Die vorliegende Arbeit untersucht, wie die SED in den achtziger Jahren und insbesondere im Jahr 1989 den innen- und außenpolitischen Herausforderungen begegnete und weshalb sie mit ihrer Politik des Stillstandes scheitern musste. Hierzu werden zunächst die unter Gorbatschow veränderten politischen Rahmenbedingungen mit ihren Auswirkungen auf die DDR erläutert. Anschließend wird zunächst allgemein, aber auch an konkreten Beispielen dargestellt, wie sich die Politik der SED 1989 äußerte und es wird analysiert, weshalb diese fehlschlug und nicht zum Erhalt des politischen Systems führen konnte.
Gliederung:
1. Einleitung
2. Der Reformdruck der 80er Jahre und die Reaktionen der SED
2.1. Die Reformbestrebungen in der SU und ihre Auswirkungen auf die DDR
2.2. Reformbestrebungen innerhalb der SED
2.3. Die Formierung gesellschaftskritischer Kräfte außerhalb der
3. Der Zerfall der SED-Macht im Wende-Jahr 1989
3.1. Die Ausgangslage im Wendejahr 1989
3.2. Die präkritische Phase der Konfrontation zwischen der SED und den Systemgegnern von Mai bis September
3.3. Die kritische Phase der Konfrontation zwischen der SED und den Systemgegnern von September 1989 bis zum Sturz Erich Honeckers
3.4. Der Machtverlust der SED von Oktober bis Dezember 1989
4. Fazit
5. Literatur
1. Einleitung
Am 7. Oktober 1989 jährte sich zum vierzigsten Mal der Jahrestag der Grün- dung der DDR. Vierzig Jahre lang hatte der zweite deutsche Staat bereits bestanden und kaum jemand hätte zu Beginn des Jahres 1989 daran gezwei- felt, dass es die Deutsche Demokratische Republik auch noch im neuen Jahr- tausend geben wird. Zwar hatten sich in den achtziger Jahren die politischen Rahmenbedingungen der DDR enorm gewandelt. Aus der Sowjetunion, aus Polen und Ungarn wehte ein frischer Wind und die Klassengegner des Wes- tens kratzten durch ihre Entspannungspolitik am lange gepflegten Feindbild der SED-Ideologie. Auch innenpolitisch stand die SED vor großen Herausfor- derungen. Perestroika und Glasnost weckten auch in der DDR-Bevölkerung Hoffnungen auf einen von Moskau inspirierten Systemwandel und die Men- schen - außerhalb aber auch innerhalb der Partei - waren bereit, diesen im- mer offener einzufordern. Dennoch erweckte die SED in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nicht den Eindruck, dass ihre Macht gefährdet sei. Im Gegenteil: Manchem erschien sie vermutlich mächtiger als jemals zuvor, weil sie durch den Reformkurs Gorbatschows eigenständiger werden konnte und sich verstärkt auf der weltpolitischen Bühne zu profilieren suchte. Dass die Krise der SED-Diktatur im Jahr 1989 mit einer derartigen Plötzlichkeit und Wucht ausbrach, „dass Beteiligte wie Beobachter förmlich überrollt wurden“1, ist daher um so erstaunlicher.
„Innerhalb weniger Tage verwandelte sich die alltägliche Tristesse in einen elektrisierenden Aufbruch, der die Nomenklatura aus ihren sicheren Gewohnheiten riß und binnen kurzem das ganze von ihr errichtete Gebäude einstürzen ließ.“2
In meiner Hausarbeit gehe ich der Frage nach den Gründen für dieses über- raschende und schnelle Ende der SED-Herrschaft nach. Dazu stelle ich zu- nächst die sich in den achtziger Jahren gewandelten politischen Rahmenbe- dingungen der SED-Herrschaft dar, die letztlich ausschlaggebend für die Kri-
se des Regimes im Jahr 1989 waren. Dabei stehen insbesondere das „Neue Denken“ aus Moskau und die Reaktionen darauf aus der SED sowie aus der Bevölkerung im Vordergrund. In einem zweiten Schritt werden die wichtigsten Ereignisse des Umbruchs im Jahr 1989 chronologisch aufgeführt. Durch die Darstellung der jeweiligen Reaktionen der SED-Führung werden die Gründe für das Scheitern der SED hervortreten. Bei meiner Analyse werde ich den Betrachtungsfokus nur auf ausgewählte Bereiche richten und daher keine umfassende Darstellung des Niedergangs der SED liefern. Wesentliche Be- reiche, etwa die Wirtschafts- oder Kulturpolitik, müssen außen vor bleiben, weil sie den Rahmen dieser Hausarbeit sprengen würden.
2. Der Reformdruck der 80er Jahre und die Reaktionen der SED
Entscheidend für die Krise der SED-Führung im Jahr 1989 waren die politi- schen und ideologischen Veränderungen in der Sowjetunion seit dem Amts- antritt Michail Gorbatschows. Diese setzten nun auch die SED-Führung unter Druck, politische Reformen anzugehen. Der Umgang der SED mit dieser Er- wartungshaltung ist andererseits mitursächlich dafür, dass das bestehende politische System und insbesondere die Rolle der SED darin nun von immer mehr Oppositionellen hinterfragt und kritisiert wurde. Selbst innerhalb der füh- renden Partei gab es Überlegungen, die überkommenen Strukturen des DDR-Staates grundlegend zu reformieren.
2.1 Die Reformbestrebungen in der SU und ihre Auswirkungen auf die DDR
Mit der Wahl von Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der Kommunisti- schen Partei der Sowjetunion (KPdSU) am 11. März 1985 begann eine neue Ära der sowjetischen Innen- wie auch Außenpolitik. Deren zukünftige Ausrich- tung wurde in einem Reformprogramm konkretisiert, das Gorbatschow am 25. Februar 1986 auf dem 27. Parteitag der KPdSU vorstellte. Die von ihm einge- führte Formel vom „Neuen Denken“ subsummierte einerseits den Begriff „Pe- restroika“ (deutsch: Umgestaltung), womit eine weitgehende Demokratisie- rung der sowjetischen Gesellschaft sowie die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien gemeint war. Andererseits beinhaltete das „Neue Denken“ jedoch auch ein neues Verhältnis des Staates zur Öffentlichkeit (russisch: Glasnost), wodurch eine unzensierte und kritische Berichterstattung in den Medien so- wie öffentliche Diskussionen über kontroverse Themen, einschließlich der russischen Geschichte ermöglicht werden sollte. Doch auch außenpolitisch beschritt die Sowjetunion mit der „neuen Philosophie der Außenpolitik“3 fortan neue Wege. Im Herbst 1986 legte Gorbatschow zunächst dem Politbüro der KPdSU und anschließend in Bukarest den Generalsekretären der Bruderpar- teien aller RGW-Staaten ein Memorandum zur Umstrukturierung der sowjeti- schen Politik in Osteuropa vor. Damit entließ er die osteuropäischen Staaten aus der russischen Vormundschaft und ließ ihnen die „Freiheit der Wahl“.4 Nach rund 20 Jahren verwarf Gorbatschow somit faktisch die so genannte „Breschnew Doktrin“5, die im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Prager Frühlings im Sommer 1968 durch den namensgebenden damaligen Vorsitzenden der KPdSU artikuliert wurde und jedem Staat des Warschauer Paktes nur eine begrenzte Souveränität einräumte. Er machte unmissver- ständlich klar, dass jedes Land in Zukunft selbst für die eigenen Geschicke zu sorgen habe, jede Partei Legitimität zur Sicherung ihrer Herrschaft gewinnen müsse und es künftig keine Interventionen von sowjetischer Seite mehr gäbe. Kennzeichnend für die neue Außenpolitik war jedoch auch die Entspannung des Verhältnisses zu den USA und den anderen NATO-Staaten, die sich in weitreichenden Friedens- und Abrüstungsinitiativen manifestierte, die ab 1986 im Jahresrhythmus folgten.6
Das „Neue Denken“ aus Moskau erforderte eine grundlegende innen- und außenpolitische Neuorientierung der DDR und der anderen Ostblockstaaten. Es bot ihnen einerseits Chancen in Form von erheblich erweiterten Hand- lungsspielräumen. Andererseits bestand jedoch auch die Gefahr, an der da- mit verbunden Verantwortung zu scheitern, zumal die Menschen nach der politischen Umorientierung in der offiziellen Referenzgesellschaft Sowjetuni- on, die jahrzehntelang als Vorbild diente, nun auch in den Staaten des Ost- blocks Reformen erwarteten.
Speziell die Auswirkungen auf die Außenpolitik der DDR waren zwiespältig. Einerseits war die Entspannung zwischen den militärischen Blöcken dafür verantwortlich, dass die DDR in den Augen Moskaus immer entbehrlicher wurde. Als Mittel zur Eindämmung der deutschen Gefahr wurde sie bereits seit längerem nicht mehr benötigt und nun hatte sie auch als potentielles Aufmarschgebiet der Sowjettruppen im Falle eines Krieges zwischen den Blöcken ausgedient.7 Die Erosion des Wertes der DDR für die Sowjetunion beschleunigte sich. Andererseits waren die Entspannungs- und Abrüstungs- bemühungen Gorbatschows aber auch durchaus im Interesse der SED- Führung. Diese stellte im April 1986 auf dem XI. Parteitag der SED die Frie- denssicherung an die Spitze der außenpolitischen Bemühungen und somit erstmals noch vor das Bündnis mit der Sowjetunion. Überhaupt begann sich die SED fortan außenpolitisch zu emanzipieren und eigene Ziele zu verfol- gen, was sich unter anderem in einer Verbesserung der Beziehungen zur BRD niederschlug.8 Kennzeichnend hierfür waren der Besuch Erich Hone- ckers in der BRD 1988 sowie die Verabschiedung eines SED-SPD-Papiers im gleichen Jahr. Darin wurde die Friedensfähigkeit beider Seiten festgestellt und der Abbau von Feindbildern sowie die Ermöglichung einer offenen Dis- kussion über die Vor- und Nachteile beider Systeme vereinbart, wodurch es jedem DDR-Bürger ermöglicht werden sollte, Kritik am System zu üben. In Gestalt dieser Vereinbarung überschnitten sich die außen- und innenpoliti- schen Interessen der SED, die beide in grundsätzlich andere Richtungen ver- liefen. Folgte man, wenn auch auf eigene Weise, in der Außenpolitik dem neuen Kurs der KPdSU, so lehnte man alle innenpolitischen Reformaufforde- rungen grundsätzlich ab. So folgten auch den mit der SPD getroffenen Ver- einbarungen keine Taten. Im Gegenteil: Die SED ließ keine Zweifel darüber aufkommen, dass sie alles beim Alten belassen wolle. Bereits 1986 sagte Joachim Hermann, ZK-Sekretär der SED für Agitation und Propaganda, im Hinblick auf die sowjetischen Reformbestrebungen, dass es das Ziel der SED sei, die Errungenschaften der siebziger und achtziger Jahre zu konservieren und ein vergleichbarer Reformbedarf in der DDR nicht bestünde. 1987 erklär- te Erich Honecker in einer Rede an die 1. SED-Kreissekretäre, dass die Par- tei alle Angriffe auf ihre Politik und alle Verfälschungen der marxistisch- leninistischen Theorie abwehren werde.9 Politbüromitglied Kurt Hager erklär- te im gleichen Jahr in einem Interview mit der westdeutschen Zeitschrift „Stern“, dass die DDR nicht gewillt sei, die sowjetischen Reformen zu über- nehmen. Immerhin tapeziere man nicht seine Wohnung neu, nur weil der Nachbar das gerade tue.10 Zwei Monate nach der Unterzeichnung des SED- SPD-Papiers führte Hager im Neuen Deutschland aus, dass man sich weiter- hin jede Einmischung in die Politik der DDR verbitte.11 Und in einer Rede vor dem Müntzer-Komitee erklärte Honecker am 19. Januar 1989, dass die Mau- er noch so lange stehen bliebe, wie es nötig sei, selbst wenn es noch 50 oder 100 Jahre dauern würde.12 In allen offiziellen Stellungnahmen machte die SED-Führung deutlich, dass sie jedweden Wandel, der das bestehende poli- tische System der DDR in Frage stellen könnte, ablehnt. Dies wurde noch- mals besonders deutlich auf dem 6. Plenum des ZK der SED vom 9. bis 10. Juni 1988, dessen Hauptaussagen in zwei Sätzen zusammengefasst werden können: Es gibt kein allgemeingültiges Reformrezept.13 Und: In der DDR gibt es keinen Renovierungsbedarf. Zwar erklärte Erich Honecker auf dem 7. Ple- num des ZK der SED im Dezember 1988, dass in der Vergangenheit politi- sche Fehler gemacht wurden, gleichzeitig kam man aber auch hier überein, die bisherige Politik bis in die neunziger Jahre hinein fortzusetzen. Auch ideo- logisch distanzierte sich die SED immer stärker von der sowjetischen Bruder- partei. So galt die im Zuge des „Neuen Denkens“ mögliche kritische Aufarbei- tung der Sowjetgeschichte der SED-Führung als Geschichtsrevisionismus und Wirklichkeitsverzerrung.14 Mit immer schärferen Repressionen antwortete die SED-Führung auf die zunehmend artikulierten Reformforderungen aus allen Teilen der Gesellschaft. Diskussionen über die sowjetische Reformpoli- tik wurden untersagt, kritische Meinungsäußerungen wurden verfolgt, Veran- staltungen von Kirchen- oder Friedensgruppen wurden verboten und kritische sowjetische Kinofilme durften nicht vorgeführt werden. Den Höhepunkt der Zensur stellte das Verbot der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“ vom 19. No- vember 1988 dar, die immer wieder über die Reformen in der Sowjetunion berichtete und sich auch kritisch mit der Geschichte des Landes auseinander setzte. Hieß es zuvor vier Jahrzehnte lang „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“, so war, zum Unverständnis der Bevölkerung, mit dem An- bruch der Reformen die Führungsrolle der Sowjetunion plötzlich hinfällig ge- worden. Öffentliche Sympathiebekundungen mit ihr bekamen in der Sichtwei- se der Staatsführung einen subversiven Charakter und alle sowjetischen Kul- turimporte wurden beinahe ebenso kritisch beäugt, wie die der Klassengeg- ner aus dem Westen. Das Ziel der SED war die völlige Abschottung der DDR vor dem neuen, undogmatischen Gedankengut aus dem Osten und die Be- wahrung der Stabilität des althergebrachten politischen Systems mit der SED an seiner Spitze.
2.2 Reformbestrebungen innerhalb der SED
Die SED war kein homogener Club der Starrköpfigen und Unbelehrbaren. Auch wenn die Partei aufgrund der Geschlossenheit ihres öffentlichen Auftre- tens und der Äußerungen der Parteieliten diesen Anschein erweckt haben mag, gab es auch in ihr kritische Töne und reformatorische Überlegungen. Für die achtziger Jahre und insbesondere für die Zeit nach der Proklamation des „Neuen Denkens“ in der Sowjetunion lassen sich in der SED vielfältige Erscheinungsformen ausmachen, in denen sich dies artikulierte. So berichte- te der Leiter der Abteilung Parteiorgane des ZK der SED im Vorfeld eines geplanten Umtauschs der Parteidokumente 1980 von „schwankenden Positi- onen“ und Austritten aus der Partei. Allein zwischen 1981 und 1985 verließen 88.000 SED-Mitglieder entweder auf eigenen Wunsch oder, als Reaktion auf ihre politischen Überzeugungen, auf Wunsch der Partei die SED.15 Ab 1986 machten sich viele SED-Mitglieder Hoffnungen, dass die sowjetische Re- formpolitik auch auf die DDR abfärben würde. Die Parteibasis diskutierte über das „Neue Denken“ aus Moskau und erwartete auch von den Parteieliten Aufgeschlossenheit. Zwischen diesen Erwartungen und der Starrheit der Par- teiführung entstand ein Dissens, der die Einheit der Einheitspartei gefährde- te.16 In dem Bericht der Parteikontrollkommission der SED über ihre Arbeit im Jahr 1988 heißt es:
„Es wuchs die Zahl der Mitglieder und Kandidaten, die aus der Partei ent- fernt werden mussten, weil sie gegen die Generallinie der Partei auftreten [...]. Auseinandersetzungen und Parteiverfahren ergeben sich in jüngster Zeit auch daraus, dass Parteimitglieder in provokatorischer und außer- gewöhnlich aggressiver Weise gegen den Kurs unserer Partei auftreten, ‚Pluralismus’ fordern und sich dabei zum Teil auf Darstellungen und Arti- kel aus einzelnen sowjetischen Presseerzeugnissen, wie z.B. des ‚Sput- nik’ berufen.“17
Der Verbot eben jener Zeitschrift im Jahr 1988 löste dann auch unter den SED-Mitgliedern eine wahre Protestwelle aus.18 Mit Enttäuschung reagierten viele Parteimitglieder auch darauf, dass die in dem SPD-SED-Papier 1987 vereinbarte Dialogbereitschaft auch bei innenpolitischen Themen ausblieb
und die SED-Führung stattdessen, wie auf der 7. Tagung des ZK der SED im Dezember 1988, an ihrer Ablehnung jeglicher Erneuerungen festhielt.19 Im- mer häufiger mischten sich daher seit Mitte der achtziger Jahre auch SED- Mitglieder unter diejenigen, die ihrem Land den Rücken kehrten und die Aus- reise beantragten.20
Einige wenige Parteiintellektuelle zogen es hingegen vor, im Schatten des alten Regimes an einer Theorie des „modernen Sozialismus“ zu arbeiten, zu dem sich die bestehenden Strukturen der DDR-Gesellschaft evolutionsartig entwickeln sollten. Die „Reformsozialisten“ waren überwiegend Universitäts- angehörige oder Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR, die sich innerhalb locker organisierter Gruppen trafen. Sie arbeiteten seit Anfang der achtziger Jahre an einer „Neubestimmung der Prinzipien des Sozialis- mus“ und entwickelten bis zum Zusammenbruch des SED-Regimes im Herbst 1989 ein Konzept zu dessen Modernisierung.21 Wohlwissend, dass Bestrebungen zur Einflussnahme auf die praktizierte SED-Politik erfolglos wären, beschränkten sich die Reformsozialisten auf einen theoretischen Dis- kurs und warteten darauf, dass irgendwann einmal ihre Stunde kommen wür- de. In ihrer Konzeption versuchten sie einen Spagat zwischen Modernismus und Avantgardismus. Einerseits wollten sie ausgehend von den in der DDR vorgefundenen Verhältnissen die Institutionen der Moderne, wie Marktwirt- schaft, parlamentarische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltentei- lung, sukzessive wieder einführen. Ihre Vorstellung von Erneuerung war die einer Evolution - nicht Revolution - hin zu einem gezähmten Kapitalismus mit sozialdemokratischen Zügen. Man hielt es gar für möglich, sich irgendwann evolutionistisch mit den westdeutschen „Grünen“ oder linken Sozialdemokra- ten zu treffen, die zu jener Zeit bestrebt waren, weitere Mechanismen zur Kompensation sozialer Härten in der BRD zu etablieren. Andererseits sahen sie sich selbst und auch weiterhin die SED als Vorreiter dieser Entwicklung, die diese in Gang setzen, gestalten und kontrollieren müsse und damit, bei allen Veränderungen, auch die Zügel der Macht in der Hand behält.22 Der Zwiespalt zwischen diesem avantgardistische Selbstverständnis und der Mo- dernität ihrer Reformkonzeption war schließlich mitverantwortlich für das Scheitern der Reformsozialisten. Als diese im Herbst 1989 endlich ihre Zeit gekommen sahen, war die der SED in den Augen der Bevölkerung bereits abgelaufen und jede weitere vormundschaftliche Gesellschaftskonzeption diskreditiert.
2.3 Die Formierung gesellschaftskritischer Kräfte außerhalb der SED
Ab Mitte der achtziger Jahre waren in der DDR-Gesellschaft Ansätze einer organisierten politischen Opposition festzustellen, die das Ziel verfolgten, Re- formen im Sozialismus herbeizuführen. Bis dahin wurde systemkritisches Denken hauptsächlich von Einzelpersonen oder nicht vernetzten kleinen Gruppierungen im Umfeld der Kirchen artikuliert und man beschränkte sich überwiegend auf Diskurse zur Friedens- oder Ökologieproblematik.23 Dem- entsprechend rüstete sich auch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) für die wachsenden Herausforderungen, intensivierte seine Aktivitäten zur „Auf- deckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit“24 und erhöhte die Zahl der inoffiziellen Mitarbeiter. Insbesondere in den Bereichen Kunst und Kultur, unter den Intellektuellen, unter Umweltschützern und in der Kirche machte das MfS oppositionelle Gruppierungen aus und begann diese mit massivem personellen Aufwand zu unterwandern. Insgesamt schätzte das Ministerium die Zahl der oppositionellen Gruppierungen, die fast alle unter dem kirchlichen Dach arbeiteten, am Ende der achtziger Jahre auf DDR-weit rund 160. Die Gesamtzahl der Personen wurde mit rund 2500 angegeben, von denen rund 600 den Führungsgremien der Gruppierungen angehörten.
[...]
1 Spittmann 1990, S.156
2 ebd.
3 aus Welzel 1992, S.49
4 Vgl. Loth 1999, S.123
5 vgl. Welzel 1992, S.50
6 1986 Konferenz für vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE), 1987 Abschluss des Abkommens über die Beseitigung aller Mittelstreckenraketen (INF- Vertrag), 1989 Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa (VKSE) sowie Dialog über vertrauensbildende Maßnahmen (VBM) im Rahmen der Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)
7 vgl. Loth 1999, S.131
8 Süß 1986, S.967
9 vgl. Spittmann 1990, S.123
10 vgl. Lindner 2001, S.19
11 vgl. Spittmann 1990, S.130
12 vgl. ebd., S.151
13 vgl. ebd., S.139
14 vgl. Spittmann 1990, S.141
15 vgl. Otto 1995, S.1469
16 vgl. ebd., S.1471 f.
17 aus ebd., S.1474
18 vgl. Welzel 1992, S.54
19 vgl. Otto 1995, S.1474 f.
20 vgl. ebd., S.1466
21 vgl. Land 1994, S.233 f.
22 vgl. Land 1994, S.237 f.
23 vgl. Schroeder 1998, S.310
24 aus ebd., S.311
- Quote paper
- Carsten Werner (Author), 2006, Der Zusammenbruch der SED-Hegemonie in der DDR während der politischen Wende des Jahres 1989, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83272
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