Das Pferd verhält sich gänzlich echt, wobei eine ehrliche, offene und vertrauensvolle Beziehung zum Lernförderer und die Kongruenz des Lernförderes nach FITTING (vgl. ebd. 1993, S. 91) Voraussetzungen sind, um Verhaltensauffällige "...als Pädagoge zu motivieren, sozial akzeptiertes Verhalten einzuüben und zu praktizieren." (ebd.)
Um also überhaupt pädagogisch wirksam werden zu können, muß dem Lernförderer sein individuelles Menschenbild und das sich daraus für ihn ergebende Wertesystem bekannt sein. Da hieraus die pädagogische Vorgehensweise und in meinem Fall die Überzeugung von der Wirksamkeit des Pferdes als Lernhelfer im Sinne der S.f.E wie auch die Art seines Einsatzes zur Förderung Verhaltensauffälliger resultieren, beginnt die vorliegende Arbeit mit der Darstellung des Humanistischen Menschenbildes.
Neben einer hieraus resultierenden Erklärung zur Genese von Verhaltensauffälligkeit werden wissenschaftstheoretische Ansichten zur Entstehung betrachtet, woraus die pädagogische Grundeinstellung personenzentrierter Förderung hervorgeht. Es wird geschildert, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Verhaltensauffällige auf ihr auffälliges Verhalten verzichten können, welche pädagogischen Ziele und welche Methode ihrer Realisierung mit resultierenden Bedingungen und Förderansatzmöglichkeiten hieraus hervorgehen.
Und warum insbesondere Pferde in ihrem Einsatz zum HPR und HPV auf Verhaltensauffällige so stark wirken, daß die Heranwachsenden neue Verhaltensformen aufbauen können. Demgemäß begründet folgen die beiden unterschiedlichen Ansätze des Einsatzes von Pferden im HPR und HPV. Außerdem wird den Ursachen der durch eine Kombination der beiden Ansätze zu erzielenden signifikanten Lernerlebnisse nachgegangen.
Es folgen die sich aus dem humanistischen Verständnis ergebenden im HPR und HPV zu erfüllenden Grundvoraussetzungen, das übergeordnete Erziehungsziel des HPV und HPR im Hinblick auf Verhaltensauffällige, das aus dem Erziehungsziel hervorgehende zu praktizierende Pädagogenverhalten, der wirksame Stundenstil und die durch ihn ermöglichte Lernmethode. Anschließend wird auf die praktische Vorgehensweise, den Aufbau einer Voltigierstunde etc. eingegangen. Es werden Überlegungen zu möglichen Durchführungsarten HPR und HPV angestellt und die Bedingungen, unter denen beides an Schulen durchgeführt werden kann, aufgezeigt. Die Arbeit endet mit einer Zusammenfassung der materiellen Voraussetzungen des HPV/R und einem abschließenden Resümee.
Inhalt
Einleitung
1 Eine humanistisch-psychologische Perspektive
1.1 Die Entwicklung und Position der Humanistischen Psychologie
1.2 Das Verständnis vom Menschen und seiner Persönlichkeit
1.3 Die Persönlichkeitsentwicklung
Eine Kontroverse zwischen Selbstaktualisierungs - und Anpassungstendenz
2 Die Genese von Verhaltensauffälligkeit aus dieser personenzentrierten humanistisch-psychologischen Sicht
2.1 Die Verinnerlichung "unnatürlicher Werte“- Basis pädagogischer Intentionen
2.2 Wachstum gelingt erst in Sicherheit - Die Relevanz von Akzeptanz
2.3 "Aber ich muß doch in diese Richtung!"
2.4 Die Schaffung einer anderen Sicherheitszone
3 "... eine Definition auffälligen Verhaltens ..." - und ihre "Geschichte"!
4 Wissenschaftstheoretische Ansichten über Klassifikation, Prävalenz und insbesondere die Ursache von Verhaltensauffälligkeit in Form der grundlegenden Erklärungsmodelle mit einer persönlichen Schluß-folgerung
4.1 Anmerkungen zur Klassifikation, Prävalenz
und zum Grad der Auswirkungen von Verhaltensauffälligkeit
4.2 Modellangebote zur Erklärung von Verhaltensauffälligkeit mit entsprechenden Handlungsansätzen
4.2.1 "Der biophysische Ansatz"
4.2.2 "Der psychodynamische Ansatz"
4.2.3 "Der verhaltenstheoretische Ansatz"
4.2.4 "Der soziologische Ansatz"
4.2.5 "Der polit-ökonomische (gesellschaftskritische) Ansatz"
4.2.6 "Der ökologische Ansatz"
4.3 Ein persönliches Fazit und die daraus resultierende pädagogische Grundeinstellung personzentrierter Förderung
5 Darstellung der in der Förderung durch den Lernhelfer zu erfüllenden Grundbedürfnisse verhaltensauffälliger Heranwachsender, der Realisierung pädagogischer Ziele durch bedeutsames Lernen und des resultierenden pädagogischen Handlungsansatzes
5.1 Die Erfüllung der Grundbedürfnisse verhaltensauffälliger Heranwachsender durch ihren Lernhelfer und die Lernsituation als Voraussetzung
5.2 Pädagogische Ziele und deren Realisierung durch bedeutsames Lernen
mit resultierenden Bedingungen und Förderansatzmöglichkeiten
5.3 Die Vorzüge außerunterrichtlicher Handlungen mit Hobbycharakter
6 Das Pferd als Lernhelfer für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche
6.1 Darstellung tiergestützter Förderung und Therapie
mit Hinweisen auf die besonderen Vorteile des Einsatzes von Pferden
6.2 Heilpädagogisches Voltigieren als Durchführungsart psychomotorischer Übungsprogramme
6.3 Heilpädagogisches Voltigieren und Heilpädagogisches Reiten
6.3.1 Geschichte und Definition des Therapeutischen Reitens
und des Heilpädagogischen Voltigierens und Reitens
6.3.2 Zwei unterschiedliche Ansätze zur Nutzung des Einsatzes von Pferden Heilpädagogisches Voltigieren und Heilpädagogisches Reiten
6.3.3 Ursachen der durch eine Kombination des Heilpädagogischen Voltigierens und Heilpädagogischen Reitens gebotenen signifikanten Lernerlebnisse
7 Klient-, Pferd- und Therapeutenzentrierung, das Erziehungsziel und das daraus hervorgehende Pädagogenverhalten, der Stundenstil und die Lernmethode
8 Zur Praxis des Heilpädagogischen Voltigierens und Reitens
8.1 Die praktische Vorgehensweise im Heilpädagogischen Voltigieren und Reiten, der Aufbau einer Voltigierstunde und die Möglichkeiten von Reiterspielen
8.2 Voltigierübungen zur Schulung der Wahrnehmungsfähigkeit bei verhaltensauffälligen Heranwachsenden
8.3 Mögliche Durchführungsorte Heilpädagogischen Voltigierens und Reitens zur Durchführung an Schulen
8.4 Materielle Voraussetzungen
9 Resümee
Literatur
Einleitung
Mit dem Studium der Sonderpädagogik für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche ging eine sensiblere Wahrnehmung meines eigenen Menschenbildes und meines individuellen Wertesystems einher. Diese Sensibilisierung führte, nachdem mir wirklich bewußt war, welche Bedeutung Menschenbild und Werte haben, dazu, daß ich mich bemühte, darauf zu achten und zu reflektieren, welches Bild vom Menschen ich habe und welchen Werten ich welchen Status zuschreibe. Aus dieser stärkeren Bewußtheit heraus begann ich, wenn auch zu Anfang noch recht unbewußt, ein an meinem persönlichen Wertesystem orientiertes Handlungskonzept für meinen Umgang mit anderen Menschen zu entwerfen. Dabei wurden mir die Ursachen der mir aus eigenen Erfahrungen bereits seit langem bekannten erziehungstherapeutischen [Begriff von Kluge, z.B. 1990, Titel] Wirksamkeit von Pferden im Heilpädagogischen Voltigieren und Reiten, das in einem gerade zur Förderung verhaltensauffälliger Heranwachsender effektiv genutzt werden kann, klar. Pferde wirken in so außerordentlichem Maße insbesondere auf verhaltensauffällige Heranwachsende, weil die Heranwachsenden eine Beziehung zu den Pferden haben, und weil Pferde kongruent sind. Sie kommunizieren auf analoger Ebene und senden deshalb keine widersprüchlichen Signale, wie dies z.B. Menschen tun, die lügen oder ironisch bzw. sarkastisch reagieren. Außerdem nimmt das Pferd den Heranwachsenden an, ohne seine Person zu kritisieren. Es verhält sich also gänzlich echt, wobei eine ehrliche, offene und vertrauensvolle Beziehung zum Lernförderer und die Kongruenz des Lernförderers nach FITTING (vgl. ebd. 1993, S. 91) Voraussetzungen sind, um Heranwachsende, die auffälliges Verhalten zeigen, "... als Pädagoge zu motivieren, sozial akzeptiertes Verhalten einzuüben und zu praktizieren." (ebd.)
Dementsprechend sehe ich im Begriff der Echtheit Pädagogik in ihrem Kern benannt.
Echtheit wird aber im Verhalten eines menschlichen Lernhelfers in dem Grade erfahrbar und wirksam, in dem er sein Bild von Menschen und Werten klar und übereinstimmend zeigt. Um also überhaupt pädagogisch wirksam werden zu können, muß dem Lernförderer sein individuelles Menschenbild und das sich daraus für ihn ergebende System von Werten bekannt sein. Da hieraus die pädagogische Vorgehensweise und in meinem Fall die Überzeugung von der Wirksamkeit des Pferdes als Lernhelfer im Sinne der S.f.E. wie auch die Art seines Einsatzes zur Förderung verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher resultieren, beginnt die vorliegende Arbeit mit der eingehenden Darstellung meines persönlichen Menschenbildes. Daß der hier angedeuteten Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis die beschriebene fundamentale Bedeutung beigemessen wird, bedingt den erfolgten Aufbau der Arbeit.
Im ersten Kapitel wird ein humanistisches Verständnis vom Menschen und seiner Persönlichkeit geschildert. Außerdem werden die Faktoren, die aus diesem Blickwinkel der Persönlichkeitsentwicklung hinderlich sind, dargestellt. Hieran schließt sich mit dem zweiten Kapitel die aus diesem humanistischen Menschenbild resultierende Erklärung zur Genese von Verhaltensauffälligkeit an. Im dritten Kapitel werden die, sich aus diesem Verständnis der Genese auffälligen Verhaltens ergebenden, drei zentralen Aspekte der Definition von Verhaltensauffälligkeit nach FITTING (vgl. Fitting 1993, S. 98-100) beschrieben. Die verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansichten zur Entstehung, Klassifikation und Prävalenz von Verhaltensauffälligkeit sind im vierten Kapitel aufgeführt und werden dort aus der Perspektive des geschilderten humanistischen Verständnisses vom Menschen und seiner Persönlichkeitsentwicklung betrachtet, woraus die ebenfalls in Kapitel vier beschriebene pädagogische Grundeinstellung personzentrierter Förderung hervorgeht. Genauer wird im fünften Kapitel geschildert, welche Voraussetzungen nach dem zugrunde gelegten humanistischen Verständnis vom Menschen und seiner Persönlichkeitsentwicklung erfüllt sein müssen, damit verhaltensauffällige Heranwachsende auf ihr auffälliges Verhalten verzichten können. Weiterhin werden die hieraus hervorgehenden pädagogischen Ziele und die Methode ihrer Realisierung mit resultierenden Bedingungen und Förderansatzmöglichkeiten dargestellt, woraufhin die unter diesen Gesichtspunkten außerunterrichtlichen Handlungen mit Hobbycharakter zugeschriebenen Vorzüge geschildert werden.
Im sechsten Kapitel wird thematisiert, warum gerade Tiere und insbesondere Pferde in ihrem Einsatz zum Heilpädagogischen Voltigieren und Reiten auf verhaltensauffällige Heranwachsende so stark wirken, daß die Heranwachsenden neue Verhaltensformen aufbauen können. Demgemäß begründet folgt eine detaillierte Schilderung Heilpädagogischen Reitens und Voltigierens. Seiner Entstehung, Geschichte und Definition schließen sich die beiden unterschiedlichen Ansätze des Einsatzes von Pferden in diesem Gebiet an. Außerdem wird den Ursachen der durch eine Kombination der beiden Ansätze zu erzielenden signifikanten Lernerlebnisse nachgegangen. Im siebten Kapitel sind die sich aus dem humanistischen Verständnis ergebenden im Heilpädagogischen Reiten und Voltigieren zu erfüllenden Grundvoraussetzungen, das übergeordnete Erziehungsziel des Heilpädagogischen Voltigierens und Reitens im Hinblick auf verhaltensauffällige Heranwachsende, das aus dem Erziehungsziel hervorgehende zu praktizierende Pädagogenverhalten, der wirksame Stundenstil und die durch ihn ermöglichte Lernmethode dargestellt. Das achte Kapitel bezieht sich auf die Praxis Heilpädagogischen Reitens und Voltigierens. Die praktische Vorgehensweise, der Aufbau einer Voltigierstunde und die Möglichkeiten von Reiterspielen werden neben Voltigierübungen zur Schulung der Wahrnehmung bei verhaltensauffälligen Heranwachsenden geschildert. Des weiteren werden Überlegungen zu möglichen Durchführungsarten Heilpädagogischen Voltigierens und Reitens angestellt und die Bedingungen, unter denen Heilpädagogisches Voltigieren und Reiten an Schulen durchgeführt werden kann, aufgezeigt.
Die Arbeit endet mit einer Zusammenfassung der materiellen Voraussetzungen des Heilpädagogischen Voltigierens/Reitens und einem abschließenden Resümee.
1. Eine humanistisch-psychologische Perspektive
Wie bereits in der Einleitung dargestellt, liegt im Verständnis vom Menschen und aus dem Blickwinkel "... der humanistisch orientierten Sonder- bzw. Heilpädagogik ..." (Franze 1993, S. 638) auch gerade in seiner Persönlichkeitsentwicklung nicht nur die angenommene Entstehung von auffälligem Verhalten, sondern auch der erziehungstherapeutische [Begriff von Kluge, z.B. 1990, Titel] Umgang damit, begründet. Insofern werde ich meine Sichtweise dessen möglichst nachvollziehbar und dementsprechend präzise beschreiben.
Die von ROGERS vertretene Auffassung vom Menschen, die in aller Kürze bei MYSCHKER (vgl. Myschker 1993, S. 94 f.) zusammengefaßt ist, werde ich hierzu vor allem unter Bezug auf einige wesentliche von FITTING (vgl. Fitting 1993, S. 91 f.) hervorgehobenen Elemente, aber auch unter Berücksichtigung verschiedener anderer Veröffentlichungen darstellen.
Eingangs wird ein kurzer Überblick über die Humanistische Psychologie und deren Entwicklung gegeben, um ihre Position und Bedeutung innerhalb des Feldes der Psychologie zu verdeutlichen.
1.1. Die Entwicklung und Position der Humanistischen Psychologie
Der Ursprung der Humanistischen Psychologie liegt in der Philosophie des Humanismus und Existentialismus (vgl. Hahne 1990, S. 189).
Als ihr Beginn kann die Individualpsychologie betrachtet werden (vgl. Dönhoff-Kracht 1993, S. 66). Sie wurde von ADLER unter Mitarbeit weniger anderer vor dem ersten Weltkrieg erstellt (vgl. Dönhoff-Kracht, S. 64). Gewöhnlich wird die Individual-psychologie als tiefenpsychologische und psychotherapeutische Richtung bezeichnet (vgl. Dorsch 1994, S. 346 f.); doch ist diese Klassifikation im Rahmen einer Psychologie, die auch unbewußte Faktoren einbezieht, umstritten (vgl. Dönhoff-Kracht 1993, S. 64).
In der Individualpsychologie steht das psychische Erleben statt der sog. Funktionen (s. Dorsch 1994, S. 260 f.) natürlich ebenfalls im Vordergrund (vgl. ebd., S. 610).
Der Mensch wird in erster Linie als soziales Geschöpf mit einer genetisch bedingten Disposition zur Geselligkeit betrachtet (vgl. Vernooij 1993, S. 60).
Er erklärt sich aus seinem sog. "... 'Lebensplan' [meine Hervorhebung] ..." (Dorsch 1994, S. 347)
Dieser verlangt danach, die bereits in der Kleinkindphase vorhandenen
"... Minderwertigkeitskomplexe [meine Hervorhebung] ..." (Dorsch 1994, S. 347) durch Erfolge auszugleichen und im sozialen Bezugsrahmen anerkannt zu werden. Hierbei entstehen die Merkmale des individuellen Charakters "... und auch die neurotischen Erscheinungen, wenn der Lebensplan ..." (ebd.) Fehler enthält, der Ausgleich nicht ermöglicht und "... Gemeinschaftsgefühl [meine Hervorhebung] ..." (ebd.) nicht richtig entstehen kann. (vgl. ebd., S. 346 f.)
MASLOW hat die Humanistische Psychologie als "... '3. Kraft' ..." (Dorsch 1994, S. 610) neben die Psychoanalyse [nach Freud] und den behavioristischen Blickwinkel gestellt (vgl. ebd.). Sie "... bemüht sich ..., der gesunden und schöpferischen Per-sönlichkeit gerecht zu werden. Ziele sind 'Selbstverwirklichung', Selbstaktualisierung', 'Selbsterfüllung' [meine Hervorhebungen]." (ebd.)
Hierum bemüht sich auch ROGERS in seiner Psychotherapie. Durch deren Verbreitung ist die Humanistische Psychologie wesentlich bekannter geworden. Die humanistischen Theorien werden als holistisch, dispositionell, phänomenologisch und existentialistisch bezeichnet. (vgl. Zimbardo 1992, S.15)
Das bedeutet, menschliches Handeln wird im Zusammenhang mit der gesamten Persönlichkeit verstanden, wobei angeborene Eigenschaften als richtungsweisend für Verhalten erachtet werden. Die äußeren Umstände erscheinen häufig als Hindernisse auf dem Weg zur Selbstverwirklichung.
Sind sie überwunden, drängt es den Menschen, sein Leben bereichernde Situationen aufzusuchen, um sich auf natürlichem Wege in seiner gesunden Persönlichkeit ausdrücken zu können.
Anders als aus dem psychoanalytischen Blickwinkel werden Erlebnisse aus der frühen Kindheit nicht als das ganze Leben eingrenzende Bedingungen gesehen. Humanistische Theorien sind aber auch nicht in dem Sinne dispositionell wie die Eigenschaftstheorien, die zentral dauerhaft fortwirkende individuelle Eigenschaften betrachten. (vgl. ebd., S. 415 f.)
Die Vergangenheit spielt eine untergeordnete Rolle. Ihr gilt das Interesse nur insoweit, als daß sie den Menschen dahin gebracht hat, wo er jetzt steht. Sein Bezugsrahmen ist entscheidend, sein subjektives Verständnis von der Realität. Existentialistisch bezeichnet die Konzentration "... auf die bewußten höheren geistigen Prozesse, die die gegenwärtigen Erlebnisse der Person interpretieren ..." (ebd., S. 416) und dadurch ihren Lebensstil bestimmen. Im Gegensatz zum deterministischen behavioristischen wie auch psychoanalytischen Blickwinkel ist Freiheit von großer Bedeutung. (vgl. ebd.)
1.2. Das Verständnis vom Menschen und seiner Persönlichkeit
Demnach ist der Mensch von Geburt an grundsätzlich lebens- und gesellschaftsbejahend eingestellt (vgl. Myschker 1993, S. 94).
Allen Menschen ist eine Basis von Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeiten zu eigen. Diese Basis besteht aus individuellen, aber auch aus miteinander in Beziehung stehenden Eigenschaften. (vgl. Fitting 1993, S. 91)
Das gänzlich positive Lebensfundament des Menschen kann durch Umwelteinflüsse entweder gefördert oder negativ beeinflußt werden (vgl. Myschker 1993, S. 94).
Ganz klar hervorgehoben werden muß die Unzerstörbarkeit dieser letztendlich in ihrer Gesamtheit individuellen positiven Basis und aller mit ihr verknüpften Kompetenzen. Auch, wenn sie während der Sozialisation des Individuums zugedeckt wird, bleibt die Basis bestehen und strebt danach, gelebt zu werden.
Folglich hat jeder Mensch das Verlangen, sich selbst zu verwirklichen. (vgl. Fitting 1993, S. 92)
Er möchte seine eigenen inneren Möglichkeiten ausschöpfen und weiterentwickeln. Dementsprechend rührt die Motivation für das menschliche Verhalten aus jenen individuellen angeborenen und gelernten Vorlieben der Person. (vgl. Zimbardo 1992, S. 415)
Dieses angeborene Streben nach Selbsterfüllung und nach Realisierung des eigenen einzigartigen Potentiales ist eine konstruktiv leitende Kraft, die jede Person im allgemeinen zu positiven Verhaltensweisen und zur Weiterentwicklung des Selbst bewegt.
(ebd.)
ROGERS hat dieses zentrale Element seiner Theorie als Selbstaktualisierungs-tendenz bezeichnet. So nennt er das prinzipielle Streben jedes Menschen danach, alle Faktoren und Umstände, die ihm als Lebewesen dienlich sind, günstig zu beeinflussen. Hierbei wirkt das Bild für den Menschen richtungsweisend, welches er von sich selbst hat. (vgl. Myschker 1993, S. 94)
Dies rührt
... aus 'den Wahrnehmungen der Charakteristika und den Fähigkeiten der Person, den Wahrnehmungen und Vorstellungen vom Selbst in Bezug zu anderen und zur Umgebung, den Wertgehalten, die als verbunden mit Erfahrungen und Objekten wahrgenommen werden; und den Zielen und Idealen, die als positiv oder negativ wahrgenommen werden' ...
(ebd., S. 94 f.).
1.3. Die Persönlichkeitsentwicklung
Eine Kontroverse zwischen Selbstaktualisierungs - und Anpassungstendenz
Die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Selbstaktualisierung kann durch Umwelteinflüsse verhindert werden (vgl. Myschker 1993, S. 94 f.).
Doch nur jene Menschen, denen es möglich ist, sich selbst zu verwirklichen, können ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln. Sie müssen also in Übereinstimmung mit ihren fundamentalen Eigenschaften wahrnehmen und handeln, um so auf ihre individuelle Art und Weise leben zu können. (vgl. Fitting 1993, S. 92)
Deutlich stellt FITTING die ungünstigen Veränderungen in Wahrnehmung und Handlungsweise, aber auch den Leidensdruck derer heraus, die durch äußere Umstände gezwungen werden, sich "zu verbiegen" (vgl. ebd.).
Erfahrungen, die die Persönlichkeit bejahen und ihrer positiven Entwicklung förderlich sind, werden positiv gewertet. Dämpfen sie ein günstiges Wachstum des Selbst, werden sie negativ gewertet und vermieden (vgl. Zimbardo 1992, S.416).
Neben der Selbstaktualisierungstendenz ist dem Menschen außer dem Bedürfnis danach, überhaupt zu leben, das Bedürfnis, sich sicher und sozial eingebunden zu fühlen, angeboren (vgl. Fitting 1993, S. 92). Entsprechend besteht bei allen Heranwachsenden ein unverrückbares "... Bedürfnis ... nach Liebe, Anerkennung und Achtung und die damit einhergehende grundsätzliche Fähigkeit zu prosozialem Verhalten ..." (ebd.).
Im Sinne der Humanistischen Psychologie und Pädagogik ist die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen also nicht nur von dem Bedürfnis, sich selbst zu verwirklichen, sondern ebenso von dem Streben nach Anerkennung und nach Sicherheit in sozialen Beziehungen beeinflußt. Die sog. Anpassungstendenz unterliegt dabei den von Kultur und Gesellschaft erschaffenen Werten. Diese werden mit Hilfe beabsichtigter Erlebnisse gefestigt. (vgl. ebd., S. 92 f.)
Mit den beiden entsprechenden, die individuelle menschliche Entwicklung formenden Kategorien von Werten, wird jeder Heranwachsende bereits sehr früh während seiner Entwicklung konfrontiert. Dem Wunsch nach persönlichem Freiraum steht das Bedürfnis, von seinen Mitmenschen positiv wertgeschätzt zu werden, gegenüber. Ausschlaggebend für die Entwicklung ist, nach welchen Maßstäben er von seinen Bezugspersonen anerkannt wird und wie der Rahmen persönlicher Freiheit, in dem selbst Erfahrungen gemacht werden können, geartet ist.
Daraus ergibt sich die Chance des Heranwachsenden, sein Selbstbild zu organisieren und entsprechend zu leben.
Eine Art zu leben, die seiner Veranlagung nicht gemäß ist, praktiziert der junge Mensch je eher, um so mehr
- die Anerkennung anderer von Voraussetzungen abhängig gemacht wird,
- der eigene Erfahrungen ermöglichende Freiraum beschnitten wird und
- je größere Differenzen zwischen Selbstbild und Erfahrungen bestehen.
(vgl. Fitting 1993, S. 93)
2. Die Genese von Verhaltensauffälligkeit aus dieser personenzentrierten humanistisch-psychologischen Sicht
2.1. Die Verinnerlichung "unnatürlicher Werte“- Basis pädagogischer Intentionen
Wie FITTING schreibe ich den Beginn der Entstehung von "Verhaltensauffälligkeit" differenten Wertmaßstäben zu, die in den Betroffenen miteinander unvereinbar konkurrieren. In diesem Sinne spricht FITTING trefflich von der "... Entwicklung einer 'Dissoziationstendenz' ... als Vorstufe von 'Verhaltensauffälligkeit' ..." (Fitting 1993, S. 93).
Hierbei entstehen auf der einen Seite "... Entscheidungs- und Bewertungskriterien für Interaktionen und Verhaltensweisen ..." (ebd.) auf der Grundlage aufgenommener subjektiver Sinneswahrnehmungen und hervorgerufener Gefühle; auf der anderen Seite stehen erlernte Wertmaßstäbe. Letztere resultieren sowohl aus Interaktionen als auch aus erfahrenen Normen. (vgl. ebd.)
Das bedeutet z. B. für ein Kind, das Bewegung und jegliche Form von körperlicher Aktivität als wohltuend empfindet [Fitting führt als Beispiel ein Kind an, das gerne laut ist], zuerst einmal folgende Wertung: "Ich mag es, wild zu sein". Angenommen, Lehrpersonen oder Eltern zeigen nun aber, daß sie das Kind mögen, wenn es ruhig sitzt bzw. steht. Infolgedessen kann sich der ursprüngliche Wert des Kindes in "Ich mag es, ruhig zu sitzen" (bzw. zu stehen) ändern. Anerkennung verstärkt dann den "unnatürlichen" Wert. Dieser wird nicht nur übernommen, sondern auch Teil der eigenen Wertung. Die wirklichen Werte werden so von denen überlagert, die "... Achtung, Zuwendung und Liebe zu erhalten scheinen ..." (ebd., S. 93 f.).
Fällt der junge Mensch seine Entscheidungen nun zu einem großen Teil zugunsten der Anpassung,
'... verhärtet und täuscht er sich in der Regel, sein Kontakt zur Realität trübt sich, er wird defensiv, ängstlich und aktionsunfähig. Er verfolgt ein Idealbild seiner selbst, das er jedoch nicht wirklich lieben oder als ihm zugehörig bejahen kann, weil es in Wirklichkeit nicht zu ihm gehört ...'
(Fitting 1993, S. 94).
Auch MYSCHKERs Darstellung des humanistisch-psychologischen Ansatzes zeigt auffälliges Verhalten als Resultat von Erfahrenem, das dem Selbstbild entgegensteht und nicht eingefügt werden kann (vgl. Myschker 1993, S. 95).
Bei den beiden konfligierenden Bewertungsprozessen handelt es sich um das Zentrum, von dem pädagogische Aktivitäten ausgehen müssen (vgl. Fitting 1993, S. 94). Bereits im Sinne der von Kluge 1981 als Erziehungstherapie bezeichneten speziellen Akzentuierung zwischen pädagogischem und therapeutischem Feld muß den Heranwachsenden Hilfe zur positiven Selbstverwirklichung geleistet werden. Statt negativ erscheinende Eigenschaften ihrer Persönlichkeit besiegen zu wollen, müssen positive und entwicklungsförderliche Aspekte gestützt werden. (vgl. Franze 1993, S. 638 f.)
FITTING formuliert präziser, daß die Heranwachsenden Hilfe dabei erhalten sollen, "... den Konflikt in ihrer Wertwahrnehmung zu erkennen und die emotionsorientierte Wahrnehmungsfähigkeit zu sensibilisieren." (Fitting 1993, S. 92)
Dementsprechend muß Erziehung in erster Linie fundamentale positiv wirkende Wahrnehmungs- und Handlungsweisen fördern (vgl. ebd.). Denn die eigentlichen Bedürfnisse und jene mit ihnen verwobenen Potentiale wirken niemals zerstörerisch. Destruktivität entsteht erst dann, wenn primäre Bedürfnisse unbefriedigt bleiben. (vgl. ebd., S. 91)
2.2. Wachstum gelingt erst in Sicherheit - Die Relevanz von Akzeptanz
Der dringliche Wunsch nach Liebe ist für Heranwachsende ausschlaggebend, sich nicht selbst zu verwirklichen. Aus diesem Bedürfnis, geliebt zu werden, resultiert außerdem ein starkes Drängen auf sichere soziale Beziehungen. Sie sind die zur persönlichen Weiterentwicklung benötigte Basis. (vgl. Fitting 1993, S. 94)
Ebenfalls messe ich wie FITTING einem zweiten zentralen Konflikt in der menschlichen Persönlichkeitsentwicklung für die Entstehung von Verhaltens-auffälligkeit Bedeutung bei (vgl. ebd.).
Diesen schildert MASLOW in seiner Motivationstheorie bereits in den 70er Jahren (vgl. Fitting, S. 94 u. 96). Dabei steht auf der einen Seite Verteidigung des Altbewährten; auf der anderen Seite steht Wachstum. Wachstum im Sinne von Weiterentwicklung beinhaltet, daß neue "förderliche" Erfahrungen aus subjektiver Perspektive des Kindes angenehmer und befriedigender empfunden werden müssen als Gefühle der Sicherheit erzeugendes Gewohntes. Dies impliziert jedoch die erfolgte Befriedigung des vorangegangenen Strebens. Im "gesunden" Wachstumsprozeß kann jeder Mensch ständig zwischen einer Flut von Gegebenheiten wählen. (vgl. Fitting 1993, S. 94) Hierbei handelt es sich immer um die Entscheidung zwischen Erlebnissen "...' der Sicherheit und des Wachstums, der Abhängigkeit und Unabhängigkeit, der Regression und des Fortschritts, der Unreife und Reife ...'..." (ebd., S. 94 f.).
Wie stark der individuelle Genuß dabei, selbst Erfahrungen zu machen, empfunden wird, scheint ausschlaggebend für eine dem Wachstum förderliche Wahl. Augenscheinlich muß ein subjektives Sicherheitsbedürfnis befriedigt sein, damit überhaupt das Streben danach, sich Stück um Stück weiter vorzuwagen, einsetzt. Folglich steht Wachstum in einem Verhältnis zur Sicherheit. Denn ein kleines Kind wird nur die Nähe seiner Mutter verlassen, wenn es sich ihrer sicher fühlt. Ebenso wird ein Laufen lernendes Kind, dessen Mutter das Zimmer verläßt, wieder zu krabbeln beginnen. Der Wunsch nach Sicherheit ist demnach größer als das Streben nach Wachstum. (vgl. ebd. S. 95)
Zumeist können Heranwachsende selbst entscheiden, unter welchen Bedingungen sie sich sicher genug fühlen. Allerdings ist es der Umwelt möglich, hierbei förderlich zu wirken. Aus ihrer Unterstützung resultieren die Bedingungen zur Wachstumsförderung bzw. -gefährdung für den Heranwachsenden.
Insofern erfahren sich Heranwachsende als abhängig, wollen aber zugleich auch eigene Erfahrungen machen. Sie stehen also vor der Wahl zwischen Anpassung und persönlichem Wachstum. Das heißt, sie müssen sich zwischen ihrem Selbst und dem anderen entscheiden. (vgl. Fitting 1993, S. 95)
Wie zuvor in den Beispielen der Kleinkinder geschildert, wird Sicherheit bei dieser Wahl zwischen freudvollen eigenen Erfahrungen und Zuneigung aus der Umwelt, die eben Sicherheit verspricht, gewöhnlich höher bewertet. Für die Anerkennung durch den anderen wird ein Heranwachsender nötigenfalls die eigene Persönlichkeit opfern. (vgl. ebd.)
Beispielsweise wird das von mir im vorhergehenden Abschnitt 2.1 beschriebene Kind sich erst einmal um ein ruhiges Verhalten bemühen. Zugunsten von Anerkennung wird es möglichst nicht "zappeln".
Ein Heranwachsender, der nun seine persönliche Weiterentwicklung wegen eines enormen Bedürfnisses nach Sicherheit nicht wagt, darf demzufolge keinesfalls aus seinem individuellen subjektiven Sicherheitsbereich gerissen werden. Schließlich erscheinen ihm jegliche Veränderungen äußerst bedrohlich. (vgl. Fitting 1993, S. 96) [s. Abschnitt 5.2]
Sein Verhalten und seine Handlungen folgen von ihm erlernten Normen. Sie erscheinen ihm subjektiv richtig, obwohl die ursächlichen zugrunde liegenden Werte nicht aus seiner Persönlichkeit herrühren. (vgl. Fitting 1993, S. 96) [s. Abschnitt 1.3]
Wenn ein Schüler z. B. auf die Kritik seiner Mitschüler mit Verteidigung auf körperlicher Ebene reagiert, hat er solches Verhalten als angemessen erlernt (vgl. Fitting 1993, S. 96).
Deshalb muß pädagogisches Handeln, wie von ROGERS eingefordert, unbedingt in Akzeptanz verwurzelt sein. Die Haltung des Schülers muß aus emphatischer Betrachtung seiner Perspektive verstanden werden. [s. Abschnitt 5.1] Erst aus diesem Blickwinkel können gemeinsam Verhaltensalternativen aufgedeckt und versuchsweise angewandt werden (vgl. ebd.).
Gerade für Pädagogen, die mit Heranwachsenden "... in besonderen Problemlagen..." (Kluge 1990, S. IX) zusammenarbeiten, entsteht die Voraussetzung, deren situative Entscheidungen als für sie subjektiv korrekt anzuerkennen. Um Schritt für Schritt den Aufbau eines neuen Systems von Werten zu wagen, braucht der Schüler die Chance, in seinem selbst erwirkten Bereich weiterhin Sicherheit erfahren zu können. Hierbei spielt es keine Rolle, inwieweit sein Verhalten aus pädagogischer Sicht neurotisch scheint. (vgl. ebd.)
Jedoch können die Verhaltensweisen des Schülers auf die erziehungstherapeutisch [Begriff von Kluge, z.B. 1990, Titel] handelnde Persönlichkeit z. B. erzürnend oder abstoßend wirken (vgl. Hahne 1990, S. 49).
Trotzdem soll dem "... 'unsympathischen' ..." (ebd., S. 51) Heranwachsenden Akzeptanz entgegengebracht werden (vgl. ebd., S. 50), deren Echtheit für ihn unbedingt zu jeder Zeit spürbar sein muß [s. Vorwort u. Abschnitt 5.1].
2.3. "Aber ich muß doch in diese Richtung!"
Zu Beginn scheint mir eine Retrospektive auf die Entwicklung von auffälligem Verhalten und die diese Entwicklung betreffenden humanistisch-psychologischen Annahmen sinnvoll.
Wie gesagt entwickelt sich auffälliges Verhalten demnach, wenn primäre Bedürfnisse unbefriedigt bleiben. Unter dem Aspekt der "Verhaltensauffälligkeit" geht es hierbei zentral um das Bedürfnis nach Sicherheit auf der einen Seite, auf der anderen Seite um das drängende Streben danach, der eigenen Persönlichkeit gemäß zu leben und sie aus dieser freien Entfaltung heraus weiterzuentwickeln.
Solche Weiterentwicklung ist jedoch nur mit einem subjektiv als ausreichend sicher empfundenen sozialen Bezugsrahmen möglich. (vgl. Fitting 1993, S. 92 ff.)
Divergenzen entstehen, wenn äußere Umstände dem Kind abverlangen, seiner Persönlichkeit widersprechende Werte zu verinnerlichen, um so den individuell benötigten sozialen Rückhalt zu erlangen. Denn der Heranwachsende bedarf zu seiner persönlichen Weiterentwicklung nicht lediglich dieser sozialen Sicherheit, sondern der nächste Entwicklungsschritt ist außerdem nur zu bewältigen, wenn die mit diesem verbundenen neuen Erfahrungen subjektiv mehr genossen werden als die der bisherigen Entwicklungsstufe. Sind "falsche" Werte übernommen worden, wird die eigene Persönlichkeit zugunsten der des Gegenübers verfremdet. Sie wird somit an der Erfüllung ihres Grundbedürfnisses nach Selbstverwirklichung und Weiterentwicklung gehindert. (vgl. Fitting 1993, S. 92 ff.)
"Leidensdruck durch Konflikterleben entsteht:" (ebd., S. 97)
Den inneren Drang spürt der Heranwachsende zwar weiterhin, doch aus dem Glauben heraus, dieser sei "schlecht", versucht er ihn zu besiegen. Sein in der individuellen Persönlichkeit begründetes "echtes" Selbstbild konfligiert also mit dem "erstrebenswerten". Ausbleibende Zufriedenheit sowie insgesamt eine depressive Grundstimmung, Angst vor dem Leben und die Unfähigkeit, in ihm zu handeln, können die Folgen sein. (vgl. ebd.) Das bereits in Unterabschnitt 2.1 von mir beschriebene Kind stellt fest: "Ich stehe oder sitze ruhig an meinem Platz. Mir macht es zwar viel mehr Spaß zu toben, doch das ist nicht erlaubt." ([Fitting nennt in diesem Zusammenhang wieder das Kind, das eigentlich gerne laut ist, als Beispiel.] s. ebd.)
Kann der Heranwachsende allein oder auch mit Unterstützung aus seiner Umwelt diesen Konflikt nicht lösen, wird erwartungswidriges Verhalten herausgefordert. Die beschriebene Divergenz kann nur bis zu einem subjektiv unterschiedlichen Grad ausgehalten werden. Wird die Persönlichkeit überfordert, bleibt ihr nur die Möglichkeit, auf die eine oder andere Art auszuweichen. Entweder orientiert sich das Verhalten konstant und nachdrücklich an den übernommenen Werten oder der Heran-wachsende praktiziert beständig in vollem Ausmaße seine Selbstverwirklichung.
(vgl. ebd.)
Das in meinem Beispiel angeführte Kind würde entweder
1) jegliche Form körperlicher Bewegung vermeiden, weil es keinesfalls die Entziehung von Zuwendung aushalten kann oder
2) ständig in Bewegung sein, weil es den körperlich passiven Zustand nicht aushalten kann.
Diese beiden "auffälligen" Verhaltensalternativen verstehe ich wie FITTING, der auch in diesem Zusammenhang wieder sein Beispiel des ursprünglich gerne lauten Kindes nennt, "... als Versuch eines Heranwachsenden, ein Sicherheitssystem im Sinne Maslows zu installieren." (Fitting 1993, S. 97)
Durch die zwischen den Anforderungen an Weiterentwicklung und Anpassung bestehende Divergenz wird der Heranwachsende sowohl in seinem Verhalten als auch in der Antizipation von erfolgenden Fremdreaktionen verunsichert (vgl. ebd., S. 97 f.). Doch aus seiner bisherigen Lebenserfahrung "weiß" er, welche Reaktionen sein Verhalten in der Umwelt hervorruft, wenn er sich gemäß Alternative 1) oder 2) verhält; "je un- bzw. überangepaßter er seine Verhaltensweisen gestaltet, desto sicherer kann er sich der Verhaltensreaktionen seiner Interaktionspartner sein." (ebd.)
So erfährt der Heranwachsende die nach MASLOW von ihm benötigte Sicherheit.
Doch handelt es sich hierbei um die fälschlich angenommene Weiterentwicklung eines unechten Selbst. Entweder verhält der Heranwachsende sich immer
3) den Normen entsprechend, indem er möglichst bewegungslos sitzt bzw. steht, da er hierauf positive Reaktionen antizipieren kann oder
4) entgegen den Normen, indem er ständig "wibbelt", "zappelt" und hin- und herläuft, weil er die Unerwünschtheit und die daraus folgende Ablehnung vorhersehen kann ([bei Fitting erscheint jedoch das Beispiel des lauten bzw. leisen Kindes.] s. ebd., S. 98)
Nach MASLOW würde die Bewertung durch die Heranwachsenden zugunsten des Sicherheitsaspektes in Form von Zuwendung ausfallen (vgl. ebd.)
[s. Abschnitt 2.2]. Demnach lassen sich in meinen Augen mit Hilfe einer solch humanistisch-psychologischen Sichtweise wie MASLOWs Motivationstheorie (vgl. Fitting 1993, S. 96) in erster Linie die Verhaltensweisen als auffällig erklären, die sich in Überangepaßtheit zeigen. Den Schülerinnen und Schülern, die ich bisher an der Schule für Erziehungshilfe kennen gelernt habe, wird dieses Modellangebot jedoch nicht gerecht. Sie besuchen diese Schulform nämlich ausnahmslos, weil ihre völlig unangepaßten Verhaltensweisen den Erwartungen widersprechen.
Deshalb werde ich anschließend FITTINGs "Theorie der doppelten Verhaltens-umkehrung" (Fitting 1993, S. 96) anführen.
2.4. Die Schaffung einer anderen Sicherheitszone
Dieses Modellangebot erklärt für mich Verhaltensauffälligkeit nicht nur als theoretisch logische Konsequenz, sondern beschreibt in Form einer wissenschaftlichen Theorie meine Gedanken. Nach vielen Situationen stellte sich mir die Frage, wie ich mich ohne meine bzw. mit anderen emotionalen Erfahrungen entschieden und verhalten hätte. Ich wußte lediglich noch, was ich nicht wollte, weil es nicht mein Weg war. Also handelte ich dem Gegenteil entsprechend.
Jenen Sachverhalt interpretiere ich im Sinne der von FITTING dargestellten
... 'Theorie der psychologischen Reaktanz' [von GRABITZ-GNIECH (1975) (vgl. Fitting 1993, S. 102)], nach der soziale Einflüsse, die von Individuen als Eingriff in persönliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit erlebt werden, zu oppositionellem Handeln führen können ...
(Fitting 1993, S. 102)
Diesen Zusammenhängen wird FITTINGs Theorie gänzlich gerecht.
Wird der Leidensdruck, der in der Divergenz zwischen dem Streben nach Anpassung und Weiterentwicklung sichtbar wird, subjektiv als zu hoch empfunden, geschieht "... eine doppelte Verhaltensumkehrung..." (ebd., S. 98).
Durch die Spaltung des Verhaltensspektrums in zwei gegensätzliche Fronten und die Weiterentwicklung des unechten Selbst erhält der Heranwachsende auf eine andere Art Zuwachs an Sicherheit, weil die Reaktionen seiner Interaktionspartner für ihn vorhersehbar werden (vgl. ebd.).
Hierzu hat FITTING ein Diagramm erstellt, das ich wegen seiner Prägnanz und Klarheit wiedergebe.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das 'Pseudoselbst' bemüht sich um Aktualisierung
a) durch Überanpassung diagnostizierbar als
b) durch Nichtanpassung, auffälliges Verhalten
um sein Sicherheitsbedürfnis
zu befriedigen
(Diagramm nach Fitting 1993, S. 98)
3. "... eine Definition auffälligen Verhaltens ..." - und ihre "Geschichte"!
Mit dem bis hierhin dargestellten Theoriegebäude erklärt sich aus einem personenzentrierten humanistisch-psychologischen Verständnis des Menschen die Entwicklung seiner Persönlichkeit und seines Verhaltens; sowohl von Verhalten, das landläufig unter "feindselig, aggressiv, brutal, destruktiv, widerspenstig, faul ..." verstanden wird als auch von Verhaltensweisen, die mit "infantil, kleinkindhaft, weinerlich, wehleidig, ängstlich ..." beschrieben werden. Ebenso haben die "Clowns und Zappelphilipps" durchaus ihren Platz in jener Betrachtungsweise. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werde ich diesen Aspekt jedoch nicht eingehender thematisieren.[1]
Aus diesem Verständnis der Genese auffälligen Verhaltens ergibt sich auch in meinen Augen die Definition von Verhaltensauffälligkeit, die FITTING als Resultat seiner Theorie der doppelten Verhaltensumkehrung vorstellt (vgl. Fitting 1993, S. 98).
Diese Definition bezieht sich auf drei zentrale Aspekte, welche innerhalb eines Systems in wechselseitigen Abhängigkeitsbeziehungen zueinander stehen (vgl. ebd., S.99).
a) Verhaltensauffälligkeit existiert nur in Verbindung mit "... soziokulturellen Normen." (ebd.) Denn erst durch den Bezug auf eine "Normalität", die immer eine gewisse akzeptierte Handlungs- und Reaktionsbreite umfaßt, kann ein Heranwachsender als von dieser abweichend eingestuft werden.
Als verhaltensauffällig wird er dann bezeichnet, wenn der Heranwachsende über einen längeren Zeitraum Handlungen und/oder Reaktionen zeigt, die von dem Maßstab der "Normalität" abweichen. Das kann in zwei Richtungen geschehen: Entweder spiegelt der Heranwachsende in seinem Verhalten zuviel oder zuwenig Anpassung wider. (vgl. ebd.)
b) Ein Heranwachsender verhält sich auffällig, wenn seine individuelle Grenze der Belastbarkeit in der Divergenz von Weiterentwicklung und Anpassung überschritten und er nicht in der Lage ist, mit Hilfe akzeptierter Bewältigungsstrategien den empfundenen Druck auszugleichen. Wieviel Belastung erträglich ist, "... wird von der jeweiligen sozio- und psycho-individuellen Entwicklung bestimmt." (ebd.)
Entweder vermeidet der Heranwachsende mit überangepaßtem Verhalten die eigene Individualität, oder er lehnt durch unangepaßtes Verhalten Gemeinschaftlichkeit ab. (vgl. ebd.)
c) Ein Heranwachsender verhält sich auffällig, weil sein Bedürfnis nach Sicherheit besonders groß ist. Er erlangt umso mehr Sicherheit, je stärker sein Verhalten der Norm widerspricht; denn dann kann er umso trefflicher die Reaktionen anderer auf ihn antizipieren. (vgl. ebd., S. 100)
In den folgenden Überlegungen will ich verdeutlichen, daß es sich bei diesen drei Aspekten um Teile eines zusammenhängenden komplexen Systems handelt. Hierfür sind zwei der drei Schemata, die FITTING zu den einzelnen Aspekten entworfen hat (vgl. ebd., S.99 f.), von mir zusammengefügt worden. Dabei bedurfte das eine jedoch geringfügiger Veränderung.
Um Lesern, deren Hemisphärenspezialisierung stark die rechte Hirnhälfte betrifft, den Zugang zu meiner Skizze zu erleichtern, habe ich eine "Geschichte" zu ihr formuliert, die "Räumliches Empfinden" (Vitale 1996, S. 10) anspricht (vgl. ebd., S. 10 - 15).
Aus perspektivischer Betrachtungsweise erinnert meine Darstellung nämlich stark an eine geöffnete Kiste. Diese Kiste wird von einem Heranwachsenden kommentiert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
"Der Deckel von der Kiste ist aufgeklappt und steht hoch. Da oben ist noch Freiheit; aber man wird ja älter ...
In der Kiste sind fast alle Menschen. Das sind die, die "normal" sind.
Sie haben's irgendwie geschafft, sich selbst treu zu bleiben und trotzdem mit anderen zusammen zu leben. Und dabei muß man ja Rücksicht nehmen und so! Jedenfalls ist bei ihnen nie was auf-gestoßen -oh- Verzeihung -gefallen, wollte ich sagen.
Aber ein paar, fast nur Jungs, sind neben die Kiste gerutscht. Das geht aber nicht einfach mit so 'nem Platsch, sondern man sackt immer tiefer. Als ob man an 'nem Gummiband hängt, was langsam ausleiert.
Auf der einen Seite sind die Schleimer, die, die auch noch Danke sagen, wenn man ihnen in den Hintern tritt. Davon gibt's aber nicht so viele, weil die nicht so auf-st...äh...-fallen und viel eher mit in die Kiste dürfen. Vielleicht sind deshalb ja fast alle Mädchen in der Kiste ...
[...]
[1] Fitting 1993, S. 98
- Arbeit zitieren
- Claudia Zeller (Autor:in), 2001, Das Pferd als Lernhelfer für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81514
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