Anfangs dieses Jahrhunderts leben die Ostjuden, umgeben von der ihnen gegenüber fremden und feindlichen Welt des zaristischen und kirchlich-antisemitischen Russland, in einer weitgehend entrechteten Situation, in ständiger Pogrom-Angst und in grosser wachsender Armut.
"Das Leben verteuerte sich von Jahr zu Jahr. Die Ernten wurden ärmer und ärmer..."
"In schmutzigen Strassen, in verfallenen Häusern leben die [Ost-]Juden. Der christliche Nachbar bedroht sie. Der Herr schlägt sie. Der Beamte lässt sie einsperren. Der Offizier schiesst auf sie, ohne bestraft zu werden. Der Hund verbellt sie, weil sie mit einer Tracht erscheinen, die Tiere ebenso wie primitive Menschen reizt."
Zunächst aber scheint diese Notlage die Familie Singer nicht zu gefährden, da sich für sie "Armut" und "Gleichmut" problemlos reimen und da die Familie aus der Notlage das gemeinsame Lebensgefühl einer ‚vertrauten Armut′ entwickelt.
Dieser Zustand könnte als Urzustand einer "bekümmerten Festlichkeit" geschildert werden: Die Wochentage bilden einen "Reigen aus Mühsal" , jedoch fällt auf sie immer neu das glänzende Licht des Sabbat. Das Leben spielt sich ab als Zusammenspiel von Licht und Dunkelheit, Kälte und Wärme, Gesang und Seufzen.
Die Familie Singer scheint fest auf dem Boden der traditionsgeleiteten Gesellschaft des ostjüdischen Schtetl zu stehen, in deren Rahmen die patriarchalische Familie zusammen mit der Synagoge die entscheidende Rolle spielt.
Es gehört zu dem in jahrtausendelanger Frömmigkeitstradition entwickelten Verständnis einer solchen Existenz, dass sie unbegriffen, aber geduldig akzeptiert und ertragen wird:
"′Was willst du, Deborah′, sagte Mendel Singer, ‚die Armen sind ohnmächtig, Gott wirft ihnen keine goldenen Steine vom Himmel, in der Lotterie gewinnen sie nicht, und ihr Los müssen sie in Ergebenheit tragen′"
Vielleicht sind Leiden und Unglück sogar als Strafe für eine verborgene Schuld hinzunehmen, und man darf sich erst sekundär durch Gebet (Mendel) oder Bemühungen um Wunder (Deborah) bei Gott für die Befreiung von Leid und Unglück einsetzen.
[...]
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- ...es ist morsch gewesen, und man hat es nicht gewusst
- Heimat
- Erste Anzeichen
- Amerika
- Der Untergang einer alten Welt – die Entstehung einer neuen
- Deborah Singer
- Schemarjah/Jonas/Mirjam
- Mendel Singer
- Wer ist der wahre Hiob?
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Proseminararbeit analysiert Joseph Roths Roman „Hiob“ im Kontext der gesellschaftlichen Umbrüche des frühen 20. Jahrhunderts. Sie untersucht den Untergang der traditionellen ostjüdischen Lebenswelt und die Entstehung einer neuen, amerikanischen Welt im Spannungsfeld von Tradition und Moderne.
- Der Untergang der traditionellen ostjüdischen Welt
- Die Einwanderung der Familie Singer nach Amerika
- Assimilation und Identitätsverlust
- Der Einfluss des Ersten Weltkriegs
- Das Verhältnis von Glaube, Schicksal und Hoffnung
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung
Die Einleitung beleuchtet die soziale und wirtschaftliche Notlage der Ostjuden in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Familie Singer, die im Zentrum des Romans steht, erlebt Armut und Pogrom-Angst, aber auch ein tiefes Gemeinschaftsgefühl. Ihre Lebenswelt wird geprägt von Tradition, Glauben und einer „bekümmerten Festlichkeit“. Die Einleitung stellt die zentrale These auf, dass die traditionelle Lebensordnung dem Druck der äußeren Welt nicht mehr standhalten kann.
...es ist morsch gewesen, und man hat es nicht gewusst
Dieses Kapitel beschreibt die ersten Anzeichen des Verfalls der alten Welt. Die wirtschaftliche Misere und die zunehmende Assimilation stellen die traditionellen Werte in Frage. Die Reise der Familie Singer nach Amerika symbolisiert den Bruch mit der vertrauten Welt.
Der Untergang einer alten Welt – die Entstehung einer neuen
Die Kapitel 3.1 bis 3.3 untersuchen die Erfahrungen der einzelnen Familienmitglieder mit dem Verlust ihrer alten Identität. Deborah Singer, die am stärksten an der Tradition festhält, findet in der neuen Welt nur wenig Halt. Mendel Singer sucht nach einem neuen Sinn im amerikanischen Kapitalismus, während die jüngeren Generationen sich der neuen Welt anpassen.
- Quote paper
- Henning Radermacher (Author), 1999, Der Untergang einer alten Welt und die Entstehung einer neuen in Joseph Roths Roman 'Hiob', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8111