Die Bachelor Thesis ist im Rahmen des binationalen Studiengangs "Deutsch-Französische Studien" entstanden. Sie beschäftigt sich mit einer der grundsätzlichen Fragen unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung: Ist der Sozialstaat über seine sozialethische Begründung hinaus auch ein wirtschaftlich gerechtfertigtes Modell? Die Diskussion dieser Frage, welche letztlich den Fortbestand des modernen Sozialstaatsmodells im Kontext der Globalisierung betrifft, wird aus deutscher Perspektive innerhalb der Theorie Francois PERROUX', eines in Deutschland weitgehend unbekannten französischen Wissenschaftlers, geleistet. Die Arbeit zeigt auf, in welchen Punkten es PERROUX gelingt, den Sozialstaat wirtschaftstheoretisch zu legitimieren und in welchen Punkten seine Analyse und Argumentation inkohärent sind. Dabei wird die Tauschtheorie des Tübinger Philosophen HÖFFE abschließend kontrastiv gegenübergestellt.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
I.1) Einführung in den Themenkomplex und Entwicklung der Fragestellung: Der Sozialstaat – ein Modell jenseits der wirtschaftlichen Rationalität?
I.2) Fragestellung, These und Konzeption der Analyse
I.3) Leben und Werk François PERROUX’
I.4) Darstellung des Forschungsstandes bezüglich der Ausgangsfragestellung
II) Analyse: Welche wirtschaftstheoretische Legitimation für einen aktiven Staat, der interveniert und umverteilt, liefert die Theorie François PERROUX’ ausgehend von einem neuen Menschenbild?
II.1) Warum die neoklassische Theorie den Staat marginalisiert – vom Ausschluss von Zwang und Geschenken
II.2)Warum PERROUX das neoklassische Menschenbild verwirft und eine humanistische Wirtschaftstheorie entgegensetzt
II.3) Warum laut dieser verallgemeinerten Theorie der Staat zum aktiven Akteur werden muss – die Legitimation von staatlichen Interventionen und Umverteilungen
III) Zusammenfassung und kritische Diskussion
III.1) Zusammenfassung der Ergebnisse
III.2) Inhaltliche und formale Kohärenz der Argumentation sowie deren Realitätsbezug
III. 3) Otfried HÖFFES Legitimation des Sozialstaats über den Tausch – Aufzeigen eines alternativen Argumentationsweges und der Grenzen der PERROUX’schen Konzeption
III.4) Diskussion des Beitrags François PERROUX’ zur wissenschaftlichen Diskussion
Bibliographie
Aus Fremdsprachen übersetzte Zitate im Original
I. Einleitung
I.1) Einführung in den Themenkomplex und Entwicklung der Fragestellung: Der Sozialstaat – ein Modell jenseits der wirtschaftlichen Rationalität?
„ Je freier die Wirtschaft ist, desto sozialer ist sie auch. “[1] Diese Aussage würde in Deutschland heute vermutlich Widerspruch quer durch die Gesellschaft hervorrufen und als Angriff auf das spezifisch deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft wahrgenommen werden. Es mag deshalb auf den ersten Blick überraschen, dass das Zitat auf Ludwig Erhard, einen der geistigen Väter eben dieser Wirtschaftsordnung, zurückgeht. Die scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen der Äußerung Erhards und dem von ihm befürworteten Modell offenbart jedoch bei genauerer Betrachtung, in welchem Spannungsfeld die soziale Marktwirtschaft konzeptionell begründet ist: Sie entspringt einerseits dem Glauben an die Effizienz einer freien Marktordnung, erkennt jedoch andererseits auch die Notwendigkeit einer moderierenden Rolle des Staates an.
Erhards Äußerung rechtfertigt somit eine der beiden Säulen der sozialen Marktwirtschaft, wirft damit aber zugleich die Frage nach der Legitimation der anderen auf: Wenn die Wirtschaft bei maximaler Freiheit zugleich am sozialsten ist, mit welcher Berechtigung greift der Staat dann überhaupt in das Marktgeschehen ein? Mit dieser Frage greift man die Diskussion um die Rolle des Staats in der Wirtschaft auf, die so alt ist wie die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften selbst und vor dem Hintergrund der Globalisierung an Brisanz weiter gewonnen hat. Innerhalb dieser Debatte fällt auf, dass der freie Markt einerseits und eine aktive Rolle des Staats in der Wirtschaft andererseits auf zwei unterschiedlichen argumentativen Ebenen begründet werden: Während liberale Denker die Effizienz des reinen Marktes von Beginn wirtschaftstheoretisch zu belegen versucht haben, beriefen sich die Befürworter eines aktiven Sozialstaats primär auf sozialethische Argumente, wie die aus der katholischen Soziallehre stammenden Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzipien[2]. Vor dem Hintergrund einer fortschreitenden ökonomischen Hinterfragung der Gesellschaft, gerät diese Argumentation für den Sozialstaat jedoch in Rechtfertigungsnot. Sie muss sich der Frage stellen: Kann sich der Sozialstaat auch auf eine wirtschaftliche Legitimation berufen?
Einer der Wissenschaftler, die stets der Überzeugung waren, dass eine solche Berechtigung aufgezeigt werden könne, war der französische Wirtschaftstheoretiker François PERROUX. Er lehnte es ab, soziale und wirtschaftliche Fragestellungen als Gegensätze zu denken und stellte eine Frage in den Mittelpunkt seines Werkes: „Sind die modernen westlichen Gesellschaften in der Lage, eine soziale Rationalität zu begründen, […] [die] in den Augen der Wirtschaftswissenschaft und der Logik rational ist?“[3] Die vorliegende Bachelorarbeit soll analysieren, aufgrund welcher Argumentation PERROUX diese Frage positiv beantwortet.
I.2) Fragestellung, These und Konzeption der Analyse
Folgende abgegrenzte Ausgangsfragestellung soll dabei der Analyse zu Grunde liegen:
Welche wirtschaftstheoretische Legitimation für einen aktiven Staat, der interveniert und umverteilt, liefert die Theorie François PERROUX’ ausgehend von einem humanistischen Menschenbild?
Die These der vorliegenden Bachelorarbeit lautet, dass François PERROUX die in der neoklassischen Theorie zu findende Marginalisierung des Staates aufgrund einer Kritik an den zu Grunde gelegten anthropologischen Prämissen verwirft, um im Rahmen seiner als Gegenentwurf zu verstehenden „verallgemeinerten Theorie“[4] (théorie généralisée) staatliche Umverteilungen und Marktinterventionen als Korrektur der Marktwirtschaft zu legitimieren.
Nach einer einleitenden Vorstellung des Wissenschaftlers PERROUX, seines Werkes und des aktuellen Forschungsstands, wird in Teil II die Analyse in drei Schritten erfolgen. Jeder Analyseschritt wird eine bewusst zugespitzte Teilproblematik behandeln, um den Argumentationsgang so nachvollziehbar und ergebnisorientiert wie möglich zu gestalten. Im ersten Teil der Analyse wird zunächst zu klären sein, warum die neoklassische Theorie in den Augen PERROUX’ aus dem grundsätzlichen Ausschluss von Zwang und Geschenken schließt, staatliche Umverteilungen und Marktinterventionen ständen außerhalb der wirtschaftlichen Rationalität. Der zweite Analyseschritt soll herausarbeiten, warum diese Marginalisierung des Staates nach Meinung PERROUX’ auf einem fehlerhaften theoretischen Fundament beruht, um anschließend aufzeigen, wie der PERROUX’sche Gegenentwurf der „verallgemeinerten Theorie“[5] diese Mängel beheben will. Im dritten und letzten Teil der Untersuchung wird schließlich erörtert werden, warum in dieser Theorie laut PERROUX staatliche Interventionen und Umverteilungen als eine Korrektur der Marktwirtschaft legitimiert werden.
Ziel ist es, die anthropologischen und systemtheoretischen Aspekte der PERROUX’schen Konzeption auf der fundamentalen Ebene der Wirtschaftstheorie zu behandeln. Aus diesem Grund wird die vorliegende Bachelorarbeit jene Werke PERROUX’ thematisieren, die ausgehend von einer „Erneuerung der Grundbegriffe“[6] den Gegenentwurf der ‚verallgemeinerten Wirtschaftstheorie’ und die Neubewertung der Rolle des Staates in der Marktwirtschaft leisten. Die mathematisch und wirtschaftspolitisch ausgerichteten Veröffentlichungen PERROUX’ werden folglich nur in soweit Gegenstand der Untersuchung sein, als sie zum Verständnis des Argumentationsganges notwendig sind. Diese Ebene der Auseinandersetzung steht im Einklang mit der Zielsetzung PERROUX’, der festhält:
„Man muss die eigentliche Logik ihres Aufbaus [der neoklassischen Theorie] zu verstehen suchen. Nur auf der Ebene der Grundbegriffe lassen sich die begrenzte Wirksamkeit und der unzweifelhafte Betrug innerhalb der Händlergesellschaft erfassen.“[7]
In Teil III werden die Ergebnisse der Analyse zusammengefasst und kritisch diskutiert. Dabei sollen zunächst inhaltliche Kohärenz, formale Gestaltung und Realitätsbezug der Argumentation PERROUX’ untersucht werden, wobei die Kritik Jörg Guido HÜLSMANNS besondere Beachtung finden wird. Anschließend wird der Theorie PERROUX’ die Argumentation des Tübinger Philosophen Otfried HÖFFE kontrastiv gegenübergestellt, um einen alternativen Argumentationsweg und zugleich die Grenzen der PERROUX’schen Konzeption aufzuzeigen. Auf Grundlage dieser Diskussion wird abschließend eine kritische Würdigung des Beitrags PERROUX’ zur Diskussion um die Legitimation des Sozialstaates im heutigen Kontext geleistet werden.
I.3) Leben und Werk François PERROUX’
Da der Wissenschaftler François PERROUX im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannt ist, soll vor Beginn der eigentlichen Analyse zum einen ein kurzer Überblick über sein Leben und sein Werk gegeben werden. Dies soll die Grundlage für die zu leistende Analyse schaffen und eine bessere Einordnung der wissenschaftlichen Arbeit und der Position PERROUX’ erlauben. Zum anderen wird anschließend der aktuelle Forschungsstand bezüglich des Werkes PERROUX’ und der Fragestellung der vorliegenden Arbeit dargestellt werden, um den wissenschaftlichen Kontext und die Zielsetzung der vorliegenden Bachelorarbeit zu erhellen.
Zum Leben François PERROUX’[8]
François PERROUX wurde am 18. Dezember 1903 in Lyon geboren und wuchs im Kreise einer Familie auf, die durch Handel zu gewissem Wohlstand gelangt war. Nach dem erfolgreichen Schulabschluss nahm PERROUX zunächst ein Studium der Literaturwissenschaft auf, welches er 1923 mit der Licence erfolgreich abschloss. Bald schon verlagerte sich PERROUX’ Interesse von den großen Literaten hin zu den großen Fragen der Wirtschaft. Nach einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema des Profits habilitierte er 1928 in den Wirtschaftswissenschaften.
Dank hervorragender wissenschaftlicher Arbeiten wurde PERROUX im Jahre 1928 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität von Lyon. 1934 verließ er zwischenzeitlich sein Heimatland, um seine wirtschaftswissenschaftlichen Studien in Wien bei einem der Begründer der österreichischen Schule des Marginalismus, Ludwig von Mises, fortzusetzen. Zurück in Frankreich, setzte er von 1935 bis 1955 seine Lehrtätigkeit – unterbrochen von einem Einsatz als Lieutenant im Zweiten Weltkrieg – fort, unterrichte nun jedoch an der renommierten Rechtsfakultät von Paris. Nebenbei fand PERROUX nicht nur Zeit, an anderen namhaften Hochschulen Frankreichs zu unterrichten, sondern überdies den Grundstein für eines seiner Lebenswerke zu legen: Im Jahr 1944 gründete er das Institut für angewandte Wirtschaftswissenschaften (Institut de Science Économique Appliquée, ISEA), das bis heute unter dem neuen Namen ISMEA (Institut des Sciences Mathématiques et Économiques Appliquées) in den Spuren PERROUX’ praktische Fragestellungen der Wirtschaftswissenschaften untersucht. PERROUX blieb als Gründer des Instituts bis ins Jahr 1982 dessen Präsident. Nationale Anerkennung seiner wissenschaftlichen Verdienste wurde PERROUX 1955 zuteil, als er auf einen Lehrstuhl für die Analyse sozialer und ökonomischer Fragestellungen am staatlichen Collège de France, der renommiertesten wissenschaftlichen Institution Frankreichs, berufen wurde. PERROUX organisierte zahlreiche interdisziplinäre Kolloquien und leitete die Arbeiten der Gruppe Angewandte Wirtschaft Angewandte Mathematik (Économie Appliquée Mathématiques Appliquées, EAMA.). Im Laufe seiner Tätigkeit wurden PERROUX Ehrentitel von 18 Universitäten rund um den Globus verliehen. Darüber hinaus war er Ehrenmitglied zahlreicher gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftlicher Kommissionen. Dem internationalen Publikum wurde er besonders durch eine Arbeit für die UNESCO im Jahre 1981 bekannt, in der er sich Für eine neue Philosophie der Entwicklung[9] einsetzte. François PERROUX starb im Jahr 1987 im Alter von 84 Jahren.
Zum Werk François PERROUX’
Das entscheidende Charakteristikum, welches PERROUX’ komplettes Lebenswerk wie ein roter Faden durchzieht und ihm eine besondere Stellung innerhalb der Wirtschaftswissenschaften gibt, ist sein Anspruch, wirtschaftliche Zielsetzungen und soziale Fragestellungen nicht als getrennt oder gegensätzlich zu denken. Weil nach seiner Meinung die Wirtschaft „den Menschen aus den Augen verloren hat“[10], will PERROUX einen interdisziplinären Ansatz entwickeln, den man als wissenschaftlichen Humanismus bezeichnen könnte. Diesen Anspruch formuliert PERROUX: „Die Behauptung ist überholt, wonach der Politiker bestimmt, ob man Kanonen oder Butter erzeugt, und der Wirtschaftsverständige sich nur darauf beschränkt, zu sagen, wie man sie am besten produziert.“[11]
Von seiner anfänglichen Beschäftigung mit dem Thema des Profits im Jahre 1926 gelangte PERROUX zu einer Auseinandersetzung mit dem Marxismus, in dessen Thesen er jedoch nicht mehr als eine “große Vermengung der Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie“[12] sah und diesen deshalb verwarf. Fortan wendete er sich der Theorie der kapitalistischen Marktwirtschaft[13] zu. Besondere Beachtung schenkte er dabei der neoklassischen Schule der Volkswirtschaftslehre. Wie auch in der nachfolgenden Analyse deutlich werden wird, lehnte er deren Prämissen und Schlussfolgerungen ab und stellte dieser in seinen Augen realitätsfremden Konzeption der Wirtschaft einen eigenen Entwurf entgegen, welcher drei seiner Hauptwerke – Die Wirtschaft des 20. Jahrhunderts[14], Der Kapitalismus[15] und Zwang, Tausch, Geschenk. Zur Kritik der Händlergesellschaft[16] – prägte. Ab den 1950er Jahren widmete sich PERROUX in erster Linie der Problematik des Wachstums und der Entwicklung, wobei er für eine Unterscheidung zwischen quantitativer Erhöhung des Gesamtprodukts (Wachstum) und Verbesserung der gesamten Lebensbedingungen der Menschen (Entwicklung) plädierte. Diese Ergebnisse führten ihn am Ende seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema der internationalen Entwicklungshilfe. Seine diesbezüglichen Thesen hielt 1981 im Auftrag der UNESCO in seiner Veröffentlichung Für eine neue Philosophie der Entwicklung[17] fest. Die verschiedenen Tätigkeitsfelder PERROUX’ konvergierten zu seinem prominentesten Konzept, dem Entwurf einer „Wirtschaft für den ganzen und für alle Menschen“[18], die „nicht bloß eine moralische Empfehlung“[19], sondern ein „von der Wissenschaft kontrolliertes wirtschaftliches Projekt [ist], […] das die Möglichkeiten der menschlichen Ressource zur Geltung bringen“[20] sollte und eine dem Menschen gerechte Wirtschaft über die Grenzen des modernen Wohlfahrtsstaates hinaus anstrebte. PERROUX war sich sicher: „Indem man den Bereich der Wirtschaft menschenwürdiger Gestaltet, wird der Mensch selbst menschlicher.“[21]
I.4) Darstellung des Forschungsstandes bezüglich der Ausgangsfragestellung
Trotz seines Umfangs ist das Werk François PERROUX’ insgesamt nur schwach rezipiert worden. Dies gilt nicht nur auf internationaler Ebene, sondern selbst im frankophonen Raum. Zwar erfuhren die Arbeiten posthum im Sammelband Ehrung François PERROUX’[22] und in mehreren Veröffentlichungen[23] eine umfangreiche Würdigung aufgrund ihres humanistischen Anspruches. Kritische wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit PERROUX’ einzelnen Arbeiten wurden jedoch kaum geführt. Die existierende Sekundärliteratur hat sich im Wesentlichen mit PERROUX’ Integration des Faktors ‚Macht’ und der daraus folgenden ‚Dominanztheorie’ auseinandergesetzt: Ducarmel BOCAGE[24] legte 1985 eine weitgehend kritiklose Analyse dieses Aspektes in englischer Sprache vor, während die zwei deutschen Autoren Ute JECK[25] und Jörg Guido HÜLSMANN[26] eine detaillierte und kritische Auseinandersetzung geführt haben. Im frankophonen Raum liegt nur eine kritische Arbeit von André MARCHAL[27] vor. Die Reaktionen auf PERROUX’ Theorie blieben ähnlich verhalten im anglophonen Bereich: Lediglich Mark BLAUG[28] und Emile JAMES[29] haben eine Auseinandersetzung geführt. Hinsichtlich der Ausgangsfragestellung der nachfolgend zu leistenden Analyse muss festgehalten werden, dass keine Veröffentlichungen vorliegen, die den Aspekt des Sozialstaats und seiner wirtschafttheoretischen Rechtfertigung innerhalb der Theorie PERROUX’ behandeln. Vor diesem Hintergrund ist es erklärte Absicht der vorliegenden Abschlussarbeit, neben einer präzisen Analyse auch einen Beitrag zur Erschließung des Werkes François PERROUX’ zu leisten. Dabei wird die wenige existierende Sekundärliteratur in ihren für die Analyse notwendigen Elementen in den Diskussionsteil integriert werden.
II) Analyse: Welche wirtschaftstheoretische Legitimation für einen aktiven Staat, der interveniert und umverteilt, liefert die Theorie François PERROUX’ ausgehend von einem neuen Menschenbild?
II.1) Warum die neoklassische Theorie den Staat marginalisiert – vom Ausschluss von Zwang und Geschenken
In diesem ersten Schritt der Analyse soll mit der Überprüfung der aufgestellten These begonnen werden, indem zunächst untersucht wird, wie PERROUX die neoklassische Theorie versteht und weshalb er innerhalb dieser staatliche Umverteilungen und Marktinterventionen als ausgeschlossen und damit den Staat als marginalisiert ansieht. Nur wenn man anschließend PERROUX’ Theorie als expliziten Gegenentwurf zu dieser Konzeption versteht, wird die aus ihr folgende Argumentation für staatliche Umverteilungen und Marktinterventionen nachvollziehbar.
II.1.1) PERROUX’ Verständnis des neoklassischen Konzepts der Marktwirtschaft über den händlerischen Tausch
Am Anfang der Auseinandersetzung mit dem Werk PERROUX’ hinsichtlich der Ausgangsfragestellung steht eine grundlegende Schwierigkeit: In nahezu allen Arbeiten wird man den Begriff der ‚Marktwirtschaft’ vergeblich suchen. Will man jedoch zeigen, dass PERROUX in seinem Werk von einer Ablehnung des neoklassischen Konzeptes der Marktwirtschaft ausgeht, muss man zunächst belegen, dass seine Theorie überhaupt auf den Gegenstand der Marktwirtschaft abzielt. Ein solches Vorgehen erscheint an dieser Stelle sinnvoll, da auf diesem Wege nicht nur eine Begriffsklärung geleistet wird, sondern zugleich das Verständnis PERROUX’ von der neoklassischen Theorie herausgearbeitet werden kann. Auf Basis dieser Bestimmung kann anschließend die Rolle von Zwang und Geschenken und damit der Ausschluss von staatlichen Umverteilungen und Marktinterventionen in der neoklassischen Theorie näher untersucht werden.
Zunächst seien also die Begrifflichkeiten geklärt. In seiner Auseinandersetzung wählt PERROUX nahezu durchgehend den Begriff der „Händlergesellschaft“[30]. In dieser Begrifflichkeit referiert er auf eine Definition von Karl MARX:
„Die Händlergesellschaft […] wird so definiert, daß in ihr auf Grund der Arbeitsteilung jeder Mensch vom Tausch lebt und zu einer Art von Händler wird. Die ‚Gesellschaft’ wird dann selbst zu einer ‚Händlergesellschaft’.“[31]
Es wird hinsichtlich der Fragestellung dieses ersten Analyseschrittes nun zu zeigen sein, dass PERROUX unter der ‚Händlergesellschaft’ zum einen überhaupt die Marktwirtschaft versteht und zum anderen dabei speziell deren neoklassische Konzeption thematisiert. Dabei soll bei dem zentralen Element der oben zitierten Definition Marx’, dem Tausch, angeknüpft werden. Dessen nähere Bestimmung führt zum Wesen der ‚Händlergesellschaft’, wie PERROUX sie versteht. Er bezieht sich dabei auf Frank H. Knight und behauptet:
„Der Tausch […] bedeutet die freiwillige gegenseitige Übertragung eines Besitzgegenstandes oder einer Leistung, wobei die ausgetauschten Dinge grundsätzlich gleich sind. Diese Gleichwertigkeit beruht auf wirtschaftlicher Rationalität und den Institutionen des entwickelten Marktes.“[32]
Festzuhalten ist damit bis hierhin: Laut PERROUX definiert sich das Konzept der Händlergesellschaft über das Element des händlerischen Tausches, welcher als eine Übertragung gesehen wird, die PERROUX in dreierlei Hinsicht näher charakterisiert: In Bezug auf die ausgetauschten Waren („Gleichwertigkeit“), auf das Verhalten der Tauschpartner („freiwillig“; „wirtschaftliche Rationalität“) sowie auf die zu Grunde liegenden Koordinationsform („Markt“).
Anhand dieser Elemente kann die Teilfrage nach der inhaltlichen Übereinstimmung der Begriffe ‚Händlergesellschaft’ und ‚Marktwirtschaft’ beantwortet werden. Nach Meinung der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion[33], sind als minimale Kriterien einer Marktwirtschaft zu nennen, dass in ihr „die Abstimmung aller wirtschaftlichen Handlungen bei dezentraler Wirtschaftsplanung über den Markt typisch ist“[34], wobei die „Preise für Waren und Leistungen […] sich nach Angebot und Nachfrage auf Märkten [bilden].“[35] Die konzeptionelle Übereinstimmung mit PERROUX’ Charakterisierung ist trotz begrifflicher Abweichungen offensichtlich: Der Markt wird in beiden Fällen als zentrales Koordinationsinstrument der Wirtschaftshandlungen angesehen. Die bei PERROUX zu findende Gleichwertigkeit durch „wirtschaftliche Rationalität“[36] und die „Institutionen des entwickelten Marktes“[37] entspricht dem Mechanismus der Preisbildung über Angebot und Nachfrage. Der von PERROUX genannte Aspekt der Freiwilligkeit ist im vorliegenden Kontext inhaltlich kongruent mit dem Begriff der „dezentralen Planung“[38]. Festzuhalten ist somit als erstes Ergebnis der Begriffsklärung: PERROUX’ Begriff der ‚Händlergesellschaft’ enthält all jene Kriterien, die in wirtschaftswissenschaftlichen Definitionen als für die Marktwirtschaft notwendig angesehen werden. Damit ist aufgezeigt, dass PERROUX’ Analyse der ‚Händlergesellschaft’ in heutiger Terminologie als eine Auseinandersetzung mit der Marktwirtschaft bezeichnet werden kann – und die These der vorliegenden Bachelorarbeit in diesem Punkt zutreffend ist.
Nun kann geklärt werden, inwiefern PERROUX sich speziell mit der neoklassischen Konzeption der Marktwirtschaft auseinandersetzt. Diese Untersuchung kann man führen, indem man PERROUX’ Verständnis der ‚Händlergesellschaft’ genauer bestimmt und herausstellt, in welchem wirtschaftstheoretischen Grundmodell er diese festgehalten sieht.
Zwei aus dem händlerischen Tausch folgende Prinzipien prägen laut PERROUX die Händlergesellschaft: Das erste dieser Prinzipien ist eine Zuspitzung der oben gezeigten Bedingung der Äquivalenz und besteht in dem „Gesetz, [welches] besagt, daß man nichts umsonst erhalten kann (nothing for nothing).“[39] Ohne produktive Leistung sei keine Nachfrage am Markt möglich. Das zweite kennzeichnende Prinzip sieht PERROUX im Ergebnis, das dem händlerischen zugeschrieben wird. PERROUX erkennt die „Auffassung[…], daß über den neutralen, nicht manipulierten und unparteiischen Preis die Absichten und Verhaltensweisen der einzelnen und der Gruppen miteinander vereinbar gemacht und zur Übereinstimmung gebracht werden können.“[40] Der Markt leistet laut PERROUX im neoklassischen Verständnis folglich über die Begegnung von Angebot und Nachfrage die Vereinbarung der Interessen.
Betrachtet man diese beiden Prinzipien, welche PERROUX’ Verständnis der Händlergesellschaft bestimmen, wird deutlich, dass diese auch in der neoklassischen Theorie im Mittelpunkt stehen.[41] Eine eindeutige Entsprechung des PERROUX’schen Konzepts der ‚Händlergesellschaft’ und des neoklassischen Verständnisses kann schließlich festgestellt werden, wenn man berücksichtigt, dass PERROUX die Händlergesellschaft vor allem im von Léon WALRAS[42] und Vilfredo PARETO[43] entwickelten allgemeinen Gleichgewichtsmodell charakterisiert sieht. Dieses ist das Grundmodell der neoklassischen Schule der Volkswirtschaftslehre. Damit kann festgehalten werden: PERROUX’ Auseinandersetzung mit der ‚Händlergesellschaft’ zielt auf das neoklassische Verständnis der Marktwirtschaft ab. Um zu untersuchen, warum nach Überzeugung PERROUX’ Zwang und Geschenke in diesem Modell prinzipiell außerhalb der wirtschaftlichen Rationalität verortet sind, muss man das neoklassische Verständnis über die bisher herausgearbeiteten Grundzüge hinaus im Sinne PERROUX’ genauer verstehen. Die fragmenthaften Darstellungen PERROUX’[44] werden hier im Überblick wiedergegeben.
Entscheidend ist, dass die neoklassische Schule die Ergebnisse der englischen Klassik aufgreift, aber deren Postulate aus dem Bereich der politischen Ökonomie auf die Wirtschaftstätigkeit im Allgemeinen überträgt. Dabei verschiebt sich der Fokus von der Produktion auf den Handel als zentrale Tätigkeit. Erklärtes Ziel ist es, eine Situation zu bestimmen und mathematisch zu modellieren, in der sich ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage einstellt. Die Neoklassik rückt bei dieser Untersuchung das Individuum in den Mittelpunkt und versucht von der Ebene des streng rational entscheidenden und nutzenmaximierenden homo oeconomicus die gesamte Wirtschaft zu erklären. Dieser Versuch gipfelt in dem mathematischen Modell der Ökonomen Léon WALRAS und Vilfredo PARETO. Auf Basis der Annahme des homo oeconomicus konzipiert WALRAS eine gesamtwirtschaftlich gleichgewichtige Marktsituation, in der zugleich die Gesamtproduktion und die Ressourcenallokation ein Optimum erreichen. Diese Annahme ergänzt PARETO um die Behauptung, dieses Gleichgewicht sei insofern optimal, als dass sich in einer solchen Situation kein Akteur mehr besser stellen könne, ohne zugleich einen anderen schlechter zu stellen. Aus diesem Modell leiten sich die Hauptsätze der Wohlfahrtstheorie ab und postulieren das Ineinanderfallen einer Optimalsituation für individuelle und kollektive Zielsetzungen.
[...]
[1] vgl. PLICKERT, Philipp: Der missverstandene Neoliberalismus - In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt am Main, Ausgabe vom 16.06.2007, S.16
[2] vgl. PILZ, Frank: Der Sozialstaat: Ausbau – Kontroversen – Umbau, Bonn, 2004, S.92
[3] vgl. PERROUX, François: Au-delà du Welfare-State, une société pleinement économique – In: Économie appliquée, Paris, Jahrgang 1984, Ausgabe 37, S.108f – Im Folgenden abgekürzt als AUDELA.
[4] vgl. PERROUX, François: L’économie du XXe siècle, Paris, 1961, S. 505 – Im Folgenden abgekürzt als ECOXX.
[5] vgl. ECOXX, S. 505
[6] vgl. PERROUX, François: Zwang, Tausch, Geschenk. Zur Kritik der Händlergesellschaft, Stuttgart, 1961, S. 28 – Im Folgenden als ZTG abgekürzt
[7] vgl. ZTG, S. 20
[8] vgl. LERAY Roger: Hommage à François Perroux, Paris, 1987, S. 308-312
[9] PERROUX, François: Pour une nouvelle philosophie du développement, Paris, 1981- Im Folgenden abgekürzt als PNPD
[10] vgl. PNPD, S. 140
[11] vgl. ZTG, S.151
[12] BOCAGE, Ducarmel: The general economic theory of François Perroux, Lanham, 1985, S. 21
[13] Eine genaue Klärung dieser Terminologie im Werke PERROUX’ wird in der nachfolgenden Analyse geleistet.
[14] PERROUX, François: L’économie du XXe siècle, Paris, 1961
[15] PERROUX, François: Que sais-je? Le capitalisme, Paris, 1951 – Im Folgenden abgekürzt als LECAP.
[16] PERROUX, François: Zwang, Tausch, Geschenk. Zur Kritik der Händlergesellschaft, Stuttgart, 1961
[17] PERROUX, François: Pour une nouvelle philosophie du développement, Paris, 1981- Im Folgenden als PNPD abgekürzt.
[18] vgl. PNPD, S.171
[19] vgl. PNPD, S.171
[20] vgl. PNPD, S.171
[21] vgl. PERROUX, François: Science de l’homme et science économique, Mayenne, 1943, S. 35
[22] LERAY Roger: Hommage à François PERROUX, Paris, 1987
[23] BOUCKAERT Luc, La pensée économique de François PERROUX – In: Mondes en Développement, Brüssel, Jahrgang 1973, Ausgabe 4, S.89-114 & GENDARME René: François PERROUX, Penseur de notre temps, Nancy, 1992
[24] BOCAGE, Ducarmel: The general economic theory of François PERROUX, Lanham, 1985
[25] JECK Ute: Die Theorie der Domination von François PERROUX, Berlin, 1968
[26] HÜLSMANN, Jörg Guido: Kritik der Dominanztheorie: Zur machttheoretischen Wirtschaftsanalyse François PERROUX’ und zur Bedeutung von auf sie zurückgehenden wirtschaftspolitischen Vorschlägen. Frankfurt am Main, 1993 – Im Folgenden als KDT abgekürzt.
[27] MARCHAL, André: La pensée économique en France depuis 1945, Paris, 1953, S.84f
[28] BLAUG, Mark: A case of Emperor’s clothes: Perroux’ theories of economic domination – In: Kyklos, Vol. XVII, London, 1964, S.552 & 556
[29] JAMES, Emile: Histoire de la pensée économique au XXe siècle, Band 2, Paris, 1955, S.422ff
[30] vgl. ZTG, S.13
[31] hier zitiert nach ZTG, S.13; Original: MARX, Karl: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, London, 1844, Bd. 3, S.141
[32] vgl. ZTG, S.122
[33] vgl. BAUER, Michael & HOGEN, Hildegard (Hrsg.): Das Lexikon der Wirtschaft, Bonn, 2004, S. 32
[34] vgl. BAUER, M. u.a., a.a.O., S. 32
[35] vgl. BAUER, M. u.a., a.a.O., S. 32
[36] vgl. ZTG, S.122
[37] vgl. ZTG, S.122
[38] vgl. BAUER, Michael & HOGEN, Hildegard (Hrsg.): Das Lexikon der Wirtschaft, Bonn, 2004, S. 32
[39] zitiert nach ZTG, S.16
[40] vgl. ZTG, S.15
[41] vgl. BAUER, Michael & HOGEN, Hildegard (Hrsg.): Das Lexikon der Wirtschaft, Bonn, 2004, S. 34
[42] WALRAS, Léon: Eléments d´économie politique pure ou théorie de la richesse sociale, Paris, 1874/77
[43] PARETO; Vilfredo: Cours d´économie politique, Genf, 1964
[44] vgl. ECOXX, S. 1-7; vgl. ZTG S.66-73, S. 81- 88
- Quote paper
- B.A. & Licence (frz. Abschluss) Jens Müller (Author), 2007, Der Sozialstaat – ein Modell jenseits der wirtschaftlichen Rationalität?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82668
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