Die Arbeit beschäftigt sich mit tugendethischen Ansätzen. Es werden Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin näher beleuchtet. Im Zentrum steht die Denkschrift der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland "Demokratie braucht Tugenden", die kritisch diskutiert wird.
Inhaltsverzeichnis
1. Tugend – „Ein alter Hut“?
2. Historische Entwürfe
2.1 Platon
2.2 Aristoteles
2.3 Thomas von Aquin
3. Demokratie braucht Tugenden
3.1 Grundkonzeption
3.2 Tugenden des Bürgers und des Wählers im Besonderen
3.2.1 Vorbemerkung
3.2.2 Selbstverantwortung und Eigenhilfe
3.2.3 Redlichkeit
3.2.4 Zivilcourage
3.2.5 Vertrauen und Kritikfähigkeit
3.2.6 Umsichtigkeit
3.2.7 Vernunft
3.3 Tugenden des Politikers
3.3.1 Gewissenhaftigkeit
3.3.2 Gerechtigkeit – Gemeinwohlorientierung
3.3.3 Wahrhaftigkeit
3.3.4 Klugheit
3.4 Tugenden der Journalistinnen und Journalisten
3.4.1 Journalistische Wissbegier und Klugheit
3.4.2 Standfestigkeit und Mut
3.4.3 Besonnenheit
3.5 Tugenden der Lobbyisten: Gemeinwohlorientierung trotz Partikularinteressen
4. Kritische Würdigung
5. Literaturverzeichnis
5.1 Quellen
5.2 Sekundärliteratur
1. Tugend – „Ein alter Hut“?
Dieser Auffassung waren die Autoren der Denkschrift Demokratie braucht Tugenden offenbar nicht. Sie machen in unserem demokratischen Gemeinwesen ganz aktuell[1] einen Mangel an Tugenden aus. Mit der Beseitigung dieses Mangels aber, also mit der (Rück-) Besinnung auf Tugenden, würde die Demokratie und mit ihr das Zusammenleben der Menschen in Deutschland verbessert.
Mit dem Begriff Tugend hat man versucht, den griechischen Ausdruck avreth, zu übersetzen.
Diese Übertragung ist allerdings problematisch, weil sich hinter der areth, ein gedankliches Konzept verbirgt, das nicht deckungsgleich mit einem einzigen Begriff wiederzugeben ist.[2] Daher sind weitere Bedeutungen aufzuzeigen, wenn man über avreth, spricht, so z.B.: ‚Vortrefflichkeit’, ‚lobenswerte Eigenschaft’, ‚Tauglichkeit’,[3] wobei der Begriff Tauglichkeit, obwohl er für moderne Ohren etwas antiquiert klingen mag, der ursprünglichen Bedeutung am nächsten kommen dürfte. Er ist nämlich nicht direkt moralisch konnotiert. Unter avreth, ist zunächst Gutheit in einem bestimmten Bereich zu verstehen, beispielweise im Handwerk oder in der Kunst. Mit der Zeit allerdings werden unter Tugendhaftigkeit allgemein gute Haltung, Eigenschaft, Handlung, Gestaltung[4] in Bezug auf das ethisch oder moralisch Richtige subsummiert[5] bis hin zur Definition der Tugend als „sittliche Kraft, die der Erhaltung der Gemeinschaft dient“ (Lange 1992: 259). Wir werden sehen, dass es wenig ertragreich ist, es bei einer derart kurzen Definition bewenden zu lassen. Lange hat aber mit der Dimension der Gemeinschaft einen wichtigen Aspekt in seine Definition aufgenommen. Denn auch wenn antike Vorbilder wie Platon und Aristoteles ihr Augenmerk auf den Mensch an sich richten, wird spätestens mit der Denkschrift Demokratie braucht Tugenden deutlich, dass Tugendhaftigkeit zwar eine Sache der inneren Einstellung des Individuums ist, die aber konkrete positive Auswirkungen auf das Gemeinwesen hat. Unter diesem Blickwinkel sind Tugenden „alte Lebensmaximen“[6] mit neuer Aktualität. Im Vorfeld ist allerdings grundlegend festzuhalten, dass der Tugendbegriff trotz aller Renaissanceanzeichen in der Neuzeit für die Menschen in der Antike einen wesentlich höheren Stellenwert hatte. Während nämlich heute im Zusammenhang mit Tugend danach gefragt wird, zu welchen Verhaltensweisen man moralisch verpflichtet ist, ist die Frage nach der Tugend für den antiken Ethiker eine auf den ganzen Menschen abzielende Frage. Sie zielt auf das Problem, wie man leben soll, was für ein Mensch man sein soll, damit man schließlich Glück erlangt. (vgl. Höffe/Rapp 1998: 1533; Kersting 2001: 43)[7]
Ob sich allerdings antike bzw. mittelalterliche Tugendentwürfe und moderne Ansätze unvereinbar gegenüber stehen oder sich vielleicht auch sinnvoll ergänzen, soll mit der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Hierzu werden die platonisch-aristotelische Tugendlehre und der Ansatz Thomas von Aquins als historische Bezugspunkte untersucht, da sie m.E. ohne Zweifel die herausragenden tugendethischen Ansätze bis heute darstellen. Sodann wird die Denkschrift Demokratie braucht Tugenden näher in den Blick genommen, der eine Entwicklung des Tugendbegriffes in der Moderne zugrunde liegt. Es soll außerdem nach gemeinsamen Ansätzen der historischen Entwürfe und der Denkschrift gesucht werden, die für ein gutes Zusammenleben von Menschen in unserem Gemeinwesen fruchtbar gemacht werden können.
Dabei können im Rahmen dieser Arbeit jedoch einige für das Thema wesentliche Aspekte leider nicht berücksichtigt werden. Das gilt für antike Ansätze, die der Richtung der Akademie kritisch bis ablehnend gegenüber standen, wie zum Beispiel die Stoiker, wie auch für die aktuelle Diskussion,[8] die um die Vor- und Nachteile von Tugendethik gegenüber anderen ethischen Entwürfen kreist. Vor allem letztere wäre für eine umfassende Behandlung der hier aufgeworfenen Fragestellung nach der aktuellen Notwendigkeit von Tugenden im demokratischen Gemeinwesen in weiteren Arbeiten zu berücksichtigen, um nachdrücklich deutlich zu machen, dass Tugend eben kein alter Hut ist.
2. Historische Entwürfe
2.1 Platon
Platon behandelt in vielen seiner Werke die Frage nach dem Wesen der Tugend, indem er zahlreiche Ansätze von Vorgängern aufgreift und erweitert, allen voran die des Sokrates[9] [10].
Im philosophischen Denken der Antike war die Ansicht fest verankert, dass der Mensch sein Leben nach einem letzten Zweck, nach einem höchsten Gut, kurz: nach dem Glück ausrichte. Äußerst umstritten war allerdings der Weg, der zum glücklichen Leben führen könne.
Unter diesem Gesichtspunkt muss auch die gesamte Tugendlehre Platons begriffen werden. Tugenden sind hier die „Eigenschaften, Gewohnheiten, Haltungen, Handlungsweisen und Kompetenzen, die zuverlässiger das höchste Gut herbeizuführen vermögen als andere“ (Kersting 2001: 45f)[11]. Da er stets skeptisch war, ob die unzweifelhafte Erkenntnis des Glücks oder des Gutseins überhaupt möglich sei, (vgl. Höffe/Rapp 1998: 1536) ist das intensive Nachdenken darüber, was für das menschliche Leben insgesamt gut oder schlecht sei, von zentraler Bedeutung, um schließlich zu einem Tugendwissen zu gelangen, das zur Hervorbringung des Glücks führt. (vgl. Höffe/Rapp 1998: 1536) In seiner Politeia thematisiert er diesen Problemkreis, wobei er die Tugenden zunächst im Zusammenhang mit der wohlgeordneten Stadt einführt, bevor er sich auf den Menschen an sich konzentriert. Hier ist mit einem Bezug auf ein konkretes praktisches Feld des menschlichen Zusammenlebens eine entscheidende Weiterführung sokratischer Gedanken feststellbar (vgl. Irwin 1997: 123). Hinsichtlich der wohlgeordneten Stadt stellt Platon fest, dass sie gut ist, wenn in ihr zu allererst Weisheit (sofi,a) zu finden ist. (vgl. Pol.: 428b) Darunter ist allerdings nicht die Erkenntnis eines Baumeisters oder Landwirts zu verstehen, die sich stets bloß auf das Innere der Stadt beziehen, sondern die Summe der Erkenntnisse von Wenigen, die über die Stadt hinausreichen. (vgl. Pol.: 428c/d)
Als zweite Tugend wird die Tapferkeit (avndrei,a) genannt. Sie sorgt dafür, dass der Mensch durch seine Bildung und Erziehung stets standhaft und beharrlich bleibt und Gutes von Schlechtem zu trennen weiß, so dass er gewiss ist, was zu tun und was zu unterlassen ist. Das gilt besonders angesichts verschiedener Bedrohungen wie Lust (h`donh,), Schmerz (lu,ph), Furcht (fo,boj) und Begierde (evpiqumi,a). (vgl. Pol.: 429a-430c; Irwin 2004: 224)
Die Besonnenheit (swfrosu,nh) ist die dritte Tugend auf dem Weg zur Gerechtigkeit. Sie vervollständigt Platons Theorie der Dreiteilung. Wie schon das Gemeinwesen in drei Bereiche gegliedert wurde, von denen die Regierenden sozusagen als primi inter pares zwischen den beiden übrigen vermittelten, fungiert auch die Besonnenheit als Mittlerin zwischen Weisheit und Tapferkeit dergestalt, dass sie schließlich zur Gewissheit führt, dass „the rational part should rule“ (Irwin 2004: 225), „[s]o daß wir also vollkommen richtig sagen können, diese Einmütigkeit sei Besonnenheit, nämlich des von Natur aus Besseren und Schlechteren Zusammenstimmung darüber, welches von beiden herrschen soll, in der Stadt sowohl als in jedem einzelnen“ (Pol.: 432a/b).
Tugendhaftigkeit zeigt sich allerdings erst, wenn auch die vierte Tugend sich einstellt, die Gerechtigkeit (dikaiosu,nh). Sie ist vorhanden, wenn alle anderen Tugenden bei jedem Einzelnen zur Entfaltung kommen. Dann nämlich verrichtet jeder das Seinige und erhält jeder das Seinige. (vgl. Pol.: 433b/d/e)
Platon gelangt in Anlehnung an Sokrates zum Tugendwissen über die Analyse der menschlichen Seele, da herausgefunden werden muss, was die „Natur der Seele vom Menschen verlangt“ (Kersting 2001: 46). Die Ordnung der Seele als Voraussetzung des Tugendwissens ist dann hergestellt, wenn die Seele das Ihrige tut. Analog zum sozialen Aufbau der idealen Stadt[12] und ihrer Tugenden stellt sich Platon die Seele als dreigeteilt dar, (vgl. Irwin 1997: 123) wobei jeder der drei Teile seine eigene Beschaffenheit und damit eigene Funktionen aufweist.
Die ersten beiden Teile, zunächst der treibende, sodann der vernünftige, bilden ein Gegensatzpaar. Sie korrespondieren mit der Tugend der Tapferkeit und der Weisheit. Der dritte Teil der Seele ist der eifrige (qumo,j)[13], der die Tugend des Maßes impliziert. (vgl. Pol.: 440c.441a; Irwin 1997: 125; Canto-Sperber/Brisson 1997: 99)
Genauso wie die Stadt gut ist durch die sie gestaltenden Menschen, so ist der Mensch tugendhaft durch seine Seele. (vgl. Pol.: 435f.441c)
Alle drei Seelenteile müssen im Einklang miteinander stehen, damit der Mensch tugendhaft genannt werden kann: „Dann verhält sich also der Mensch tugendhaft, wenn seine Seele das Ihrige tut; und dann tut seine Seele das Ihrige, wenn jeder Seelenteil das Seinige tut.“ (Kersting 2001: 46) Dieser Zustand tritt dann ein, wenn innerhalb des Gegensatzpaares der vernünftige Teil der Seele dominiert und schließlich vom dritten, eifrigen Teil unterstützt wird. (vgl. Pol.: 442d; Kersting 2001: 47) Hier kommt nun die übergeordnete Gerechtigkeit ins Spiel: Der so hergestellte Zustand ist gerecht – und die zu definieren war das eigentliche Ziel dieses Abschnittes der Politeia –, da „einer nämlich jegliches in ihm nicht Fremdes verrichten läßt, noch die verschiedenen Kräfte seiner Seele sich gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen, sondern jeglichem sein wahrhaft Angehöriges beilegt und sich selbst beherrscht und ordnet und Freund seiner selbst ist“ (Pol.: 443e). Gerechtigkeit herrscht folglich „durch optimale Kooperation der Tugenden“ (Kersting 2001: 47).[14] Wenn ein Mensch diesen Zustand der seelischen Balance erreicht hat, ist er tugendhaft und handelt automatisch dementsprechend. Der Fokus dieses Ansatzes liegt auf dem Handelnden statt auf der einzelnen Handlung, da jemand mitunter Tapferkeit im Kampf beweisen könne, ohne an sich tugendhaft zu sein. Tapferkeit ist also nicht a priori eine Tugend, sondern erst, wenn sie dem Guten zuträglich ist. (vgl. Höffe/Rapp 1998: 1537) Der Vorwurf, ein tugendethischer Ansatz konzentriere sich ausschließlich auf den Handelnden und nicht auf die Handlung, wird aber dennoch entkräftet. Der Mensch erweist sich nämlich erst durch seine Handlung, die er aufgrund seines seelischen Gleichgewichts hervorbringt, als tugendhaft und erreicht erst dann den Zustand der Glückseligkeit (vgl. Euth.: 280d)
2.2 Aristoteles
Die Tugendlehre des Aristoteles zielt in der Tradition Platons ebenfalls auf das Gute, das Glück im Sinne eines gelungenen, geglückten Lebens (vgl. EN: I,3 1095a),[15] womit er ebenso den Fokus auf den einzelnen Menschen richtet. Erst später kommt er wieder auf die Tugenden mit Blick auf das Gemeinwesen zurück. (s.u.; vgl. EN: X) Die Glückseligkeit ist ein Endziel, das wir um seiner selbst willen anstreben. Die Tugenden jedoch, die wir auch um ihrer selbst willen wollen, erstreben wir letztlich um der Glückseligkeit willen. (vgl. EN: I,6f 1097a/b) „Also: die Glückseligkeit stellt sich dar als ein Vollendetes und sich selbst Genügendes, da sie das Endziel allen Handelns ist.“ (EN: I,7 1097b; vgl. Ackrill 1995: 45f) Die entscheidende Frage ist aber nun, was die Glückseligkeit überhaupt ist. Aristoteles versucht sie zu klären, indem er das Gute, das Tugendhafte im Menschen bestimmt.
So wie dem Handwerker oder dem Musiker ihnen eigene Aufgaben zugeschrieben werden, kommt auch dem Menschen im Allgemeinen eine ihm eigene Tätigkeit zu. Dabei handelt es sich aber nicht um eine sinnliche, da dies auch Tieren eigen ist, sondern es bleibt nur ein „dem vernunft-begabten Seelenteile tätiges Leben übrig, und hier gibt es einen Teil, der der Vernunft gehorcht und einen anderen, der sie hat und denkt“ (EN: I,7 1098a). So wie wir aber beim Handwerker oder beim Musiker zwischen denjenigen unterscheiden, die ihre Tätigkeit ausführen und denjenigen, die ihre Tätigkeit gut ausführen, handelt zwar der Mensch dem Menschen gemäß, der vernünftig handelt (z.B. im Vergleich zum Tier, das nicht dem Menschen gemäß tätig werden kann, weil ihm die Vernunft fehlt). Aber auch hier kann das Attribut gut hinzugefügt werden: „[W]enn endlich als gut gilt, was der eigentümlichen Tugend oder Tüchtigkeit des Tätigen gemäß ausgeführt wird, so bekommen wir nach alledem das Ergebnis: das menschliche Gut ist der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele.“ (EN: I,6 1098a) Die spezifische Aufgabe (e;rgon)[16] des Menschen besteht also im guten Menschsein an sich. Die evudaimoni,a des Menschen ist demzufolge auch im Zusammenhang mit der guten Tätigkeit in Bezug auf den vernunftbegabten Seelenteil zu suchen.
Die Tugend ist zunächst zwar eine charakterliche Disposition, ein Habitus[17]. Aber erst in der Tätigkeit, die auf der Grundlage des Habitus geschieht, zeigt sich die Tugend eines Menschen tatsächlich. (vgl. EN: I,6 1098a) Wie auch schon sein Lehrer Platon weist Aristoteles im Zusammenhang mit dem Tätigsein darauf hin, dass nicht nur singuläre Taten den Menschen als tugendhaft ausweisen. Vielmehr muss die Tugend ein Leben lang andauern.
Bevor wir uns den einzelnen Tugenden näher zuwenden, bedarf es noch einiger Vorbemerkungen. Es wird nämlich die Frage aufgeworfen, ob Tugenden nun lernbar sind oder nicht: Wird „die Glückseligkeit durch Lernen, Gewöhnung oder sonst eine Übung erworben, oder durch eine göttliche Fügung oder auch durch Zufalle dem Menschen zuteil“ (EN: I,10 1099b)? Aristoteles schließt die Glückseligkeit durch Zufall aus, lässt aber die beiden anderen Varianten offen. Sicher ist allerdings, dass sie durch Tugend, die erlernt und geübt wird, erworben werden kann und – sollte sie kein unmittelbares Geschenk der Götter sein – zur göttlichen Sphäre gehört. (vgl. EN: I,10 1099b) Eher beiläufig zunächst, für unseren Themenkreis aber bedeutsam, knüpft er an die Erlernbarkeit von Tugend an, indem er es als die wichtigste Aufgabe der Staatskunst bezeichnet, „die Bürger in den Besitz gewisser Eigenschaften zu setzen, sie nämlich tugendhaft zu machen und fähig und willig, das Gute zu tun“ (EN: I,10 1099b). So wird sich auch der wahre Staatsmann um die Tugend am meisten bemühen, „da er die Bürger tugendhaft und den Gesetzen gehorsam machen will“ (EN: I,13 1102a).
Auch die Lust muss zwangläufig im Bereich der Tugend eine Rolle spielen, wenn auch nicht im landläufigen, unter ethischen Gesichtspunkten womöglich negativen Sinne. Denn, so argumentiert Aristoteles, „das Gerechte [ist] für den Freund der Gerechtigkeit und überhaupt das Tugendgemäße für den Freund der Tugend lustbringend“ (EN: I,9 1099a). Nicht eindeutig und daher umstritten ist allerdings, ob neben den tugendhaften Handlungen, die in höchstem Maße gut zu nennen sind und gemäß der bereits beschriebenen Logik zur Glückseligkeit führen, nicht auch äußere Güter wie Geld, Macht, Freunde notwendig sind, um Glückseligkeit zu erlangen, oder ob sie nicht vielmehr Glückseligkeit konstituieren, insofern sie die Tugenden ermöglichen oder erleichtern.[18] Der Tugendhafte zeichnet sich jedenfalls dadurch aus, dass er – mögen die äußeren Umstände nun glücklich oder unglücklich sein – stets das Beste tut (vgl. EN: I,11 1101a) und damit seinen Teil dazu beiträgt, sein Leben in guter Weise zu führen und Glückseligkeit zu erlangen. (vgl. Wolf 1995: 88)
Wie schon Platon versteht auch Aristoteles die menschliche Tugend nicht als Tugend des Leibes, sondern als Tugend der Seele, weswegen es für alle, die mit Staatskunst zu tun haben, notwendig ist, über die Seele Bescheid zu wissen. (vgl. EN: I,13 1102a) Die Seele teilt sich zunächst in zwei Sphären, eine vernünftige und eine unvernünftige. Der unvernünftige enthält das allem Leben gleiche vegetative Vermögen der Ernährung und des Wachstums. Darüber hinaus wohnt dem unvernünftigen Teil ein begehrendes, strebendes Element inne, das insofern allerdings mit der Vernunft verbunden ist, als es ihr Folge leistet. (vgl. Ackrill 1995: 54; Wolf 1995: 86f) Auch wenn Aristoteles das an dieser Stelle nicht explizit sagt, wirkt der Gehorsam der Begierde gegenüber der Vernunft im tugendhaften Menschen. Er verweist nämlich darauf, dass wir dies beim enthaltsamen, mäßigen oder starkmütigen Menschen kennen – allesamt Tugenden, wie wir noch sehen werden. Somit stellen wir auch bei Aristoteles den Zustand der Tugendhaftigkeit als Balance der Seelenteile fest.
[...]
[1] Die Denkschrift erschien im November 2006.
[2] Es sei darauf hingewiesen, dass ja auch in der antiken Welt über einen Grundkonsens hinaus keineswegs Einigkeit darüber bestand, was unter avreth, zu verstehen sei.
[3] Vgl. Wils/Mieth 1992: 183f; Höffe/Rapp 1998: 1532; Müller 1998: 20-24; Prisching 2001: 20; Lange 1992: 259; Borchers 2001: 155-158.
[4] Vgl. Müller 1998: 15: „[W]irkliche Tugend ist Ergebnis und Quelle vernunftgeleiteter und selbständiger Lebensgestaltung.“
[5] Darunter fallen auch die so genannten Sekundärtugenden oder bürgerliche Tugenden wie Fleiß, Ordnung, Pünktlichkeit. Der Zusatz „sekundär“ deutet aber schon darauf hin, dass es übergeordnete Tugenden gibt. Nur diese werden in der vorliegenden Arbeit behandelt. Es bedarf keiner umfassenden Analyse, um herauszustellen, dass Sekundärtugenden nicht nur im guten, sondern auch im schlechten Sinne angewandt werden können, ohne dass sich ihre Qualität verändert. Fleiß, Ordnung und Pünktlichkeit der Nationalsozialisten bei der Vernichtung von Menschen bleiben dieselben, wobei weder die Haltung noch die Handlungen der Mörder als tugendhaft im eigentlichen Sinne bezeichnet werden können. Diese kurze Anmerkung soll als Begründung dafür genügen, dass diese sog. Tugenden in der vorliegenden Arbeit keine Rolle spielen. (vgl. Müller 1998: 14)
[6] Diese Formulierung stammt von Kutschki 1993. Die Autoren des Aufsatzbandes beschreiben aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Aktualität der (Kardinal-)Tugenden.
[7] Daher ist auch die Bezeichnung der antiken Ethik als Tugendethik nicht ganz zutreffend, da die zentrale Frage ja auf das Glück und nicht auf die Tugend abzielt, weswegen sie als eudaimonistische Ethik verstanden werden sollte. (vgl Höffe/Rapp 1998: 1533)
[8] Vgl. exemplarisch Stock 1995; Müller 1998; Rippe 2000; Mieth 2000; Kersting 2001, bes. 66-72; Höffe 2004 sowie die in Anm. 25 angeführten Titel.
[9] Obwohl die Tugenden in der Politeia Platons explizit als solche ausgeführt werden, sind auch viele andere Werke Platons in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen. Hierbei besteht allerdings die Schwierigkeit, dass der frühe Platon nicht trennscharf von im Grunde sokratischen Ansichten unterschieden werden kann, was wiederum Auswirkungen auf Festlegungen im Bereich der Tugendlehre hat; zum Teil gibt es sogar Widersprüche (vgl. Irwin 1997). Daher beschränken wir uns auf Grundlegendes.
[10] Vgl. Gorg.: 506c-507c: Sokrates beschreibt hier das gute Leben als dasjenige des Tugendhaften. Tugendhaftigkeit ist allerdings nicht – wie das mit unterschiedlichen Schwerpunkten in vorsokratischer Zeit z.B. bei Homer, Hesiod oder Pindar bereits anklingt (vgl. Höffe/Rapp 1998: 1533f) – durch eine gute Verfassung des Körpers, sondern durch die Ordnung (ta,xij) der Seele zu erlangen. Der Tugendbegriff wird damit intellektualisiert. Die über allem stehende, maßgebliche Tugend ist die Besonnenheit (swfrosu,nh), woraus Frömmigkeit (ovsi,a) und – das lässt sich aus den Bemerkungen über die Tapferkeit schließen – Mäßigung folgen. Tapferkeit leitet sich aus der Besonnenheit ab. Sie ist dazu notwendig, alles das zu fliehen, was ihn von den übrigen Tugenden abhält und standhaft zu bleiben. Die tugendhafte Lebensweise führt zum letztlich Erstrebenswerten, dem Glück, „[s]o daß notwendig […] der besonnene Mann, da er wie wir gezeigt haben, auch gerecht und tapfer und fromm ist, auch der vollkommen gute Mann sein wird; der Gute aber wird schön und wohl in allem leben, wie er lebt, wer aber schön und wohl lebt, wird auch zufrieden und glückselig sein.“ (Gorg.: 507c) An anderer Stelle fügt er Gerechtigkeit (dikaiosu,nh) hinzu, (vgl. Euth.: 279b) die später als übergeordnete Tugend fungieren wird. Womöglich haben diese Gedanken – insbesondere die im Gorgias aufgeführten – Platon zur Abfassung der Politeia gebracht. (vgl. Irwin 1997: 124)
[11] So im Bezug auf Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit. Bevor eine der beiden als Tugend bezeichnet werden kann, muss erst untersucht werden, welche von beiden zur Glückseligkeit (euvdaimoni,a) führt. (vgl. Pol.: 427b)
[12] Auch der soziale Aufbau ist in Bezug auf die Funktionen im Gemeinwesen dreigeteilt, da Platon den Beruf des Kriegers einführt – eine revolutionäre Neuerung innerhalb eines staatlichen Systems, das für jeden Bürger die Verteidigungspflicht vorsieht. (vgl. Canto-Sperber/Brisson 1997: 96) Somit teilt sich die Polis-Gesellschaft zunächst in Erwerbstätige (im Wesentlichen Handwerker und Bauern) und Krieger, von denen wiederum wenige als Philosophen die po,lij regieren sollen. (vgl. Canto-Sperber/Brisson 1997: 97)
[13] Der Begriff bereitet in der Übersetzung Schwierigkeiten. Platon bezeichnet ihn als bisweilen mit der Vernunft verbündet. (vgl. Pol.: 440b.441a) Hierunter ist eine „heftige Gemütsregung“ zu verstehen, „die – meist im Sinne der vernünftigen Einsicht – zum Handeln oder Ausharren treibt“ (Pol.: 375a, Anm. 33). Damit korrespondiert der qu,moj innerhalb der Seele mit der swfrosu,nh, die ebenfalls als Mittler zwischen andrei,a und sofi,a fungiert.
[14] Vgl. pointiert Forschner 2001: 294.
[15] Sie kann also zum einen teleologisch (die Tugenden sind auf ein Ziel gerichtet) und zum anderen eudaimonistisch (dieses konkrete Ziel ist das Gute) genannt werden. (vgl. Kersting 2001: 50)
[16] Vgl. zur weiteren Diskussion des e;rgon des Menschen Wolf 1995: 84-88.
[17] Vgl. EN: II,2 1103b; II,4 1106a; II,5 1106a. Der Begriff Habitus hat sich als Terminus gegenüber dem aristotelischen e[xij durchgesetzt und wird auch hier verwendet. Der stetigen Betonung, die Tugend sei ein Habitus, was zweifelsohne nach Aristoteles der Fall ist, wird m.E. aber nicht der Komponente des Tätigseins des Menschen gerecht, die ja nicht unwesentlich ist.
[18] Vgl. EN: I,9 1099b; I,11 1101a sowie Höffe/Rapp 1998: 1540, die das Problem diskutieren.
- Arbeit zitieren
- Jörg Röder (Autor:in), 2007, Braucht Demokratie Tugenden? , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83664
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