Die vorliegende Dokumentation ist entstanden anlässlich einer Exkursion in den Osnabrücker Dom im Rahmen einer Vorlesung zur Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit. Dabei stellte sich die Frage, ob in den romanischen bzw. gotischen Hauptkirchen Osnabrücks – dem römisch-katholischen Dom und der evangelisch-lutherischen Marienkirche – Zeugnisse des 17. und 18. Jahrhunderts zu finden sind. Es sind in der Tat nur wenige, die Ausstattung ist in beiden Kirchen wesentlich älter.
Diese Arbeit stellt zunächst kurz die abwechslungsreiche Baugeschichte der beiden Kirchen dar (Kap. 2). Darauf folgt der eigentliche Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung: die Betrachtung der ausgewählten Kunstgegenstände. Dies sind für den Dom ein Epitaph (Kap. 3.1.1), die Kanzel (Kap. 3.1.2) und eine Kreuzigungsgruppe (Kap. 3.1.3), für die Marienkirche drei Epitaphien (Kap. 3.2 ). Es liegt hierbei keine dezidiert kunstgeschichtliche Analyse vor – dieser Befund wird nur summarisch aus der Literatur erarbeitet. Stattdessen wird der hinter der Darstellung liegende theologische Aussagegehalt vorgestellt. Da es sich in allen Fällen um Abbildungen biblischer Szenen handelt, legen die Ausführungen ein gewisses Gewicht auf den Bereich der exegetischen Untersuchung des Abgebildeten bzw. der Zuordnung der zu einem allegorischen Bild zusammengefügten Perikopen, wobei aber nicht der Raum gegeben ist, den exegetischen Methoden in ihrer Ausführlichkeit nachzugehen. Neben der In- terpretation der biblischen Texte wird zuweilen ein Blick auf ihre Wirkungsgeschichte und ihre theologiegeschichtliche Verwendung geworfen. Dabei begegnen neben Darstellungen Christi biblische Personen wie Petrus, Paulus, Johannes der Täufer oder Simson, Hiob und David. In Kap. 4 werden dann zwei wichtige Aspekte, die im Zusammenhang der Analysen aufkommen, kurz kirchenhistorisch betrachtet: reformatorische Eschatologie (Kap. 4.1) und Angelologie (Kap. 4.2). Epitaphien werden als Erinnerung an Verstorbene gestiftet und weisen in ihrem Bildprogramm meist auf eschatologische Zusammenhänge; Engel finden sich als schmückendes Beiwerk oder auch als Bildelement an vielen kirchlichen Kunstgegenständen. Kapitel 5 fasst den Ertrag der Überlegungen zusammen und zeigt weiterführende Perspektiven auf.
Inhalt
1. Einleitung
2. Abriss der Baugeschichte
2.1 Dom St. Petrus, Osnabrück
2.2 Marktkirche St. Marien, Osnabrück
3. Dokumentation und theologische Erörterung: Aspekte der Frühen Neuzeit
3.1 Dom
3.1.1 Epitaph für Balduin Voß
3.1.2 Kanzel
3.1.3 Calvarienberg
3.2 Marktkirche St. Marien
3.2.1 Epitaph für Laurentius Schrader und Christine Hermeling
3.2.2 Epitaph für Adolph Upringrod
3.2.3 Epitaph für Anna Gravia
4. Frömmigkeitsgeschichte
4.1 Sterben und Tod im 17. Jahrhundert
4.2 Angelologie in der Barockzeit
5. Zusammenfassende Schlussbetrachtungen
Literatur
Anhang
1. Einleitung
Die vorliegende Dokumentation ist entstanden anlässlich einer Exkursion in den Os- nabrücker Dom im Rahmen einer Vorlesung zur Kirchengeschichte der Frühen Neu- zeit. Dabei stellte sich die Frage, ob in den romanischen bzw. gotischen Hauptkir- chen Osnabrücks – dem römisch-katholischen Dom und der evangelisch-lutherischen Marienkirche – Zeugnisse des 17. und 18. Jahrhunderts zu finden sind. Es sind in der Tat nur wenige, die Ausstattung ist in beiden Kirchen wesentlich älter. Von den Prin- zipalstücken[1] ist nur die (heute nicht mehr in Gebrauch befindliche) Kanzel des Doms barock, während beide Altäre spätgotisch anmuten (der „Antwerpener Flügel- altar“ in St. Marien ist es wirklich [1515], der des Domes ist neogotisch [1905]), die Kanzel der Marktkirche neuzeitlich ist (1964), ebenso wie die Orgeln beider Kirchen (St. Marien 1967, Dom 2003).
Diese Arbeit stellt zunächst kurz die abwechslungsreiche Baugeschichte der beiden Kirchen dar (Kap. 2). Darauf folgt der eigentliche Schwerpunkt der vorliegenden Un- tersuchung: die Betrachtung der ausgewählten Kunstgegenstände. Dies sind für den Dom ein Epitaph (Kap. 3.1.1), die Kanzel (Kap. 3.1.2) und eine Kreuzigungsgruppe (Kap. 3.1.3), für die Marienkirche drei Epitaphien (Kap. 3.2[2]). Es liegt hierbei keine dezidiert kunstgeschichtliche Analyse vor – dieser Befund wird nur summarisch aus der Literatur erarbeitet. Stattdessen wird der hinter der Darstellung liegende theologi- sche Aussagegehalt vorgestellt. Da es sich in allen Fällen um Abbildungen biblischer Szenen handelt, legen die Ausführungen ein gewisses Gewicht auf den Bereich der exegetischen Untersuchung des Abgebildeten bzw. der Zuordnung der zu einem alle- gorischen Bild zusammengefügten Perikopen, wobei aber nicht der Raum gegeben ist, den exegetischen Methoden in ihrer Ausführlichkeit nachzugehen. Neben der In- terpretation der biblischen Texte wird zuweilen ein Blick auf ihre Wirkungsge- schichte und ihre theologiegeschichtliche Verwendung geworfen. Dabei begegnen neben Darstellungen Christi biblische Personen wie Petrus, Paulus, Johannes der Täufer oder Simson, Hiob und David. In Kap. 4 werden dann zwei wichtige Aspekte, die im Zusammenhang der Analysen aufkommen, kurz kirchenhistorisch betrachtet: reformatorische Eschatologie (Kap. 4.1) und Angelologie (Kap. 4.2). Epitaphien werden als Erinnerung an Verstorbene gestiftet und weisen in ihrem Bildprogramm meist auf eschatologische Zusammenhänge; Engel finden sich als schmückendes Beiwerk oder auch als Bildelement an vielen kirchlichen Kunstgegenständen. Kapitel 5 fasst den Ertrag der Überlegungen zusammen und zeigt weiterführende Perspekti- ven auf.[3] Im Anhang werden die Inschriften der Epitaphien wiedergegeben. Hierbei standen mir bis auf zu A1 leider keine Vorlagen zur Verfügung, so dass die vorlie- gende Fassung das Ergebnis mühsamer Entzifferungsversuche darstellt.
2. Abriss der Baugeschichte
2.1 Dom St. Petrus, Osnabrück
Der Dom ist nicht nur die älteste Kirche, sondern auch das überhaupt älteste Gebäu- de der Stadt Osnabrück. Das Bistum beruft sich auf Karl den Großen (748-814) als seinen Gründer, der um 770 am heutigen Standort der romanischen Domkirche eine Burg und ein Missionskloster errichtet. Die genauen Umstände der Errichtung des Bischofssitzes sind unklar, aber vermutlich im Jahr 783 wird eine erste steinerne Kir- che durch Ägilfried von Lüttich (gest. 787) geweiht und Wiho als erster Bischof in- thronisiert (gest. 809). Der Kaiser sorgt auch für die zur Kirchenweihe notwendigen Reliquien: „Der Geschichtsschreiber und Bürgermeister der Stadt Osnabrück Ertwin Ertman (bis 1505) läßt uns durch seine Chronik wissen, Karl habe dieser seiner Kir- che des heiligen Petrus ... die Reliquien der heiligen Märtyrer Crispin und Crispinian aus Soisson geschenkt.“[5] 890 wird die Domburg von Normannen zerstört, weshalb auch keine Urkunden über die Frühzeit des Domes vorliegen. Ein etwa gleichgroßer Neubau wird an derselben Stelle bis spätestens 952 (Tod des Bischofs Dodo) errich- tet. Die Form des angeschlossenen Kreuzganges, die der heutigen entspricht, lässt darauf schließen, dass dieser Dom schon dieselbe Größe hat wie der heutige (ohne Chorumgang), jedoch eine andere Ost-West-Achse. Vor 1088 errichtet Benno II. ein neues Westwerk, von dem heute noch der Nordturm (der kleinere) steht. Ein Brand zerstört 1100 die Kirche, worauf sie bis 1141 wiederhergestellt und ein Westchor er- gänzt wird. Zwischen 1216 und 1258 finden unter verschiedenen Bischöfen weitgrei- fende Bauarbeiten (neues Langhaus, Umbau von Chor und Vierung) statt, die von Adolf von Tecklenburg (1216-1224) initiiert werden, der „ein neues, dem Geist sei- ner Zeit angemessenes Gotteshaus errichten lassen“[6] will. Auch die Sakristei geht auf diese Zeit zurück. Nachdem 1253 oder 1254 erneut ein Brand den Chorraum zerstört, kann durch einen von Papst Innozenz IV. (1243-1254) aufgelegten Ablass der goti- sche Chorraum errichtet werden, der 1277 eingeweiht wird. 1450 wird der Chorum- gang mit spätgotischen Kapellen ergänzt. Angeblich weil neue Glocken zu schwer sind, eigentlich aber weil er durch den Druck des zwischen den Türmen liegenden Gewölbes Schaden genommen hat, wird 1509 bis 1527 der Südturm neu gebaut und bekommt der Dom damit sein bis heute charakteristisches Gesicht mit zwei unter- schiedlichen Türmen. Auch die Gestaltung der westlichen Tür als Haupteingang (an- stelle des Brautportals an der Nordseite) fällt in diese Zeit. Unter Clemens August (von Bayern, 1728-1761) wird der Innenraum im modernen spätbarocken Stil neu gestaltet, wovon heute nur noch die Kanzel zeugt (vgl. Kap. 3.1.2). Die ebenfalls er- richteten barocken Turmhelme werden Opfer der Bombardierung des Zweiten Welt- krieges. Gleiches gilt für die die barocke Ausstattung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ersetzenden – „Leider kam an seine [sc. des barocken Prunks] nichts besseres.“[7] – neoromanischen und neogotischen Elemente. Nach 1945 wird der Dom in schlichtem romanischen Stil wieder aufgebaut und im Innern gestaltet. Erneut wird er nach den liturgischen Veränderungen des Zweiten Vaticanums 1969 umge- staltet.[4]
2.2 Marktkirche St. Marien, Osnabrück
Nur wenige Schritte vom römisch-katholischen Dom entfernt findet sich die luthe- rische Hauptkirche der Stadt: St. Marien, Predigtkirche von Landessuperinten- dent(in) und Superintendent. Auf dem heutigen Marktplatz südlich der Kirche liegt schon um 800 ein sächsisches (christliches) Gräberfeld. Eine bereits in dieser Zeit, also noch vor der Errichtung des Missionszentrums am Standort des heutigen Domes (vgl. Kap. 2.1), bestehende Fachwerkkirche wird vermutet, kann aber nicht nachge- wiesen werden. Auch der Sachsenherzog Widukind (730-807) soll an diesem Ort eine Burg gehabt haben. Aus Ausgrabungen, schon in der Frühen Neuzeit in Form von Grabaushebungen, ist ersichtlich, dass die heutige Marienkirche die vierte aus Stein erbaute an dieser Stelle ist. Die erste urkundliche Erwähnung einer solchen da- tiert auf 1177, fünfzig Jahre später ist von der ecclesia forensis, also der Marktkirche St. Marien die Rede. Bei diesem Bau handelt es sich um die dritte Steinkirche, ein nach 1050 errichtetes Langhaus mit 14 Meter hohem Wehrturm, das wahrscheinlich auch den Nutzungsausfall des Domes nach dem Brand von 1100 auffängt. Teilweise zeitgleich mit St. Johann, im Stil aber deutlich moderner, wird um 1300 die vierte, heute noch bestehende Marienkirche erbaut. „Die reife Gotik und der harmonisch verbindende Geist der Zeit um 1300 haben sich mit der Marienkirche ein Denkmal starker Ausgewogenheit, großer Sympathie und wirkungsvoller Ausstrahlung ge- schaffen.“[9] Die dreischiffige Hallenkirche wird 1324 eingeweiht. Ein heute in der Sa- kristei befindliches Relief von 1433 verweist auf den Umbau des Chorraumes und den Anbau des Chorumganges mitsamt den charakteristischen Schwippbögen. In St. Marien nimmt die Reformation Osnabrücks ihren Anfang, als am 02. Februar 1543 Hermann Bonnus (1504-1548), Superintendent in Lübeck, gebürtig aber aus Quaken- brück, die erste lutherische Predigt der Stadt hält. Bonnus hat in Wittenberg studiert und ist mit Bugenhagen und Melanchthon persönlich bekannt, wird von Luther per- sönlich in seiner Arbeit unterstützt. Er verfertigt dann auch eine evangelische Kir- chenordnung für die Hasestadt. Die Einführung der Reformation geschieht in Osna- brück mit Zustimmung und Unterstützung des Rates und des Bischofs Franz von Waldeck, aber gegen den Widerstand des Domkapitels.[8][10]
Abgesehen von einigen notwendigen Arbeiten an Turm und Dach 1590, 1613 und 1753 (Errichtung des Turmhelmes, dessen Form heute noch besteht) finden größere Maßnahmen erst im 19. Jahrhundert statt: eine Innenrenovierung 1843 (aus welchem Anlass die Grabplatten in den Chorumgang verlegt werden) und eine Außenrenovie- rung 1873-1884 (Erneuerung der Portale an der Marktseite). Weiteres kann aufgrund einer Erbschaft 1901-1903 geleistet werden, u.a. wird der Innenraum neogotisch ge- staltet.[11] Am 13. September 1944 werden 90% der Osnabrücker Altstadt durch einen Bombenangriff zerstört. Auch die Marienkirche brennt völlig aus. Der Wiederaufbau nach 1945 geht so zügig voran, dass bereits 1949 wieder Gottesdienste gefeiert wer- den können. Die letzen Kriegsschäden bzw. Spätschäden werden allerdings erst bei einer umfassenden Sanierung in den Jahren 1987-1992 beseitigt.[12]
3. Dokumentation und theologische Erörterung: Aspekte der frühen Neuzeit
3.1 Im Dom
3.1.1 Epitaph für Balduin Voß
In der südwestlichen Ecke des Querschiffes ist ein Epitaph angebracht für den laut Inschrift am 02. September 1617 im 60. Lebensjahr verstorbenen Domprobst Balduin Voß, das dieser schon zu seinen Lebzeiten errichten ließ – sich selbst zum Denkmal, Gott zur Ehre, dem Kirchenraum zum Schmuck. Die Texttafel unter den Abbildun- gen verweist weiter auf den unerwarteten Tod des Stifters und ermahnt den Leser, sich dessen Beispiel vor Augen zu halten, sub specie aeternitatis zu leben.[13] Bemer- kenswerterweise verweist der Text nicht auf das göttliche Dekret, dass alle Men- schen sterben müssen, sondern auf den Schicksalsfaden der Lachesis, also einer der Moiren der griechischen Mythologie. Weiterhin beachtenswert ist die Konfession Voßens: Er ist, obwohl Mitglied des Domkapitels, Lutheraner – was sich auch im Bildprogramm niederschlägt. Von Beginn der Reformation vor Ort an bis zum West- fälischen Frieden ist Osnabrück „konfessionelles Niemandsland“[14], ist das Domka- pitel von beiden Seiten her besetzt, wenn auch die Lutheraner meist eine Minderheit darstellen. Kunsthistorisch liegt das Epitaph zwischen Renaissance und Barock, ver- mutlich ist es 1611 entstanden, möglicherweise von Meister Adam Stenelt gefer- tigt.[15] Vier Reliefs zeigen biblische Personen und Szenen, daneben sind insgesamt acht Wappen angebracht.
Das größte Relief, das mittlere in der unteren Reihe, zeigt eine allegorische Kreuzi- gung. Hinter dem Kreuz Jesu erhebt sich ein Fels, aus dem Wasser fließt, an dem im Vordergrund Menschen trinken. Gemeint ist das Wasser des Lebens, das der Heiland geben kann, ein besonders in der johanneischen Tradition aufzufindendes Bildwort. Der Samaritanerin am Jakobsbrunnen verspricht Jesus lebendiges Wasser: „Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Was- sers werden, das in das ewige Leben quillt.“ (Joh 4,14) Auch vom Leib des Gläubi- gen wird lebendiges Wasser strömen (Joh 7,38) und aus der Seitenwunde des Ge- kreuzigten fließen Blut und Wasser (Joh 19,34). Und in Gottes neuer Welt wird es le- bendiges Wasser für alle geben (Offb 21,6; 22,17 u.ö.). Das Wasser, das von Christus kommt, „ist schließlich das ewige Heil selbst.“[16] Daran werden die Gläubigen er- quickt. Zu diesen gesellt sich, übergroß, auch Stifter Voß. Hinter ihm steht der Pro- phet Hesekiel mit dem Text Hes 36,25 auf einer Tafel: „Ich will reines Wasser über euch sprengen, dass ihr rein werdet; von all eurer Unreinheit und von allen euren Götzen will ich euch reinigen.“[17] Dieses Heilsgeschehen verheißt Jahwe den Ver- streuten, die er zusammenführen wird. Im Tod des Gottessohnes ist die letztgültige Reinigung von den Sünden bewirkt (Eph 5,26; Hebr 10,22).
Über dem Kreuz steht auf dem Felsen das Lamm Gottes, dazu sind eine Taube – Sinnbild für den Heiligen Geist – und zwei Engel mit einem weiteren Schriftband ab- gebildet. Das Gotteslamm, das Agnus Dei, ist eine ebenfalls johanneische Typologie. Am linken Rand der Szene[18] ist der Täufer zu sehen, der als erster auf Jesus als „das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt“ verweist (Joh 1,29; vgl. 1,36). Johannes reiht sich ein in die Folge der Propheten des Alten Bundes (Mk 1,2fparr; Joh 1,23) und ist zugleich der erste des Neuen. Sein Hinweis auf das erlösende Gotteslamm hat ihm die kunstgeschichtlich verbreitete Position unter dem Kreuz eingebracht[19], ob- wohl die Evangelien übereinstimmend berichten, dass Johannes lange vor der Hin- richtung Jesu stirbt (Mk 6,14-29parr; angedeutet bei Joh 3,24). Das von ihm apo- strophierte Lamm ist besonders im johanneischen Passionsbericht zu erkennen. So stirbt Jesus am Nachmittag des Rüsttages für das Passah (Joh 19,31) zu der Zeit, als im Tempel die Opferlämmer geschlachtet werden[20], und wird dadurch als das wahre Osterlamm erwiesen. Und wie dem Passahlamm (nach 2Mo 12,46) kein Bein zer- brochen werden soll, so wird auch Jesus vom Crurifragium durch die Römer ver- schont (Joh 19,33, dazu das Reflektionszitat Joh 19,36). Ihr Vorbild im Alten Testa- ment hat die Typologie im vierten Gottesknechtslied Deuterojesajas: „Als er gemar- tert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.“ (Jes 53,7) Wie das Blut des Lammes beim ersten Pas- sahfest vor dem Würgeengel des Herrn zu retten vermag (2Mo 12,13), so rettet das Blut des Gottessohnes vor dem ewigen Verderben. Noch stärker als das Johannes- evangelium greift die Offenbarung das Bild vom Lamm und seinem Blute auf (vgl. Offb 5,6-14; 7,9-17; 12,11; 14,1; 19,6-10; 21,22-22,5).
Zu Seiten des Hauptbildes zeigt das Voß’sche Epitaph links Adam und Eva am Baum der Erkenntnis (1Mo 3), um den sich die Schlange windet, die sie überlistet hat. Durch die Sünde Adams kommt der Tod in die Welt (1Mo 3,19). Dem steht ge- genüber die Überwindung des Todes, der auferstandene, triumphierende Christus, der „mit Ehr sein Siegesfähnlein schwingt“, „der Schlangen Kopf zerknickt, die Höll zerstört, den Tod erdrückt“[21] (vgl. 1Mo 3,15). Das Nebeneinander von Christus und Adam findet sich mehrfach bei Paulus (Röm 5,18; 1Kor 15,21f) als Bild für das Heilswirken Christi. „Entstand aus der einen Übertretung die Verurteilung, so aus der einen Rechttat der göttliche Rechtsspruch, der das eschatologische Leben gibt.“[22] Der Siegmann Christus steht der Erbsünde gegenüber[23], denn er überwindet die Sün- de, den „Stachel des Todes“ (1Kor 15,56).
Im mittleren Geschoss des Denkmals ist die Taufe Jesu (Mk 1,9-11parr) im Jordan abgebildet. Wiederum ist also Johannes im Bild. Von der Person des Täufers berich- ten alle vier Evangelien, das Johannesevangelium aber verschweigt die Taufe Jesu durch ihn. Möglicherweise liegt der Grund dafür „in der Polemik gegen die späteren Johannesjünger“[24], andererseits könnte der Evangelist sie auch schlicht als bekannt voraussetzen.[25] Auf jeden Fall kennt aber auch Johannes die Herabkunft des göttli- chen Geistes auf Jesus am Jordan und die damit verbundene Erkenntnis der Gottes- sohnschaft Jesu (Joh 1,32-34). Sie ist hier jedoch eingebettet in den Rahmen des Zeugnisses des Täufers über Jesus. Bei den Synoptikern dagegen ergeht im Moment der Taufe eine Stimme vom Himmel: „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ (Mk 1,11 par Lk 3,22) Die Wahrnehmung des Geistes und der Him- melsstimme ist aber unterschieden. Während bei Markus explizit nur Jesus den Him- mel sich öffnen sieht und die Audition erfährt, beschreibt Lukas das Ereignis zumin- dest objektiver.[26] Aber auch bei ihm spricht die göttliche Stimme in der zweiten Per- son. Bei Matthäus (3,13-17) dagegen – und der lateinische Text des Architravs er- weist das Abgebildete als diese Fassung – sieht zwar auch nur Jesus den Geist herab- kommen, aber das Wort Gottes ergeht in der dritten Person: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ (Mt 3,17) Den Umstehenden soll schon zu Beginn des Wirkens Jesu deutlich werden (wie es Joh 1 durch den Täufer geschieht), dass dieser Mensch kein gewöhnlicher ist, sondern der Sohn Gottes, der der Welt das Heil bringt.[27]
Die Verknüpfung der Taufe mit dem darunter abgebildeten Sterben Jesu und ihre Darstellung auf einem als Denkmal für Verstorbene gefertigten Kunstwerk ent- stammt wiederum der paulinischen Theologie: „Wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm be- graben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln.“ (Röm 6,3f) In der Taufe des Christen vollzieht sich Sterben, Begrabensein und Auferste- hen. So weist die Taufe darauf hin, „daß wir unser Leben als eschatologisches Ge- schehen, als Neuanfang von Gott her ansehen sollen.“[28] Entsprechend fällt die Taufe, die Sündenvergebung bewirkt, im dritten Artikel des nicaenisch-constantinopolitani- schen Credo zusammen mit der Auferstehung der Toten und der neuen Welt Gottes[29] und kann Martin Luther im Kleinen Katechismus die Wassertaufe mit der Metapher vom Ersäufen des „alten Adams“ umschreiben.[30]
3.1.2 Kanzel
Fast wie ein Fremdkörper in der geradlinigen, schlichten Architektur des Domes wirkt die Kanzel im zweiten Joch des Mittelschiffes, die die Linie der Apostelfiguren an den Pfeilern unterbricht, „eines der letzten Beweisstücke jener ehemals so reichen barocken Ausstattung des Domes ..., die leider im 19. Jahrhundert bei Restaurie- rungsarbeiten zerschlagen wurde.“[31] Sie wird 1752 von Johann Andreas Vogel aus rötlich gefärbtem Kunstmarmor gefertigt mitsamt dem Schalldeckel, der bis 1868 eine Mosesfigur trägt.[32] Bemerkenswert ist der Zugang zur Kanzel: Er führt nicht über eine außen angebrachte hölzerne Treppe, sondern durch den Pfeiler hindurch. Der Corpus zeigt in Flachreliefs drei Szenen aus dem Leben Petri, genauer: dessen sog. „dreifache Berufung“. Für eine katholische Kirche, noch dazu unter dem Patro- zinium des Apostels, eine übliche Darstellung, ziert doch selbst die Kuppel des Pe- tersdomes in Rom[33] der Vers Mt 16,18: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.“ Die anderen dargestellten Szenen sind Mk 1,16 („Und Jesus sprach zu ihnen [sc. Si- mon und Andreas]: Folgt mir nach, ich will euch zu Menschenfischern machen.“) und Joh 21,17f („Spricht er [sc. Jesus] zum dritten Mal zu ihm [sc. Petrus]: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein an- derer wird dich gürten und dich führen, wo du nicht hinwillst.“).
Bemerkenswert an der ersten, eigentlichen Berufung Petri (nämlich der in die Nach- folge, in die Jüngerschaft) ist der synoptische Vergleich. Markus (1,16-18) und Mat- thäus (4,18-20) erzählen das Ereignis denkbar knapp, aber pointiert, die Abwei- chungen sind geringfügig. Zentral ist der Begriff des „Menschenfischens“, der bei zeitgenössischen Hörern negative Konnotationen hervorruft, steht er doch Hes 47,10 und Jer 16,16 für die Überwältigung durch den Feind. „[I]m Judentum hat ,Men- schenfangen’ einen unedlen Klang, es heißt Menschen überlisten.“[34] Jesus meint al- lerdings in dieser Übertragung des eigentlichen Berufes Simons und Andreas’ das- selbe wie Mt 28,19: die Beauftragung zum Missionsdienst, zum Dienst am Worte Gottes. Dass mit der Verkündigung des Wortes das Gericht über das Verhalten dem Wort gegenüber zusammenfällt, ergibt sich schon aus der Zusammenfassung der Botschaft Jesu Mk 1,15: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekom- men. Tut Buße und glaubt an das Evangelium.“ Die Berufenen folgen ohne Wider- spruch und Nachfragen, „[d]enn dieser Ruf ist so machtvoll und zwingend wie Got- tes eigenes Wort, da es die Propheten traf und zum Dienst verpflichtete.“[35] Christus verlangt bedingungslose Nachfolge (vgl. Mt 10,38; 16,24 u.ö.), so dass die „Grund- haltung aller Christen“ mit „Gehorchen“ umschrieben werden kann.[36]
Eine ganz andere Form hat die Berufung der ersten Jünger im Lukasevangelium (Lk 5,1-11). Hier ist die Szene wesentlich ausgestaltet, die Tätigkeit des Fischens wird auch erzählerisch hervorgehoben, indem Petrus ein wundersamer Fischzug gelingt (der bei Johannes sich erst nach Ostern ereignet, vgl. Joh 21,4-11). Weniger wunder- bar wirkt bei Lukas die Entscheidung Petri, Jesus zu folgen, denn die Heilung seiner Schwiegermutter stellt der Evangelist der Nachfolgeaufforderung voran (4,38f). Ein zusätzlicher Akzent gegenüber den anderen Synoptikern liegt auf dem Bekenntnis Simons, ein Sünder zu sein. Dieses jedoch spielt vor Jesus keine Rolle: „Sein Segen trifft einen Mann, der nicht gerecht ist und das auch selbst zugibt. (...) So steht also am Anfang des Jüngerkreises und in ihm der Gemeinde Jesu nicht das Gerichtswort, sondern das Evangelium ..., nicht der gerechte Mensch, sondern Gott in seiner Ge- duld mit den Ungerechten (vgl. auch Röm.2,4).“[37] Mit Simon werden in der lukani- schen Fassung nicht sein Bruder Andreas (Mk 1,16), sondern die Zebedäiden Jako- bus und Johannes berufen.
Auch auf die Johannesparallele sei verwiesen, die von Fischen überhaupt nichts weiß (Joh 1,35-42). Stattdessen wird Andreas als ein Jünger Johannes des Täufers einge- führt, der auf den Hinweis seines bisherigen Lehrers hin: „Siehe, das ist Gottes Lamm!“ (Joh 1,36; vgl. 1,29) zur Nachfolge gelangt und gleich seinem Bruder ge- genüber Jesus als den Christus bekennt (Joh 1,41). Darauf spricht Jesus Simon beim Namen an und gibt ihm den Beinamen Kephas, was im Kontext des Johannesevange- liums eine christologische Aussage darstellt: „Jesus zeigt sich hier als Gottmensch, der jeden Menschen kennt, ohne ihn vorher gesehen zu haben, und ohne daß ihm je- mand den Namen nennt.“[38]
Die Verwendung des Beinamens Petrus (oder aramäisch „Kephas“) bedeutet noch keinen Ehrentitel. Dagegen gesteht Matthäus in seiner Schilderung des Petrusbe- kenntnisses bei Caesarea Philippi Petrus eine Sonderstellung zu. Dies wird auf der zweiten Tafel der Osnabrücker Domkanzel abgebildet. Die Perikope Mt 16,13-20 hat wie die zuvor besprochene Parallelen in allen anderen Evangelien. Im Johannesevan- gelium hat sie ihren Platz im Anschluss an die Himmelsbrotrede (Joh 6,66-71) und ist der synoptischen nur entfernt verwandt. Es fehlen die Bezeichnung „Messias“ für Jesus (stattdessen „Heiliger Gottes“) und das Schweigegebot, hinzugefügt ist die An- kündigung des Verräters. Gegenüber Markus (8,27-30) und Lukas (9,18-21) besteht fast wörtliche Übereinstimmung bei Mt 16,13-16.20, bei allen Synoptikern folgt die erste Leidensankündigung. Einschneidend dagegen ist die Ergänzung Mt 16,17-19, wo Petrus seliggepriesen, er zum Fundament der künftigen Gemeinde erklärt und ihm die Schlüsselgewalt übertragen wird.
[...]
[1] Vgl. hierzu Poppe-Marquard, 17.54-56.59. Die Domorgel ist hier noch nicht dokumentiert.
[2] Zur Epitaphkultur der Zeit um 1600 vgl. Einleitung zu Kap. 3.2.
[3] Hierbei handelt es sich um dezidiert subjektive Überlegungen, die ggf. anhand der Literatur weiter- entwickelt werden müssten.
[4] Vgl. zur Baugeschichte Poppe-Marquard, 8-13.
[5] Poppe-Marquard, 9.
[6] Poppe-Marquard, 11.
[7] Poppe-Marquard, 13.
[8] Vgl. zur Baugeschichte Poppe-Marquard, 48-50.59, und Schlüter, 16.
[9] Poppe-Marquard, 48.
[10] Vgl. Steinwascher, 170-172.
[11] Vgl. lateinische Inschrift an der Südostecke der Orgelempore.
[12] Die Angabe von 1992 als Endjahr der Sanierung entstammt der in der Kirche ausliegenden Karte „Zeittafel der St. Marienkirche“. Poppe-Marquard und Schlüter enden in ihrer Darstellung 1990.
[13] Wortlaut der Tafel vgl. Anhang 1.
[14] Steinwascher, 177.
[15] Vgl. Poppe-Marquard, 17.
[16] Strathmann, 87.
[17] Im Original nur Vers 25a in lateinischer Sprache: „Effundam super vos aquam mundam.“
[18] Die Angabe von Poppe-Marquard, 18, Johannes sei im rechten Seitenrelief abgebildet, ist falsch.
[19] Vgl. Harasimowicz, 19 („Gesetz und Gnade“, Altar der Weimarer Stadtkirche von Lukas Cranach), 67 (Epitaph in St. Marien, Berlin), 71 (Kupferstich von Hieronymus Wierix) u.ö.
[20] Vgl. Conzelmann / Lindemann, 333.
[21] Johann Heermann: „Frühmorgens, da die Sonn aufgeht“ (1630, EG 111,3.9).
[22] Michel, 126.
[23] Vgl. zur Kunstgeschichte Harasimowicz, 132.
[24] Schulz, 39.
[25] So Bultmann, 65.
[26] Vgl. Rengstorf, 59.
[27] Vgl. Schniewind, Matthäus, 26.
[28] Michel, 130.
[29] Vgl. Lutherisches Kirchenamt, 39.
[30] Vgl. Lutherisches Kirchenamt, 552. Luther nimmt hier die bereits skizzierte Typologie von Adam und Christus aus Röm 5 in die Tauflehre mit hinein.
[31] Poppe-Marquard, 15.
[32] Vgl. Lütke Glanemann, 20.
[33] Vgl. Goppelt, 335f.
[34] Schniewind, Markus, 52.
[35] Schniewind, Matthäus, 35.
[36] Schniewind, Markus, 53.
[37] Rengstorf, 74.
[38] Schulz, 42.
- Quote paper
- Christian Deuper (Author), 2007, Zeugnisse frühneuzeitlicher Kirchengeschichte im Osnabrücker Dom St. Petrus und in der Marktkirche St. Marien, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81640
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