Eine materialreiche, in Darstellung und Argumentation klare und auch Nietzsches Verhältnis zu Pythagoras problematisierende Hausarbeit.
Inhalt
0. Einleitung
1.1. Person und Persönlichkeit des Pythagoras von Samos
1.2. Lehre des Pythagoras
1.3.Schwierigkeiten einer Klassifizierung
2.1. Nietzsche über Pythagoras
2.2. Vom Nutzen oder Nicht-Nutzen der pythagoreischen Philosophie – oder nicht miteinander synchronisierbare Denksysteme
2.3. Der Philosoph bei Nietzsche
3.1. Wäre Pythagoras auch heute ein Philosoph?
4. Ergebnis
5. Bibliographie
0. Einleitung
Pythagoras von Samos, der von ca. 570 v. Chr. bis ca. 480 v. Chr. lebte[1], ist heutzutage als Philosoph umstritten. Zwar werden ihm Erkenntnisse von mathematischen Gesetzmäßigkeiten zugesprochen, doch vieles, was ihn und die von ihm gegründete Schule betrifft, liegt im Dunkeln. Schriftliche Aufzeichnungen wurden von Pythagoras selbst nicht hinterlassen; die zunächst oral tradierte Geheimlehre der Pythagoreer wird später schriftlich fixiert.
Auch Friedrich Nietzsche setzt sich mit Pythagoras von Samos in den Vorlesungsaufzeichnungen vom WS 1871/72 – WS 1874/75[2] auseinander und reiht ihn unter die vorplatonischen Philosophen. Dabei untersucht er zunächst die grundsätzlichen Charakteristika der „Vorplatoniker", filtriert die Gemeinsamkeiten heraus und kommt anschließend auf die speziellen Wesensmerkmale der einzelnen Philosophen zu sprechen.
Pythagoras lässt eine Klassifizierung zum Philosophen problematisch erscheinen. Die Gründe sollen im zweiten Teil der Untersuchung ersichtlich werden. Unter anderem werden dabei die Kontroversen und Paradoxe dargestellt, auf die man zwangsläufig bei einer näheren Auseinandersetzung mit Pythagoras stößt: Handelt es sich tatsächlich um einen Philosophen oder ist er lediglich ein charismatischer Gelehrter, Sektenführer und politischer Agitator? Die Argumentation Nietzsches, welches die Charakteristika und Eigenschaften eines Philosophen sind, wird dabei aufgegriffen.
Im dritten Teil soll die Sonderstellung des Pythagoras und die Schwierigkeiten einer eindeutigen Zuordnung herauskristallisiert werden unter spezieller Berücksichtigung des status quo der akademischen Philosophie 2500 Jahre nach Pythagoras. Das erscheint unabdingbar, sofern nicht lediglich ein historisches Interesse an Pythagoras bestehen soll.
1.1. Person und Persönlichkeit des Pythagoras von Samos
Da Lehre und Person des Pythagoras in engem Zusammenhang miteinander stehen, erscheint es mir relevant, die wesentlichen biographischen Daten zu erwähnen. So kann sich ein Verständnis dafür bilden, was er zu lehren beabsichtigte; schließlich hat er kein eigenständiges, geschlossenes, philosophisches System hinterlassen.
Pythagoras von Samos sei allein vom Äußeren eine höchst auffallende Erscheinung gewesen.[3] Das betreffe nicht nur die Kleidungsweise – er trug ein weißes Gewand, was untypisch war für die Griechen und an den Thraker Orpheus erinnerte – sondern auch die körperliche Statur: Er sei hoch gewachsen gewesen, von noblem Aussehen und hat, so heißt es, in Stimme, Charakter und jeder anderer Hinsicht ein außerordentliches Maß an Charme und Zierde besessen. Sogar seine Gegner bezeugten ihm ein außerordentliches Charisma, Eloquenz und Intelligenz. Pythagoras soll demzufolge großes Aufsehen in seinem Wirkungskreis erregt haben, unklar ist es allerdings noch, ob es lediglich an seinem Charisma lag oder aber am Wert seiner Lehren und Aussagen. Ein Beispiel für seine Wirkung und Redegewandtheit findet sich in einem der zahlreichen überlieferten Fragmente, wo seine Ankunft in Kroton beschrieben wird:
„Als er Italien erreicht hatte und in Kroton ankam – sagt Dikaiarch -, da erschien der Ankömmling den Leuten als ein weitgereister, außergewöhnlicher Mann und als einer, der hinsichtlich seiner persönlichen Natur vom Schicksal gut ausgestattet war; denn er sah frei aus und war von großer Gestalt, und er hatte ungewöhnlich viel Charme und Harmonie sowohl in seiner Stimme als auch in seinem Charakter und in allen übrigen Verhaltensweisen. Infolgedessen beeindruckte er die Stadt Kroton so sehr, daß er, nachdem er durch einen reichhaltigen und schönen Vortrag zuerst die Seelen der alten Herren des regierenden Rats für sich gewonnen hatte, auf Bitten der Ratsherren hin die jungen Männer ebenfalls mit altersgemäßen Ratschlägen belehrte, danach die Kinder, die sich aus ihren Schulen kommen versammelten, und schließlich die Frauen, da für ihn auch ein Zusammentreffen der Frauen arrangiert worden war.“[4]
Viele Details aus dem Leben dieses Philosophen (einfachheitshalber werde ich Pythagoras im weiteren Verlauf des Textes so bezeichnen, obwohl erst im Verlauf des Textes ersichtlich werden soll, ob auf ihn diese Bezeichnung zutrifft) sind schwer fassbar oder unzulänglich dokumentiert. Anderes ist von mythologischer Natur: Er wurde 570 v. Chr. geboren – es heißt, seine Geburt soll schon von „göttlicher Natur“ gewesen sein, denn seine Herkunft sei vom Gott Apollon bezeugt.[5] In seiner Jugend unternahm er viele Reisen, unter anderem nach Ägypten, wo er sich geometrische Kompetenz angeeignet hat. Auch Ägyptisch soll er gelernt haben, doch ist für seine spätere Lehre entscheidend, dass er die Wiedergeburtsvorstellungen und rituellen Vorschriften der Ägypter übernommen hat. Auch Lehren der Phönizier (Arithmetik), Wissen der Chaldäer (Astronomie) und der Juden (Traumdeutung) sollen bei Pythagoras Lehre beeinflusst haben. Nicht belegt sind die Behauptungen, dass Pythagoras darüber hinaus durch fremde Kulturen beeinflußt worden sei – beispielsweise durch die indischen Weisen, die Kelten oder die Iberer. Häufig wird er mit Orpheus, dem thrakischen mythischen Sänger in Verbindung gebracht. Das Reisen hatte eine große Bedeutung, es ging dabei um die Zunahme von sophía, Weisheit. Auch wenn hier von Weisheitslehren die Rede ist, so kann man nicht davon ausgehen, dass Pythagoras selbst ein philosophisches System begründet hat, das auf Theorien, Logik oder argumentativen Zusammenhängen aufgebaut ist. Es scheint hier also eine andere Art von Weisheit gemeint zu sein als die unserem Verständnis nach geltende kognitive Fähigkeit, Objekte zu analysieren oder synthetische Zusammenhänge zu erstellen. Pythagoras werden neben großer Intelligenz und Weisheit auch übersinnliche Fähigkeiten zugeschrieben – dazu gehört, dass er sich an seine früheren Inkarnationen erinnern oder zukünftige Ereignisse vorhersagen konnte.
Auch war Pythagoras als politischer und sozialer Reformer aktiv. In Samos gab es politische Unruhen aufgrund der Tyrannenherrschaft des Polykrates, was für Pythagoras Grund war, sich nach Italien zu begeben. Um 530 v. Chr. war seine Ankunft in Unteritalien, Kroton. Durch sein charismatisches Auftreten erregte er großes Aufsehen, und es bildete sich um ihn eine Anhängerschaft von rund 300 jungen Aristokraten. Die Unterweisungen des „Philosophen“ schlossen auch den Senat von Kroton, Kinder und Jugendliche mit ein. Durch sein Mitwirken erlangen die Krotonier eine politisch-militärische Überlegenheit. Der Erfolg und das Vertrauen, das man ihm entgegenbrachte, soll so groß gewesen sein, dass man ihm und seinen Freunden die politische Verantwortung über die Städte überlassen hat. Doch war sein ethisches Engagement in Italien längerfristig erfolglos. Um 500 v. Chr. kommt es zu der sogenannten „Kylonischen Erhebung“ gegen Pythagoras, woraufhin er nach Metapont auswandert und dort den Tod findet. Der Pythagoreismus als Lehre breitet sich nach seinem Tod unter anderem in Lokroi, Rhegion und Tarent aus.
1.2. Lehre des Pythagoras
Pythagoras Idee ist, dass die Mathematik ein Instrument zur Vorbereitung für die „Schau der höheren Dinge“ sei. Ziel ist es anhand verschiedener Kompetenzen den Geist freizumachen von der Körperlichkeit. Hier ist die Parallele zu Platon offensichtlich. So heißt es bei Epicharm:
„Er pflegte eine Philosophie, deren Ziel es ist, den uns zugeteilten Geist [ noûs ] von den derartigen [d.h. körperlichen] Käfigen und Fesseln zu retten und ganz freizumachen. Ohne diesen kann wohl niemand weder irgend etwas Vernünftiges oder Wahres überhaupt herausfinden, noch wahrnehmen, welchen Sinn auch immer er bemüht. Denn <der Geist>, für sich selbst, sieht alles und hört alles, das übrige aber ist taub und blind (Epicharm 23 B 12 D.-K.).“[6]
Pythagoras geht von der Prinzipienlehre aus. Diese wird in den aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert überlieferten „Pythagoreischen Aufzeichnungen“ dargestellt:
[Die Pythagoreer bezeichnen] „die Monade («Einheit») als Anfang (Prinzip) aller Dinge; aus der Monade aber sei die unbegrenzte Dyade («Zweiheit») entstanden, die gleichsam als Materie der Monade, welche Ursache ist, untersteht; aus der Monade und der unbegrenzten Dyade aber kämen die Zahlen, aus den Zahlen die Punkte, aus diesen die Linien, aus denen die Flächenfiguren entstünden, aus den Flächen aber die festen Gebilde, aus diesen die sinnlich wahrnehmbaren Körper, deren Elemente vier an der Zahl seien: Feuer, Wasser, Erde Luft usw.(Alex. Polyhist. FgrHist273 F93 = Diog. Laert. 8,25).“[7]
Zahlen werden also als existierende Dinge betrachtet. Ferner wird unterschieden zwischen seienden Dingen – immaterielle, ewige und allein bewirkende Dinge in ihrer Körper- und Formlosigkeit – im Gegensatz zu homomym seienden, körperlichen und materiellen Formen, die aber teilhaben am wahren Sein. Pythagoras zufolge ginge es aber um das Wissen um die im eigentlichen Sinn seienden Dinge. Das scheint eine Art metaphysische Fundamentalontologie der Pythagoreischen Lehre zu sein. In der Beschäftigung mit der Mathematik werden dieser Elemente aus Astronomie, Geometrie, Musik und Arithmetik zugefügt. Die Geometrie, welche er bei den Ägyptern gelernt hat, habe er voran gebracht und zur Vollendung geführt. Innerhalb der Schule – wo eine strenge Geheimhaltung üblich war – sei die mathematische Philosophie zur Blüte gekommen. Die berühmteste mathematische Leistung war schon zu seiner Zeit der nach ihm benannte Satz, dass im rechtwinkligen Dreieck das Quadrat der Hypotenuse den Quadranten der beiden Seiten gleich ist. Mathematische Gesetzmäßigkeiten finden sich nach Pythagoras auch in den Bewegungen der Himmelskörper. Zu den weiteren Leistungen des Pythagoras gehört die Entdeckung der mathematischen Grundlage der Musik. Es handelt sich hierbei um die Rückführung der konsonantischen Intervalle Oktave, Quinte und Quarte auf einfache Zahlenrelationen. Zugleich gilt Pythagoras als Erfinder des Monochords, was ein Instrument zu Ton- und Intervallmessung ist (in der Antike kanón genannt). In Anekdoten wird berichtet wie er mit Hilfe von göttlicher Fügung dieser Erkenntnisse gewahr wurde und sie anschließend in einem naturwissenschaftlichen Experiment überprüfte. Pythagoras Zahlenverständnis erschließt sich in einer Art Mystik. Die ersten vier Zahlen, die sogenannten tetraktýs, enthalten den Schlüssel für die Erklärung der Welt. Die Zahlenverhältnisse sollen für den Aufbau des gesamten Kosmos grundlegend sein. Nach Pythagoras` Verständnis sei der Kosmos musikalisch zusammengesetzt und in der Lage zu singen. Als einziger unter den Sterblichen sei Pythagoras imstande gewesen sein, diese kosmische Musik zu hören. Das Weltall unterliege einem zyklischen Verlauf von Entstehen und Vergehen.
[...]
[1] Diese und andere Angaben sind übernommen aus: Riedweg, Christoph: Pythagoras. Leben. Lehre. Nachwirkung. München 2002. S.18 ff.
[2] Im folgenden beziehe ich mich auf die Ausgabe: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 1. Bearbeitet Fritz Bornmann und Mario Carpitella. Berlin, New York. 1995. S. 211 ff
[3] Vergl. Riedweg, Christoph: Pythagoras. Leben. Lehre. Nachwirkung. München 2002. S.14.
[4] Kirk, S. Geoffrey; Raven, E. John; Schoefield, Malcolm: Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare. Stuttgart, Weimar 1994. S. 250.
[5] Siehe: Riedweg, Christoph. S. 19 f.
[6] ebd. S. 37.
[7] ebd. S.39.
- Arbeit zitieren
- Dominik Sarota (Autor:in), 2005, Pythagoras von Samos in Friedrich Nietzsches Vorlesungsaufzeichnungen vom WS 1871/72 - WS 1874/75, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83344
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