Fontanes "Irrungen, Wirrungen" erschien 1888 in der Buchausgabe und wurde sowohl von den Lesern als auch von den Kritikern zwiespältig aufgenommen. Im Mittelpunkt des Romans steht vordergründig das freie und unstandesgemäße Liebesverhältnis des Barons Botho von Rienäcker mit der Näherin Lene Nimptsch. Die Beziehung wird jedoch bereits in der Mitte der Erzählung wieder gelöst, da Botho sich verpflichtet fühlt, eine Heirat mit der begüterten Käthe von Sellenthin einzugehen und damit die Finanzen seiner Familie aufzubessern. Der Roman schildert weiter, wie deutlich sich dieses Verhältnis von den im 19. Jahrhundert durchaus "üblichen" Affären zwischen Offizieren und Mädchen von niederem Stand abhebt, da sowohl Botho als auch Lene ihre Liebe in ihrer Erinnerung lebendig halten und sich dies insbesondere auf das weitere Leben Lenes auswirkt. Aus Angst, noch einmal ihrem geliebten Botho an der Seite seiner Frau zu begegnen, zieht sie gemeinsam mit ihrer Ziehmutter in ein weit entferntes Stadtviertel, wo sie die Bekanntschaft mit dem Fabrikmeister Gideon Franke macht, der sie schließlich trotz ihrer Vergangenheit heiratet.
"Irrungen, Wirrungen" ist kein Trauerspiel oder eine Tragödie im klassischen Sinne, da es am Ende weder zu einem dramatischen Mord noch zu einem Selbstmord kommt. Fontane wählt einen subtileren und unspektakuläreren Weg, um die Tragik dieser unstandesgemäßen Liebe darzustellen. Sowohl Botho als auch Lene sind am Ende des Romans mit durchaus respektablen Partnern verheiratet, müssen aber auf die Erfüllung ihres gemeinsamen Glücks verzichten und vor der gesellschaftlichen Ordnung resignieren.
Wie bereits eingangs erwähnt, wurde Fontanes Roman "Irrungen, Wirrungen" nicht von allen Lesern und Kritikern als Glanzstück betrachtet. Die noch zahlreich erhaltenen Berichte aus zeitgenössischen Zeitungen und Aufsätzen zeichnen mit ihrer Kritik ein klares Bild der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Um Fontanes Kritik an der Doppelmoral seiner Umwelt zu verstehen, muß zunächst die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Romans "Irrungen, Wirrungen" näher betrachtet werden.
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Entstehungs- und Wirkungsgeschichte
3. Die Epoche des Realismus
4. Die zentralen Personen
5. Fontane als Gesellschaftskritiker?
6. SchluBbemerkung
Literaturverzeichis
1. Einleitung
Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ erschien 1888 in der Buchausgabe und wurde sowohl von den Lesern als auch von den Kritikern zwiespaltig aufgenommen. Im Mittelpunkt des Romans steht vordergrundig das freie und unstandesgemaBe Liebesverhaltnis des Barons Botho von Rienacker mit der Naherin Lene Nimptsch. Die Beziehung wird jedoch bereits in der Mitte der Erzahlung wieder gelost, da Botho sich verpflichtet fuhlt, eine Heirat mit der beguterten Kathe von Sellenthin einzugehen und damit die Finanzen seiner Familie aufzubessern. Der Roman schildert weiter, wie deutlich sich dieses Verhaltnis von den im 19. Jahrhundert durchaus „ublichen“ Affaren zwischen Offizieren und Madchen von niederem Stand abhebt, da sowohl Botho als auch Lene ihre Liebe in ihrer Erinnerung lebendig halten und sich dies insbesondere auf das weitere Leben Lenes auswirkt. Aus Angst, noch einmal ihrem geliebten Botho an der Seite seiner Frau zu begegnen, zieht sie gemeinsam mit ihrer Ziehmutter in ein weit entferntes Stadtviertel, wo sie die Bekanntschaft mit dem Fabrikmeister Gideon Franke macht, der sie schlieBlich trotz ihrer Vergangenheit heiratet.
„Irrungen, Wirrungen“ ist kein Trauerspiel oder eine Tragodie im klassischen Sinne, da es am Ende weder zu einem dramatischen Mord noch zu einem Selbstmord kommt. Fontane wahlt einen subtileren und unspektakulareren Weg, um die Tragik dieser unstandesgemaBen Liebe darzustellen. Sowohl Botho als auch Lene sind am Ende des Romans mit durchaus respektablen Partnern verheiratet, mussen aber auf die Erfullung ihres gemeinsamen Glucks verzichten und vor der gesellschaftlichen Ordnung resignieren.
Wie bereits eingangs erwahnt, wurde Fontanes Roman „Irrungen, Wirrungen“ nicht von allen Lesern und Kritikern als Glanzstuck betrachtet. Die noch zahlreich erhaltenen Berichte aus zeitgenossischen Zeitungen und Aufsatzen zeichnen mit ihrer Kritik ein klares Bild der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Um Fontanes Kritik an der Doppelmoral seiner Umwelt zu verstehen, muB zunachst die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Romans „Irrungen, Wirrungen“ naher betrachtet werden.
In den 60 Jahren seines literarischen Lebens gab es mehrere Epochenwandel von der Romantik uber den Realismus bis zum Naturalismus. Dabei ist es sehr wichtig zu wissen, in welcher Tradition der Roman geschrieben wurde und welcher Epoche er zuzuordnen ist. Erst danach kann man mit einer ausfuhrlichen Analyse von „Irrungen, Wirrungen“ beginnen.
Die Quellenlage stellt sich sehr gut dar. Fontane fuhrte sein Leben lang einen regen Schriftverkehr mit Verwandten und Freunden, in dem er sich haufig auch uber seine Werke auBerte. AuBerdem liegen von Fontane zahlreiche Tagebuch- und Notizbuchaufzeichnungen vor, die bei der Interpretation unbedingt mit einbezogen werden mussen.
Die grundliche Archivierung der Zeitungsmedien im ausgehenden 19. Jahrhundert ermoglicht uns zusatzlich einen tiefen Einblick in die Wirkungsgeschichte des Romans.
Fontane hat in seinem langen Leben ein groBes literarisches Werk geschaffen, das schon viele Forscher bis heute beschaftigt hat, das aber noch lange nicht erschopfend behandelt worden ist. Dennoch kann man aus einem umfangreichen Forschungsbestand schopfen. Grundlage fur jede nahere Beschaftigung mit „Irrungen, Wirrungen“ sind die Erlauterungen und Dokumente aus der Reclam-Reihe[1] sowie die einfuhrenden Arbeiten von Grawe [2] und Muller-Seidel[3]. Hinzu kommen viele weitere Studien, die sich spezielleren Fragestellungen widmen.
2. Entstehungs- und Wirkungsgeschichte
Im Gegensatz zu vielen anderen Romanen von Fontane liegt „Irrungen, Wirrungen“ vermutlich keine spezielle reale Vorlage oder ein bestimmtes Ereignis zugrunde. Die Handschrift des Romans ist verschollen, und die wenigen erhaltenen Aufzeichnungen zu verschiedenen Kapiteln aus seinem Notizbuch enthalten keinen Hinweis auf eine Vorlage.[4] Der Untertitel des Romans „Eine Berliner Alltagsgeschichte“ macht aber deutlich, daB unstandesgemaBe Verhaltnisse durchaus ublich waren damals und ein direkter Nachweis nicht unbedingt notwendig war. Wichtig ist nur, daB es so gewesen sein konnte.
Fontanes eigene Angaben in seinen Briefen und Tagebuchaufzeichnungen zur Entstehung von „Irrungen, Wirrungen“ sind widerspruchlich. Er berichtete erstmals in einem Brief an seine Frau am 19.7.1882 von der Entstehung dieses Romans: „Ubrigens habe ich heute vormittag eine neue Novelle entworfen, wieder sehr diffizil, sehr intrikat. “ [5] Mit der kontinuierlichen Erarbeitung begann Fontane laut Tagebuch erst im Fruhjahr 1884. Ab dem 2. Mai trieb er Lokalstudien auf der Jungfernheide, dem Rollkrug und dem Jacobifriedhof und fertigte Skizzen in seinem Notizbuch an. Vom 12. bis zum 26. Mai hielt er sich selbst in Hankels Ablage auf, wo Botho und Lene zwei Tage verbringen. Am 24. Mai vermerkte Fontane dann, er habe nun das letzte Kapitel ,,glucklich beendet“[6] Diese erste Niederschrift ruhte nun die nachsten zwei Jahre und Fontane widmete sich verstarkt seinen anderen Werken. Erst 1886 begann er mit der Uberarbeitung und verbrachte den Fruhling 1887 mit dem Korrekturlesen. Insbesondere die von ihm eingebauten Rechtschreibfehler Lenes und der Berliner Dialekt fuhrten immer wieder zu Problemen mit den Setzern:
,, Aber dann schreibt Lene einen Brief an Botho und schreibt ,emphelen‘ und Botho, der sich daruber freut, macht ein Strichelchen an den Rand, und ich meinerseits schreibe als Sicherheitskommissarius an den Rand ,emphelen ‘, ich glaube mit Ausrufungszeichen, und nach all diesen Vorsorglichkeiten steht richtig da ,empfehlen‘ in furchtbarer Setzerkorrektheit, die hier leider so inkorrekt war wie moglich. Denn alle kleinen Betrachtungen Bothos, als er den Brief gelesen hat, drehen sich um dies falsche , h ‘ und in einem Schlufikapitel, als er die Briefe verbrennt, kommt er darauf zuruck, und doch empfehlen statt , emphelen ‘. “ [7]
Der Roman wurde zunachst in der Vossischen Zeitung zwischen dem 24. Juli und dem 23. August 1887 als Vorabdruck veroffentlicht, wobei Fontane die Befurchtung hegte, daB bei der Hitze in jenem Sommer kaum jemand Interesse an seiner Novelle haben wurde.[8] Die Buchausgabe folgte bereits Ende Januar, Anfang Februar 1888.
Die Veroffentlichung des Romans „Irrungen, Wirrungen“ loste in der zeitgenossischen Kritik eine lebhafte Diskussion aus. Vor allem die Wahl des Themas sorgte fur einen Skandal in der literarischen Welt. Die offentliche Darstellung einer unstandesgemaBen und freien Verbindung, die wieder gelost wird, ohne daB die Liebenden eine Strafe dafur erhalten, sorgte im konservativen Burgertum und dem Adel fur Unruhe.
Pantenius, ein von Fontane sehr verehrter Schriftsteller, bezeichnete den Roman als eine „Verirrung“ und schrieb weiter in seiner umfangreichen Fontane-Studie von 1894:
,,Das ist in der That wirkliches Berliner Leben gewisser Kreise. ... aber ein Lieutenant, der auf einem leeren Bauplatz beim Klange eines aus der nachsten Kneipe heruberschallenden Orchesters mit einem Burgermadchen , anbandelt ‘, das sich dann in ,Hankels Ablage ‘ mit gleichgesinnten Kameraden und ihren Dirnen fortspinnt, ist zwar leider mitunter lebenswahr, aber doch wahrhaftig in keinem Sinn anziehend. [9] “
Der Pfarrer Richard Burkner nahm diese Kritik bereits am 7. April 1888 in seiner Rezension im „Deutschen Litteraturblatt“ vorweg. Seiner Meinung nach schildere „Irrungen, Wirrungen“ das Berliner Leben mit „hafilicher Deutlichkeit“ und stelle Berlin als „sundhafteste[s] Babel, das man sich nur denken konnte“[10] dar.
Fontane selbst sah in dieser so offentlich zur Schau getragenen moralischen Entrustung eine Doppelmoral, denn diese Art von Verhaltnissen kamen nicht zuletzt auch unter den groBten Kritikern des Romans „Irrungen, Wirrungen“ haufiger vor. Fontane sprach lediglich das aus, was dem groBten Teil der Gesellschaft bekannt war, woruber aber bis dahin kaum jemand ein Wort verloren hatte. Es herrschte vielmehr ein stilles Abkommen in der Gesellschaft, dieses Thema in der Offentlichkeit auszusparen:
,, Wir stecken ja bis uber die Ohren in allerhand konventioneller Luge und sollten uns schamen uber die Heuchelei, die wir treiben, uber das falsche Spiel, das wir spielen. Gibt es denn, aufier ein paar Nachmittagspredigern, in deren Seelen ich auch nicht hineinkucken mag, gibt es denn aufier ein paar solchen fragwurdigen Ausnahmen noch irgendeinen gebildeten und herzensanstandigen Menschen, der sich uber eine Schneidermamsell mit einem freien Liebesverhaltnis wirklich moralisch entrustet? Ich kenne keinen und setze hinzu, Gott sei Dank, dafi ich keinen kenne. Jedenfalls wurde ich ihm aus dem Wege gehen und mich vor ihm als vor einem gefahrlichen Menschen huten. “[11]
Weitere Kritik erhielt Fontane fur den Sprachstil seines Romans. In seiner Rezension in den „Blattern fur literarische Unterhaltung“ im September 1888 bemangelte Richard Weitbrecht, daB Fontane sowohl in den Reden der Personen als auch des Erzahlers zu viele Berliner Dialektworter benutze, die fur einen Nichtberliner unverstandlich seien.[12] In der Rezension der Wochenschrift „Die Gegenwart“ hebt dagegen ein unbekannter Verfasser gerade Fontanes Stil hervor: ,,Man mochte glauben, dafi der Dichter nach einem Phonographen schreibt, der die Gesprache der Offiziere und Leute aus dem Volke aufbewahrt hat, denn da istAlles so echt bis in jeden kleinsten Zug hinein.“[13] Und Paul Schlenther hob in seiner Kritik in der Vossischen Zeitung diesen kulturhistorischen Wert des Romans hervor: ,,Man wirdfragen, wie lebten, sprachen und
dachten die Berliner gegen Ende des 19. Jahrhunderts? ... Hier leset, und dann wifit ihr, wie sich ‘s damals lebte “[14].
Den meisten Kritiken gemeinsam ist die einstimmige Wurdigung von Fontanes Erzahlweise. Er sei „ein Erzahler ersten Ranges: er hat die Fahigkeit, lebendige Menschen zu schaffen, und weifi den Leser fur sie zu interessieren; seine Menschenkenntnis ist grofi, seine Sprache geschmackvoll, sein Dialog geistreich undfein zugespitzt.“[15]
In der auf die ersten Rezensionen folgenden Forschungsliteratur trat der Skandal um die Darstellung eines unstandesgemaBen Verhaltnisses mehr und mehr in den Hintergrund. Die spateren Forscher erkannten in „Irrungen, Wirrungen“ vielmehr einen Versuch Fontanes, die Doppelmoral der Gesellschaft anzuprangern und die immer noch deutlich vorhandenen Standesunterschiede in der aufstrebenden Demokratie zu veranschaulichen.[16] Nach Charlotte Jolle habe sich die weitere Forschung nur noch wenig mit der Interpretation abgegeben und sich vor allem der kunstlerischen Gestaltung des Romans zugewandt.[17]
[...]
[1] Betz, Frederick: Erlauterungen und Dokumente. Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen; Stuttgart 1998.
[2] Grawe, Christian: Fontanes Novellen und Romane. Interpretationen; Stuttgart 1991.
[3] Muller-Seidel, Walter: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland; Stuttgart 1980.
[4] Betz, F.: Erlauterungen und Dokumente, S. 64.
[5] Zit. in Sollmann, Kurt: Grundlagen und Gedanken zum Verstandnis erzahlender Literatur. Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen; Frankfurt 1990, S. 31.
[6] Zit. in Ebd. S. 31.
[7] Zit. in Betz, F.: Erlauterungen und Dokumente, S. 70.
[8] Zit. in Ebd. S. 68.
[9] Pantenius, Theodor Hermann: Theodor Fontane. In: Velhagen & Klasings Monatshefte, Bd. 8, H.2 (1893/94), S. 649-656; zit. in Betz, F.: Erlauterungen und Dokumente, S. 119.
[10] Burkner, Richard: Schone Litteratur. In: Deutsches Litteraturblatt, Jg. 11, Nr. 3 vom 7. April 1888; zit. in Betz, F.: Erlauterungen und Dokumente, S. 95.
[11] Zit. in Betz, F.: Erlauterungen und Dokumente, S. 71-72.
[12] Weitbrecht, Richard: Zwei Berliner Lieutenantsromane. In: Blatter fur literarische Unterhaltung, Nr. 38 vom 20. September 1888, S. 599-601; zit. in Betz, F.: Erlauterungen und Dokumente, S. 108.
[13] -g: Notizen. In: Die Gegenwart, Bd. 34, Nr. 48 vom 1. Dezember 1888, S. 348f; zit. in Betz, F.: Erlauterungen und Dokumente, S. 111.
[14] Anonym [Paul Schlenther]: Journal- und Bucherschau. In: Vossische Zeitung, 1. Beilage, Nr. 158 vom 1. April 1888; zit. in Betz, F.: Erlauterungen und Dokumente, S. 92.
[15] Pantenius, T. H.: Theodor Fontane; zit. in Betz, F.: Erlauterungen und Dokumente, S. 120.
[16] Betz, F.: Erlauterungen und Dokumente, S. 87.
[17] Zit. in Ebd. S. 123.
- Quote paper
- Claudia Schneider (Author), 2002, Theodor Fontanes Irrungen, Wirrungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/8058
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