dem Verfassungsvertrag zu, wegen der Ablehnung in der Bevölkerung und den desaströsen Ergebnissen in Frankreich und den Niederlanden entschied sich Bundespräsident Horst Köhler jedoch, den Vertrag nicht zu ratifizieren.
Gerade wegen der Vorbehalte bei den deutschen Bürgern muss die Zuständigkeit von Parlament und Bundespräsident genau untersucht werden. Ist die Europäische Verfassung nämlich eine Verfassung im Sinne des Grundgesetzes, überträgt dessen Artikel 146 diese Entscheidung an eine Volksabstimmung und es verliert seine Gültigkeit erst „an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“[1]
Um zu zeigen, dass dies nicht so ist, wird zunächst die Bedeutung der grundgesetzlich relevanten Artikel konkretisiert, bevor der Verfassungsbegriff erläutert und die Bedeutung des Verfassungsvertrages für die Union untersucht wird.
Hauptteil
1. Relevante Artikel des Grundgesetzes
1.1. Präambel
Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
[...][2]
In Verbindung mit Art. 1 (2), Art. 24 und anderen ist die Präambel „Ausdruck einer Verfassungsentscheidung für eine ″offene″ Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland“[3] Aber das Grundgesetz begrenzt die „Betätigung der auswärtigen Gewalt“ durch die Grundrechte und „Leitgrundsätze“, die „dem außenpolitischen Handeln als Richtschnur dienen“ sollen. Diese sind unter anderen das Friedensgebot der Präambel und des Art. 26 sowie die Pflicht zur internationalen Kooperation und supranationalen Integration in der Präambel und Art. 24.[4]
1.2. Art. 1 (Menschenwürde – Menschenrechte – Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte)
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.[5]
Die in der Präambel angesprochenen Leitgrundsätze werden hier fortgesetzt. Die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte sowie die Prinzipien von Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Sozialstaatlichkeit binden die auswärtige Gewalt.[6] Die gesamte deutsche Staatsgewalt, unterliegt bei allen von ihr ausgehenden hoheitlichen Handlungen „grundsätzlich überall dort, wo sie tätig wird oder sich auswirkt“ einer strikten Grundrechtsbindung und „territorial umfassenden Grundrechtsverpflichtung“. Dies wird durch die „Unbedingtheit der Formulierung“ in Art. 1 (1) Satz 2 und Art. 1 (3) GG sichergestellt und gilt auch für die „Mitwirkung der Bundesregierung bzw. der von ihr jeweils entsandten Minister im Rat der Europäischen Gemeinschaft.“ Der Entscheidungsspielraum deutscher Staatsorgane bei der Ausübung der ihnen obliegenden Kompetenzen mit grenzüberschreitendem Bezug wird somit eingegrenzt und strukturiert.[7]
Dies steht einer europäischen Politik jedoch nicht entgegen, da die Grundrechte schon seit den Grundrechtserklärungen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission von 1977 bzw. 1978 geschützt werden.[8]
1.3. Art. 20 (Verfassungsgrundsätze – Widerstandsrecht)
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
[...]
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
[...][9]
Aufgrund der Verfassungsbindung an den o.g. Artikel darf der Integrationsgesetzgeber Hoheitsrechte nur bei einem „Mindestmaß an Homogenität auf der Ebene der EU“ übertragen.[10] Im Übrigen verpflichtet der Artikel die „Betätigung der auswärtigen Gewalt“ auf Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Sozialstaatlichkeit.[11]
1.4. Art. 23 (Europäische Union – Grundrechtsschutz – Subsidiaritätsprinzip)
(1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbarer Regelungen, durch die dieses Gesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Art. 79 Abs. 2 und 3.
(2) In Angelegenheit der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten.
[...][12]
Der vorliegende Artikel setzt der europäischen Integration Grenzen indem die deutsche Legislative nur dann an einer Europäischen Union mitwirken darf, wenn sie „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen“ entspricht.[13] Er ist Ausdruck der von der Bundesrepublik Deutschland angestrebten Strukturen im vereinten Europa und verpflichtet zu mehr Demokratie in der EU und der Stärkung des Europäischen Parlaments.[14]
1.5. Art. 24 (Übertragung von Hoheitsrechten – Kollektives Sicherheitssystem)
(1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.
[...]
(2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.
[...][15]
Die Begründungen für Kompetenzen in der Europäischen Union sind nicht im Verfassungsvertrag festgelegt. „Nicht ″die Verfassung begründet″, sondern die Mitgliedstaaten ″übertragen″ in der Verfassung die Kompetenzen an die Union.“[16] Die Zuweisung neuer Kompetenzen an die EU bedarf eines in Art. 48 der Europäischen Verfassung festgelegten Verfahrens „und damit der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten gemäß ihrer jeweils verfassungsrechtlichen Vorschriften.“[17] Art. 24 (1) ist nicht nur „Erlaubnis zur Teilnahme an integrativen zwischenstaatlichen Zusammenschlüssen“, sondern „Staatszielbestimmung“, also eines der „Verfassungsprinzipien, die Grundsätze und Richtlinien für das staatliche Handeln aufstellen und ihm [...] durch Gebote und Weisungen Orientierung und sachliche Aufgaben geben.“[18] Er enthält „die Entscheidung des Verfassungsgebers für die ″supranationale Integration″ der Bundesrepublik Deutschland in zwischenstaatliche Einrichtungen mit eigener Hoheitsgewalt und gestattet damit weitreichende Eingriffe in das Verfassungsgefüge.“[19] Aber „die dem Deutschen Bundestag in Art. 24 (1) GG eingeräumte Befugnis beinhaltet kein Recht auf eigenständige neue Verfassungsgebung seitens des Parlaments.“[20] „Die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine zwischenstaatliche Einrichtung verändert das Funktions- und Machtverteilungsgefüge, wie es im Grundgesetz angelegt ist. Sie greift in die verfassungsrechtlich festgelegte Zuständigkeitsordnung ein und bewirkt eine materielle Verfassungsänderung.“[21] Doch eine solche Übertragung ist nicht im wörtlichen Sinne zu verstehen, sonst käme sie auch rechtlich einer Verfassungsänderung mit der Anforderung der ⅔-Mehrheitsentscheide in Bundestag und Bundesrat nach Art. 79 (2) GG gleich.[22] Der oben genannte Artikel öffnet lediglich „die nationale Rechtsordnung ... derart, dass der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen wird.“[23] Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee beschloss 1949 nach mehrfachen Meinungsverschiedenheiten, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten mit „einfachem Gesetz“ möglich sein soll, um „die Bereitschaft, die Internationalisierung der politischen Wirklichkeit aktiv zu fordern.“[24]
[...]
[1] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Stand Januar 2007, Art. 146.
[2] GG, Präambel.
[3] König, Doris : Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses – Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes, Berlin 2000, S. 42.
[4] Geiger, Rudolf : Grundgesetz und Völkerrecht – Die Bezüge des Staatsrechts zum Völerrecht und Europarecht, München 1985, S. 171 f.
[5] GG, Art. 1.
[6] Geiger, S. 171 f.
[7] Friauf, Karl Heinrich : Die Bindung deutscher Verfassungsorgane an das Grundgesetz bei Mitwirkung an europäischen Organakten,
in : Friauf / Scholz (Hrsg.) : Europarecht und Grundgesetz – Betrachtungen zu materiell- und formalrechtlichen Problemen bei der Schaffung und Umsetzung sekundären Gemeinschaftsrechts, Berlin 1990, S. 34-37.
[8] Bruckmann, Wolfgang : Die grundgesetzlichen Anforderungen an die Legitimation der Europäischen Unionsgewalt, Berlin u.a. 2004, S. 100.
[9] GG, Art. 20.
[10] Bruckmann, S. 98.
[11] Geiger, S. 171 f.
[12] GG, Art. 23.
[13] Rüß, Oliver : Vereintes Europa – das unerreichbare Staatsziel ? – Zur Grundgesetzkonformität eines Beitritts der Bundesrepublik Deutschland zu einem europäischen Bundesstaat,
Baden-Baden 2005, S. 57.
[14] Bruckmann, S. 95 f.
[15] GG, Art. 24.
[16] Streinz, Rudolf : Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten,
in : Hofmann / Zimmermann (Hrsg.) : Eine Verfassung für Europa – Die Rechtsordnung der Europäischen Union unter dem Verfassungsvertrag, Berlin 2005, S. 86.
[17] Streinz, S. 82.
[18] Scheuner, Ulrich : Staatszielbestimmungen,
in : Schnur, Roman (Hrsg.) : Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag,
München 1972, S. 325-346,
zitiert nach König, S. 48.
[19] Geiger, S. 161.
[20] Rüß, S. 35.
[21] Geiger, S. 163.
[22] Friauf, S. 23 f.
[23] BVerfGE 37, 271 (280),
zitiert nach : Friauf, S. 23.
[24] König, S. 40 f.
- Quote paper
- Yves Martin Görsch (Author), 2007, Die Europäische Verfassung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84367
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