Im Zuge der vielfältigen Globalisierungsdiskurse der 90er Jahre ist die Kategorie des Raumes auch in den Literaturwissenschaften wieder in den Blickpunkt des Interesses gerückt. Die seit Lessing postulierte These von der Literatur als zeitlicher Kunstform musste angesichts der immer zahlreicher erscheinenden Erzählwerke, die einen starken räumlichen Bezug aufweisen, allmählich redigiert werden. V.a. unter ostmitteleuropäischen Schriftstellern und Intellektuellen wurde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die eng mit der eigenen Biografie verknüpfte Geografie zum Gegenstand verschiedener Prosawerke. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich unter diesem Aspekt mit dem Werk des polnischen Schriftstellers Andrzej Stasiuk, der in seinen 2004 erschienenen Reisefragmenten mit dem Titel Jadąc do Babadag (Unterwegs nach Babadag) nicht nur strukturell die Tendenzen der modernen polnischen Prosa aufgegriffen hat, sondern im Sinne des so genannten Topographical Turn den Raum selbst zum Erzählobjekt stilisiert. Die Einheit des durch Mental Mapping erschlossenen Raumes wird durch den Erzähler narrativ konstruiert. Dies geschieht durch den Verweis auf mentale, kulturelle, geografische und historische Gemeinsamkeiten, die sich in der Raumkonzeption des Werkes zu einem symbolisch-erlebbaren, geografisch motivierten Geflecht verdichten, das verschiedene Äquivalenzen zu dem durch Ernst Cassirer beschriebenen mythischen Raum aufweist. Die in der literaturwissenschaftlichen Forschung häufig evozierte Trennung zwischen bedeutungslosem faktischem Lokal und bedeutungstragendem Raum ist für Jadąc do Babadag nicht zu vollziehen. Die Geografie dient vielmehr als Nahtpunkt zwischen faktischer Welt, Fiktion, Erinnerung und Traum. Die mimetische Intention besteht nicht in der Nachahmung einer zusammenhängenden Wirklichkeit, deren Existenz durch den Erzähler verneint wird, sondern in der literarischen Verarbeitung verschiedener anthropologischer Wahrnehmungsstrategien, die allesamt Varianten einer als kontingent verstandenen Wirklichkeit aufzeigen. Die Auseinandersetzung mit dem mitteleuropäischen Raumkonzept Stasiuks bietet somit nicht nur eine Gelegenheit, über die tatsächliche Relevanz narrativer, struktureller Dichotomien nachzudenken, sondern eignet sich zudem dazu, das Spektrum menschlicher Weltwahrnehmung zu vertiefen und nicht mehr länger auf den einschneisigen Kategorien von Fakt und Fiktion zu beharren.
Inhaltsverzeichnis
- Kurzbeschreibung
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Befreiung vom Ballast der Geschichte – Strategien der polnischen Prosa nach 1989
- 1989 – Ein Jahr des Umbruchs?
- Mühsame Klassifizierungsversuche und der schwierige Begriff der „Generation“
- Prosa am Wendepunkt – Drei neue Herausforderungen
- Zaczarowania świata – Mythisierung als mimetisches Verfahren
- Kwestia tożsamości- Biografie und Initiationsprosa
- „Powrót fabuły“- Die neue Lust am Erzählen und die Entdeckung der Metafiktionalität
- Andrzej Stasiuk als Prosaist der 90er Jahre
- Literatur- und kulturwissenschaftliche Raumkonzeptionen – Zu Entwicklung und Stand der modernen Raumforschung
- Literaturwissenschaftlich-narratologische Ansätze und Problemstellungen
- Die Bedeutung des Raumes für die Struktur narrativer Texte
- Der Begriff des literarischen Raumes
- Der „Topographical Turn“ der 90er Jahre und der Einfluss kulturwissenschaftlicher Raumkonzeptionen auf die literarische Hermeneutik
- Der mythische Raum in der Philosophie Ernst Cassirers
- Fazit und Untersuchungsaspekte
- Jadąc do Babadag – Der geopoetische Kosmos des Andrzej Stasiuk ( Teil I: Inhaltliche Analyse)
- Die Strukturierung und Konzeption des erzählten Raumes
- Das ‚vergessene’ Mitteleuropa – Andrzej Stasiuks persönliche Geografie und die Rolle des faktischen Lokals in Jadąc do Babadag
- Die literarische Verarbeitung des Mitteleuropa-Konzepts – Mental Mapping als mimetisches Verfahren
- Die Transgression nationaler Grenzen
- Einheit in der Vielfalt – Die literarische Konstruktion eines homogenen Raumes Mitteleuropa
- Die Äquivalenz geografischer Gegebenheiten
- Armut und Verfall – similare Lebensräume
- Kulturelle Defizienz als Verbindungsglied
- Gemeinsame Erfahrungen der Vergangenheit – Die Beschwörung des Habsburgmythos
- Mitteleuropa als Schicksalsgemeinschaft – Das Erbe des Kommunismus
- Vergleichbarkeit und Austauschbarkeit als Kriterium räumlicher Übereinstimmung
- Räumliche Dezentralisierung und die Aufwertung der Peripherie
- Die Umkehrung topografischer Hierarchien
- Erhöhung der Provinz durch Degradierung der „klassischen“ Zentren
- Ästhetik und Zeichenhaftigkeit der Provinz
- Die Rolle des Lichts
- Der individuelle Wert der Peripherie
- Die Geografie als Schnittstelle zwischen Realität und Fiktion
- Mitteleuropa als Erinnerungsraum
- Mitteleuropa als mythischer Raum
- Die Strukturierung und Konzeption des erzählten Raumes
- Jadąc do Babadag – Der geopoetische Kosmos des Andrzej Stasiuk (Teil II: Formale Analyse)
- Der Raum als Komponente der Texstruktur
- Na co komu chronologia? – Raum und Tempus
- Raum und Handlung
- Raum und Gattung
- Die Konstruktion des Raumes durch den Erzähler
- Raum und Figuren
- Der Raum als Komponente der Texstruktur
- Schluss
- Bibliografie
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Magisterarbeit befasst sich mit dem Werk des polnischen Schriftstellers Andrzej Stasiuk und analysiert dessen Reisefragmente mit dem Titel „Jadąc do Babadag“. Der Fokus liegt dabei auf dem Raumkonzept des Werkes und dessen Bedeutung für die inhaltliche und formale Gestaltung des Textes.
- Der geopoetische Kosmos Andrzej Stasiuks: Die literarische Konstruktion und Bedeutung des Raumes in „Jadąc do Babadag“
- Das Mitteleuropa-Konzept: Individuelle Wahrnehmung vs. kollektive Identität
- Die Rolle der Erinnerung: Individuelle Erinnerungen und die Konstruktion des Raumes
- Die Ästhetik des Zerfalls: Zerfallsphänomene und die Poetik des Raumes
- Raum und Textstruktur: Die Beziehung zwischen Raum und narrativen Komponenten wie Tempus, Handlung und Figuren
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einem Überblick über die wichtigsten Tendenzen der polnischen Prosa nach 1989, um den Kontext von Stasiuks Schaffen einordnen zu können. Anschließend werden verschiedene literatur- und kulturwissenschaftliche Raumkonzeptionen vorgestellt, um eine analytische Methodik für die Untersuchung des Raumes in „Jadąc do Babadag“ zu entwickeln. Das dritte Kapitel fokussiert auf die inhaltliche Analyse des Werkes und untersucht, wie der Raum in „Jadąc do Babadag“ konstruiert wird. Es werden u.a. die geografischen Besonderheiten des „vergessenen Mitteleuropas“, das Mental Mapping als mimetisches Verfahren und die Rolle des Erzählers bei der Konstruktion des Raumes analysiert. Im vierten Kapitel geht es um die formale Analyse des Werkes. Es werden die Beziehungen des Raumes zu anderen narrativen Komponenten wie Tempus, Handlung und Figuren untersucht. Zudem wird die Gattungszugehörigkeit des Werkes analysiert und im Kontext der literarischen Reisebeschreibung eingeordnet. Der Schluss der Arbeit fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen und stellt die Relevanz der Raumthematik in Stasiuks Werk in den Kontext des gegenwärtigen Europäisierungsprozesses.
Schlüsselwörter
Andrzej Stasiuk, Jadąc do Babadag, Raumkonzeption, Mitteleuropa, Mental Mapping, Erinnerung, Provinz, Zerfall, Reisebeschreibung, Essay, Literatur des persönlichen Dokuments, Mythischer Raum.
- Quote paper
- Stefanie Röfke (Author), 2007, „Magie des Zerfalls“ - Der geopoetische Kosmos des Andrzej Stasiuk, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83061