»Die Architektur ist die erstarrte Musik“, sagte einst FRIEDRICH WILHELM JOSEPH VON SCHELLING. Ich füge hinzu: Lasst uns die Saiten zum Klingen und Schwingen bringen.«
So ist es denn auch die Absicht dieser Arbeit, dem Leser und Betrachter die zugrundeliegende Komposition und die Hintergründe des hinduistischen Tempelbaus als »bedeutendste[m] architektonische[n] Ausdruck einer lebendigen Weltreligion« anhand einer näheren Untersuchung besser verständlich zu machen. Im Mittelpunkt steht hierbei der Grundriss des Hindu-Tempels: Anknüpfend an das obige Zitat stellt er sozusagen den Notenschlüssel dar, ohne den sich die Bedeutung der Notenlinien – respektive des Tempels – nicht erschließen und das geforderte »Klingen und Schwingen« unmöglich werden ließe. Weiterhin soll in den anschließenden Ausführungen stets der Titel dieser Arbeit präsent sein: Kann der Hindu-Tempel ob seiner zahlreichen und nachfolgend näher beschriebenen – kosmologischen, mythologischen sowie astronomischen Beziehungen womöglich als »Miniaturrekonstruktion« des Universums angesehen werden?
Der Komplexität der Thematik ist allerdings eine Beschränkung auf Grundlinien und eine bisweilen starke Vereinfachung geschuldet. Der Leser möge die teils abrupten Übergänge, die sich in einigen Passagen beim Wechsel von der Verallgemeinerung zur detaillierten Beschreibung und umgekehrt ergeben, verzeihen.
Inhalt
1 Hauptteil
1.1 Funktion des Hindu-Tempels
1.2 Architektonische Auffälligkeiten
1.3 Der Tempelgrundriss
1.3.1 Bestimmung des Tempelgrundrisses
1.3.2 Das Vastupurushamandala
1.3.3 Bedeutung des Vastupurushamandalas
1.3.4 Typen des Vastupurushamandalas
1.3.5 Mandukamandala und Paramasaayikamandala
1.4 Bedeutung der Mathematik für den Tempelbau
2 Schlussbetrachtung
3 Literatur- und Quellenverzeichnis
3.1 Printquellen
3.2 Onlinequellen
1. Vorbemerkung
» Die Architektur ist die erstarrte Musik“, sagte einst Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling. Ich füge hinzu: Lasst uns die Saiten zum Klingen und Schwingen bringen.«[1]
So ist es denn auch die Absicht dieser Arbeit, dem Leser und Betrachter die zugrundeliegende Komposition und die Hintergründe des hinduistischen Tempelbaus als » bedeutendste [m] architektonische [n] Ausdruck einer lebendigen Weltreligion «[2] anhand einer näheren Untersuchung besser verständlich zu machen. Im Mittelpunkt steht hierbei der Grundriss des Hindu-Tempels: Anknüpfend an das obige Zitat stellt er sozusagen den Notenschlüssel dar, ohne den sich die Bedeutung der Notenlinien – respektive des Tempels – nicht erschließen und das geforderte » Klingen und Schwingen « unmöglich werden ließe. Weiterhin soll in den anschließenden Ausführungen stets der Titel dieser Arbeit präsent sein: Kann der Hindu-Tempel ob seiner zahlreichen – und nachfolgend näher beschriebenen – kosmologischen, mythologischen sowie astronomischen Beziehungen womöglich als » Miniaturrekonstruktion «[3] des Universums angesehen werden?
Der Komplexität der Thematik ist allerdings eine Beschränkung auf Grundlinien und eine bisweilen starke Vereinfachung geschuldet. Der Leser möge die teils abrupten Übergänge, die sich in einigen Passagen beim Wechsel von der Verallgemeinerung zur detaillierten Beschreibung und umgekehrt ergeben, verzeihen.
Da aus technischen Gründen auf eine korrekte Transkription der Sanskrit-Terminologie verzichtet werden musste, orientieren sich die verwendeten Begriffe an derjenigen deutschen Übersetzung, wie sie in den Ausführungen von Michell, oder falls dort nicht vorhanden, in den jeweils einschlägigen Quellen verwendet wird.
Zum Aufbau sei angemerkt, dass sich dieser Vorbemerkung ein viergliedriger Hauptteil anschließt, der wiederum von einer Schlussbetrachtung gefolgt wird, in der die wichtigsten Erkenntnisse der Arbeit nochmals festzuhalten versucht werden. Den Abschluss bildet schließlich das Literatur- und Quellenverzeichnis.
1 Hauptteil
Der nachfolgende Teil gliedert sich in drei Abschnitte: Zunächst sollen einige Ausführungen zum Hindu-Tempel und dessen Funktion im allgemeinen ein besseres Vorverständnis ermöglichen, ehe im Anschluss auf Grundlinien der Tempelarchitektur und besondere Auffälligkeiten ebendieser eingegangen wird. Darauf folgt schließlich der eigentliche Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit, indem der Grundriss des Tempels beleuchtet wird. Die Ausführungen werden an zahlreichen Stellen immer wieder durch Bildmaterial unterstützt, das die im Text genannten Begriffe und Charakteristika veranschaulichen, sowie ein besseres Verständnis ermöglichen soll.
1.1 Funktion des Hindu-Tempels
Ziel des[4] Hindu-Tempel ist es, eine Verbindung zwischen Menschen und Göttern zu schaffen. In ihm erscheinen die Götter den Menschen. Der Vorgang, durch den dieser Kontakt hergestellt wird, umfasst eine Reihe von Vorstellungen und Glaubenssätzen, die eine komplexe Symbolik in sich schließen: Grundthema hinduistischen Denkens ist die Erlösung des Menschen aus einer Welt der Illusionen, in die er wiederkehrend hineingeboren wird. Die Architektur des Hindu-Tempels stellt dieses Streben symbolisch dar, indem sie den Versuch unternimmt, die Grenzen zwischen Menschlichem und Göttlichem aufzulösen. An erster Stelle steht die Identifizierung des Göttlichen und des Universums mit dem Gefüge des Tempels. Diese wird mittels Form- und Sinngebung jener architektonischen Elemente erreicht, die für den Tempel als fundamental gelten und an späterer Stelle detaillierter beschrieben werden. Eine Sprache präziser Bemessungen wird geschaffen, die eine symbolische Realisierung der zugrundeliegenden kosmischen Vorstellungen zulässt. Die Beziehung, die sich im Hindu-Tempel zwischen Formen und ihren Bedeutungen entwickelt, ist wesentlich für die Funktion des Tempels als Brücke zwischen Göttern und Menschen. Die devotionalen Kulte, denen der Hindu-Tempel dient, konzentrieren sich zwangsläufig auf das Götterbild oder -symbol des Tempels, doch erstreckt sich die Verehrung übergreifend auf den Tempel insgesamt.
Folglich ist der Tempel nicht nur ein Ort, sondern auch Gegenstand der Verehrung. Die Gottheit, die sich im Innern des Sanktuariums zeigt, kann sich auch im Bau des Tempels selbst offenbaren. Aus dieser Sicht gelten auch die architektonischen Komponenten des Tempels als Beschwörungsformeln der göttlichen Anwesenheit.
1.2 Architektonische Auffälligkeiten
a) Die Götter[5] des Hinduismus fühlen sich stets zu Bergen und Höhlen hingezogen, und diese geographischen Merkmale haben eine große Bedeutung für die Symbolik und die äußere Erscheinungsform des Tempels. Dass der Tempel selbst als ein Berg betrachtet wird, zeigt sich an den Namen Meru und Kailasa für existierende Tempel.[6] Der Berg Meru ist das Zentrum des Universums, Orientierungspunkt für die ihn umgebenden, konzentrisch angeordneten Kontinente, Meere und Himmelskörper. Kailasa ist der himmlische Aufenthaltsort Shivas, des höchsten Berggottes.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1
Hauptschrein des aus dem 8. Jahrhundert n. Chr. stammenden und dem südlichen Stil zuzurechnende Kailasa -Tempels in Ellora. Der freistehende Tempel ist von oben nach unten aus dem gewachsenen Fels herausgemeißelt.[7]
In solchen Bezeichnungen kommt das spezifische Verlangen zum Ausdruck, den Tempel mit diesen berühmten mythologischen Bergen zu identifizieren. Er wird damit zu einer architektonischen Replik der heiligen Göttersitze und verheißt dem Gläubigen denselben Verdienst, den er durch einen tatsächlichen Besuch dieser Berge erlangen würde.[8] Mittels des Shikhara kann der Gläubige die himmlischen Regionen erreichen.[9] Im Oberbau des Hindu-Tempels, möglicherweise seinem charakteristischsten Merkmal überhaupt, wird die Gleichsetzung von Tempel und Berg augenfällig; der Oberbau selbst wird als Shikhara – Bergspitze oder Gipfel – bezeichnet. Die geschwungenen Konturen einiger Tempelaufbauten und ihre gestaffelte Anordnung haben viel dem Wunsch zu verdanken, die visuelle Wirkung einer Bergspitze zu suggerieren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2
Südansicht des 1002 n. Chr. erbauten Vishvanatha -Tempels in Khajuraho.[10]
In den Oberbausystemen vieler Hindu-Tempel lässt sich der bewusste Versuch erkennen, einen ganzen Gebirgszug nachzubilden. Hierzu sei angemerkt, dass im südindischen Stil der höchste Punkt stets über dem Sanktuarium liegt, während der nordindische Stil genau gegenteilig erscheint, indem der niedrigste Punkt über dem Sanktuarium liegt und die Türme umso höher werden, je weiter man sich entfernt.[11]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3
Der im nordindischen Stil erbaute, aus dem 16. Jahrhundert stammende Pampapati -Tempel in Vijayanagara. Hohe Tortürme überragen das Heiligtum innerhalb der Tempeleinfriedung.[12]
Neben dem Bergmotiv ist die Höhle ein äußerst dauerhaftes Bildsymbol im Hinduismus; sie fungiert als Zufluchtsort wie auch als gelegentlicher Wohnort der Götter. Höhlen müssen stets als Orte großer Heiligkeit empfunden worden sein. Manchmal wurden sie deshalb erweitert, um Raum für den Kultus zu schaffen. Daraus entwickelte sich der Brauch, Felsgestein auszuhöhlen, um künstliche Grotten anzulegen, die als ebenso heilig wie ihre natürlichen Vorbilder galten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4
Blick auf das Sanktuarium mit Wächterfiguren im Innern des Shiva -Höhlentempels in Elephanta in der Nähe von Mumbai.[13]
In allen Hindu-Tempeln erinnert das Sanktuarium unverkennbar an eine Höhle; es ist stets klein und dunkel, da kein natürliches Licht hineingelangen darf, und die Wandflächen sind schmucklos und massiv. Der Gang zum Götterbild oder -symbol, das in diesem Höhlensanktuar seinen Platz hat, führt stets aus der Helligkeit in die Dunkelheit, aus offenen, weiten Räumen in einen umschlossenen, kleinen Raum. Diese Bewegung von der Mannigfaltigkeit visueller Eindrücke zur Einfachheit kann vom Gläubigen im Sinne zunehmender Heiligkeit interpretiert werden, die im Mittelpunkt des Tempels – der Höhle oder dem Schoß – ihren Höhepunkt erreicht. Verbunden mit diesem Voranschreiten nach innen in Richtung der Höhle ist der oben beschriebene Aufstieg nach oben zur symbolischen Bergspitze, deren höchster Punkt – im südindischen Stil – über dem Zentrum des Höhlenheiligtums liegt. Höchster Punkt und heiliges Zentrum liegen auf einer gemeinsamen Achse, im machtvollen Aufwärtsstrahl der vom Zentrum des Sanktuariums ausgehenden Energieströme.
[...]
[1] Hetterich, Werner L. (*1945), dt. Architekt.
[2] Michell, George: Der Hindu-Tempel: Baukunst einer Weltreligion, Köln: DuMont 1991. Klappentext.
[3] Michell, S. 89.
[4] Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf: Michell, S. 75-77.
[5] Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf: Michell, S. 86-89.
[6] Zaunschirm, Thomas: Zur Ikonologie des Indischen Tempels. Von der Ikonographie zum tantrischen Gehalt. In: Kunsthistorisches Jahrbuch Graz 18, 1982, S. 21.
[7] World-Myteries.com: Mystic Places – Kailasa Temple. Online: http://www.world-mysteries.com/mpl_11.htm (Stand: 21. August 2006).
[8] Shattuck, Cybelle : Hinduismus. Freiburg: Herder 2000, S. 104.
[9] Diez, Ernst: Die Kunst Indiens. Handbuch der Kunstwissenschaft, Potsdam: Wildpark 1925. S. 45.
[10] University of Pennsylvania Library: American Institute of Indian Studies – Varanasi Slide Collection, Khajuraho: Slides 1-19. Online: http://oldsite.library.upenn.edu/etext/sasia/aiis/architecture/khajuraho/025.html (Stand: 21. August 2006).
[11] Zaunschirm, S. 25.
[12] India Tourist Attractions: Monumental Heritage of India - Religious Monuments, Monuments of Hampi. Online: http://www.indiaplaces.com/india-monuments/img/hampi-virupaksha-temple-01.jpg (Stand: 21. August 2006).
[13] Knapp, Stephen: Seeing Spiritual India Photo Gallery. Online:
http://www.stephen-knapp.com/images/Elephanta18.jpg (Stand: 21. August 2006).
- Quote paper
- Sven Köhler (Author), 2006, Der Hindu-Tempel - Mikrokosmos im Makrokosmos?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/80671
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